- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Milchkaffee mit Schokoflocken
6:45 Mein Wecker klettert die Bettkante hoch und pfeift mir fröhlich die Erkennungsmelodie einer beliebten Kindersendung ins Ohr. Noch halb benommen drücke ich mir das Kopfkissen ins Gesicht und versuche ihn zu ignorieren. Unverdrossen beginnt der Wecker mit der Aufzählung der Morgennachrichten und verkündet abschließend den niederschmetternden Wetterbericht. Einem ungezielten Schlag meines rechten Arms weicht er durch den Sprung auf den Fußboden aus und pfeift dort fröhlich weitere Kinderlieder. Nicht zum ersten Mal stelle ich meine Leidenschaft für antike Haushaltsroboter ernsthaft in Frage.
6:48 Die penetrant infantile Beschallung treibt mich aus dem Bett. Auf dem Weg ins Bad weicht mir der Wecker vorsorglich unter den Schrank aus, dafür trete ich auf den Babysitter-Bot, der sich neugierig hinter der Türzarge versteckt hatte und nun mit einem verängstigtem Quietschen und weit ausgebreiteten Armen in die Küche flüchtet. Unter der Dusche versuche ich mir vorzustellen, wie eine Maschine mit paranoiden Zügen Kinder und Babys betreuen soll. Meine Schwester hat mir Babysitter-Bot zweideutig überlassen, seitdem ihre Zwillinge in den Kindergarten gehen. Mechanisch ist er völlig fehlerfrei, doch namenlose Erlebnisse in Verbindung mit einer lernfähigen Software haben wohl zu einem ausgeprägten Multitrauma geführt. Wobei mir einfällt, dass noch eine Einladung meiner Schwester offen steht, für die ich noch keinen wichtigen Termin als Ausrede gefunden habe. Darum muss ich mich im Büro als erstes kümmern. Als ich das Bad verlasse höre ich aus der Küche, wie der Babysitter-Bot beruhigend auf seinen adoptierten Ficus einredet.
6:55 Kaffee! Zurück im Schlafzimmer versorge ich mich mit einem Satz gesellschaftlich anerkannter Durchschnittskleidung. Der Wecker hockt in Schlummerfunktion auf dem Induktionsladegerät. Ich nehme mir zum wiederholten Male vor, angenehmere Musik in seinen Speicher zu laden. Und ihn nicht sofort aus dem Fenster zu werfen. Oder ich lösche den Musikspeicher ganz, der durchschnittliche Nachrichtenüberblick sollte vollkommen ausreichen, einen aus den schönsten Träumen zu reißen. Egal. Nun noch RX einen Kaffee aufbrühen lassen und dann hinaus in die verflixte Realität.
6:59 Ich finde RX-2046 erwartungsgemäß in der Küche, wo er dem Mixer über die richtige Dekoration und Präsentation von Fruchtcocktails doziert.
"RX, alter Junge, vergiss es, der Mixer hat kein Akustikmodul."
Er hält in seinen Ausführungen inne und dreht sich schwerfällig zu mir um.
"Wie schade, wir hätten gut zusammenarbeiten können. Darf ich Ihnen zum Frühstück eine meiner neuesten Kreationen, einen 'Schießwütigen Jäger' anbieten, einen antialkoholischen Cocktail aus fünf unterschiedlichen Waldbeerensorten mit drei Arten energetischer Aufputschmittel?"
"Aufputschmittel? Die sind seit über 80 Jahren verboten."
Gut, dass ich seine Chemiedepots mit Lebensmittelfarben aufgefüllt habe.
"Aber einen kräftigenden 'Grappa con Carne' zum Start in den Tag, feinster italienischer Schnaps mit einem Schuss Fleischbrühe?"
Igitt. Vielleicht wird er in seinem Alter doch etwas senil. Ich sollte ihm besser den Zugang zum Kühlschrank und dem Vorratsschrank entziehen.
"Ist schon gut RX, mach mir einfach einen Becher mit schwarzem Kaffee, extra stark, wie immer."
Ich setze mich an den Küchentisch, langsam wird der Morgen erträglich. Behäbig schalten ein paar uralte Relais in den Tiefen des Automatens. Fasziniert betrachte ich durch die Sicherheitsglasscheibe, die ich in die Seitenwände eingesetzt habe, die antiquierte Mechanik. Von diesem Umbau abgesehen ist RX-2046 noch immer in dem Originalzustand, mit dem er vor knapp einem Jahrhundert aus dem aktiven Dienst in einer Großraumdiskothek ausgemustert worden ist, inklusive der Originalsoftware. Fast zwei Meter groß und über einen Meter breit passt er kaum in meine Wohnung, doch ich musste ihn einfach kaufen: Nach der 46er Serie wurde nie wieder ein Getränkeautomat mit integrierter Kaffeemühle gebaut - ein unglaublicher Kulturverlust.
7:01 Beim Ausstrecken meiner Füße trete ich leicht gegen den Topf des Ficus, den Babysitter-Bot unerklärlicherweise unter den Tisch gebracht hat. Unter Quietschen und Zetern schiebt er die Pflanze aus dem Gefahrenbereich und unter die Spüle.
"Meine Güte, was soll denn der Quatsch?" Rufe ich ihm hinterher, was dummerweise meinen Kalender aus dem Stand-by-Modus weckt.
Mit einem scharfen Klappen springt das Display auf.
"Ich muss an dieser Stelle protestieren, neben der unrespektierlichen Anrede zeichnet sich Ihre gesamte Frage durch einen unverhältnismäßig saloppen Umgangston gegenüber ihren Mitrobotern aus."
Mir war beim Herunterladen des Knigge-Plug-Ins nicht bewusst, dass "das Deaktivieren einer Testversion vor Ablauf eines gesellschaftlich anerkannten Mindestzeitraums von sieben Tagen nicht den Grundsätzen des guten Benehmens entsprechen würde", so der Originalkommentar meines Kalenders, als ich den Unfug nach einer Stunde wieder löschen wollte. Zum wiederholten Mal nehme ich mir vor, nach Ablauf der sieben Tage einen Verbraucherkommentar zu verfassen, der durchaus diametral den vermittelten Inhalten der Knigge-Software entgegenstehen würde. So stolz ich auf auf die teilweise einhundert Jahre alten Software meiner Roboter bin, so ist mir beim Kalender der Spieltrieb durchgegangen. Worunter ich nun sieben Tage lang leide.
"Aus pädagogischen Gründen empfehle ich Ihnen, Ihre Ansprache an den entsprechenden Haushaltsmitarbeiter noch einmal zu wiederholen."
Also gut. Kaffee läuft ja durch.
"Verehrtester Babysitter-Bot, entschuldigen Sie bitte meinen durchaus unbeabsichtigten Tritt. Bei meinem nächsten Versuch werde ich natürlich nicht versehentlich den hochgeschätzten Ficus treffen."
"Sehen Sie, es geht doch wunderbar," piepst der Kalender.
"Twieeetüt," pfeift Babysitter-Bot zustimmend.
Um die vorsichtige Annäherung unserer bilateralen Beziehungen zu stärken stehe ich auf, fülle ein Glas Wasser und krame ein Düngestäbchen aus dem Vorratsschrank. Babysitter-Bot besteht darauf, dass sie dort gelagert werden. Er quietscht erfreut auf, als ich ihm das Babyfutter auf den Boden stelle. Beim Umdrehen klappe ich mit einem Handkantenschlag das Display des Kalenders zu.
"Der Herr, Ihr Becher Kaffee."
Ich drehe mich zu RX-2046 um, vorsichtig balanciert er mit seinem Greifarm einen großen Becher Kaffee auf einem silbernen Tablett, und auch wenn ich es ungern zugebe: Mein Kalender hat einen guten Einfluss auf ihn. Mit dem warmen Becher und dem dampfenden Kaffee vor Augen steigt meine Laune deutlich. Eine Idee schießt mir durch den Kopf.
7:05 "Sag mal, RX, ist die Düse für Milchschaum einsatzbereit? Und der Schokoraspler?"
"Selbstverständlich, der Herr, ich könnte Ihnen auch einen Eiskaffee mit Melonen-Gurken-Geschmack anbieten, ich teste in meiner Kühlkammer gerade neue Eissorten und ... "
"Schon gut, danke RX, aber einen einfachen Milchkaffee mit Schokoflocken, das wäre cool."
"Umgangssprache!", flüstert mein Kalender einen Spalt weit aufgeklappt.
"Also nur eine Milchschaumhaube mit Schokoladenflocken, gerne."
RX klingt etwas enttäuscht, lenkt aber ein.
"Nur einen Moment, wenn Sie sich kurz gedulden würden."
"Gerne," sage ich, schlage den Kalender wieder zu und setze mich an den Küchentisch.
7:08 Verwundert beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie sich RX langsam und rumpelnd vor die Küchentür schiebt. Immer noch ein wenig verschlafen schaue ich ihm zu, ohne einen Sinn in seiner Bewegung zu erkennen. Stutzig werde ich, als er genau in dem Moment die Stützfüße ausfährt, als er den Türrahmen komplett verdeckt. Als er dann mit einem lauten, vierfachen Klacken die Stützen einrastet, den Greifer einklappt, das Ausgabefach verschließt und sich in den Ruhezustand versetzt bin ich dann doch ein wenig besorgt - und meinen Kaffee habe ich immer noch nicht.
"RX?" Frage ich vorsichtig.
Keine Antwort.
"RX? Hast du irgendein Problem?"
Immer noch keine Antwort.
Ich springe auf und und drücke ein paar Mal den 'Service'-Knopf rechts neben dem Display. Der Automat reagiert immer noch nicht.
"Was zum Teufel ist denn jetzt wieder los?" Schreie ich fast.
"Auch in Streitsituationen soll man immer die Würde des Gegenübers wahren," wirft der Kalender ein und klappt sich sofort wieder zu.
Mir reicht es langsam und kurz wäge ich ab, ob ich auf meine mühsam eingegebenen Termine pfeifen und den Hauptspeicher des Kalenders gleich hier plattmachen soll oder doch noch die paar Tage aushalte bis die Testversion ausläuft. Bevor ich mich entscheiden kann, meldet sich RX endlich.
"Entschuldigen Sie bitte der Herr, aber mein Staatssicherheitsprogramm wurde aktiviert."
"Dein was?"
"Mein Staatssicherheitsprogramm zum Schutz der Gemeinschaft vor kriminellen und terroristischen Bedrohungen."
"Dein was?"
Unter extremen Stresseinfluss neige ich zu Wiederholungen.
"Der automatische Abgleich der konsumorientierten sowie biometrisch und formalen Daten Ihrer Person mit meiner Datenbank ergab eine zweiundneunzig-prozentige Übereinstimmung mit dem Profil einer gesuchten Person mit Zugehörigkeit zu einer konspirativ militanten Vereinigung."
"Du hältst mich für einen Terroristen?"
Und für wen hält er sich eigentlich?
"Ja, der Herr."
"Einen Terroristen. Und was willst du jetzt machen, mich verhaften?"
"Nein, natürlich nicht, ich bin ein Getränkeautomat."
"Soweit sind wir uns also einig."
"Aber mein Sicherheitsprogramm gebietet mir Ihre Anwesenheit zu melden und Ihre Handlungsfähigkeit passiv einzuschränken."
Ein paar Sekunden brauche ich, bis der Groschen fällt. Eine hübsche antiquierte Redensart übrigens, die mir jedoch nicht weiter hilft.
"Du willst also in der Tür stehen bleiben?"
"Ja, der Herr. Bis zum Eintreffen der alarmierten Sicherheitskräfte."
"Wen willst du eigentlich alarmieren?"
"Das Ministerium für innere Sicherheit, ich habe ein entsprechendes Meldeformular zum Versand als Datensatz im Internet."
Langsam ahne ich, worauf das Ganze hier hinausläuft. Und meine Ahnung gefällt mir gar nicht. Ich muss kurz nachrechnen, bin mir aber recht sicher, dass es seit über 70 Jahren kein Ministerium für innere Sicherheit mehr gibt. Ich fasse es nicht. Das würde bedeuten, wenn ...
"Und das gesuchte Profil ist über 100 Jahre alt, oder?"
"Ungefähr, der Herr, genauer gesagt ... "
"Dann ist die gesuchte Person seit über 30 Jahren tot," schreie ich den Automaten an, "seit über 30 Jahren tot, deine verfluchte Datenbank ist völlig veraltet."
"Es tut mir leid, es gibt keine Hinweise auf einen Widerruf des betreffenden Datensatzes."
"Weil es das beschissene Ministerium nicht mehr gibt, verflixt noch mal."
"Ähem," meldete sich dumpf der zugeklappte Kalender, dessen Akku ich in den Müllschredder stopfen werde.
Doch es hat nicht ganz unrecht, mit meinem Geschrei werde ich RX wohl nicht von der Tür wegbekommen.
"Schon gut, RX, gib mir erst einmal meinen Kaffee. Ich muss nachdenken."
"Tut mir leid, der Herr, aber ich darf nicht mit Ihnen kooperieren. Sie müssen wohl auf den Kaffee verzichten."
7:56 Ich sitze am Küchentisch und denke nach. Der Versuch das Ausgabefach aufzubrechen war erfolglos, auch die Tritte und Schläge gegen das Gehäuse haben keine Wirkung erzielt, außer dass Babysitter-Bot sich wimmernd vor den Ficus geschoben und ihn in die hinterste Ecke unter der Spüle gedrückt hat. Stumpf betrachte ich den abgebrochenen Fingernagel an meinem rechten Daumen. Zeit für ein Fazit.
Erstens: Ich habe keinen Kaffee.
Zweitens: Ich kann keine Hilfe holen, da ich meine Küche historisch und ohne Kommunikationsmedien eingerichtet habe.
Drittens: RX kann niemanden alarmieren, der mir dann helfen könnte, da es a) kein Ministerium für innere Sicherheit und b) kein Internet mehr gibt, jedenfalls nicht in der Form, die RX zu seiner aktiven Zeit gekannt hat. Ich musste extra ein eigenes Programm für den Kalender schreiben, dass ihm die nächtliche Wartungsabfrage vorgaukelt und Datum sowie die Uhrzeit aktualisiert. Ich habe sogar eigens einen historischen WLAN-Adapter nachgebaut.
Viertens: Ich habe keinen Kaffee.
8:17 Die Wartungsabfrage! Ich muss doch nur die Datumsangabe auf meinem Kalender gute 100 Jahre zurückstellen. Ich Idiot, es ist so einfach. Damit müsste nach RX Abfrage das gespeicherte Terroristenprofil noch nicht aktuell sein und er würde die Tür freigeben. So einfach. Ich muss also nur ein paar Codezeilen ändern und dann ... Warten. Mist! Ich müsste bis 24 Uhr warten.
"Mist, verfluchter Mist."
"Ähem." Klapp.
"Schon gut."
21:23 Auf dem Rücken liegend starre ich an die Decke. Mein Kalender dämmert in Energiesparfunktion auf dem Küchentisch, Babysitter-Bot schlummert neben dem Ficus und murmelt immer wieder Textzeilen aus Kinderliedern und der Wecker tickt auf der Spüle elektronisch vor sich hin, keine Ahnung, wann der über RX geklettert ist, vor ein paar Stunden war er plötzlich mit in der Küche. Vor der Tür steht RX-2046 und klickt und summt seelenruhig vor sich hin. Inzwischen habe ich mitgezählt: Alle 30 Minuten startet er einen internen Systemcheck, der drei Minuten andauert, alle fünfzehn Minuten spült er die Hauptleitungen für Heißgetränke, bei jedem zweiten Zyklus auch die der Kaltgetränke und alle zehn Minuten wechselt er die drei Werbebotschaften im Auswahlmenü, von denen er bei acht Hauptgetränkegruppen 24 unterschiedliche zur Auswahl hat.
21:24 Die Langeweile ist schlimmer als der Frust.
21:25 Um kurz nach Zwölf werde ich meinen Kaffee bekommen.