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Milano Centrale

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16.06.2002
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Milano Centrale

Eigentlich hätte sie sich die Reise auch sparen können. Nun stand sie da, sie, Martina Gruber, fast dreißig, am Bahnsteig fünfzehn des Mailänder Hauptbahnhofes mit einer schweren Reisetasche aus Kunststoffgewebe, deren Tragriemen sich fest in die Haut ihrer Finger kerbten. Zerstreuen wollte sie sich, den Trübsinn vertreiben, doch der war halt mitgefahren, die ganze Zeit über. Den hatte sie bei sich, als sie die Innenstadt durchstreifte, bis ihr die Füße schmerzten. Als Wolfgang ihr eröffnet hatte, dass es aus sei zwischen ihr und ihm, konnte sie es nicht glauben, war wie gelähmt, konnte nichts sagen, blickte nur mit vertränten Augen nach draußen, aus dem Fenster zum Innenhof seiner kleinen Wohnung und blieb stumm. Dann ging sie, wortlos, knallte die Türe zu und fuhr nach Hause, um sich in ihr Sofakissen zu vergraben und zu heulen, doch als sie am Sofa lag, war da nur eine seltsame Traurigkeit, ein bitterer Geschmack im Mund und der Gedanke: „wieso muss das immer mir passieren!"

Schließlich fuhr sie zum Südbahnhof, kaufte sich eine Fahrkarte nach San Remo mit Liegewagen bis Mailand. Doch nach San Remo fuhr sie nicht. Was hätte sie auch alleine am Strand machen sollen? So blieb sie halt eben in Mailand, nahm sich ein Zimmer in einer Pension in der Nähe des Bahnhofes. Am Strand, so alleine im Sand auf einem Handtuch liegend, wäre sie ohnehin nur angebaggert worden. „Alles nur das nicht", dachte sie und beschloss, die Fahrkarte ans Meer verfallen zu lassen.

„Vielleicht", schoss es ihr durch den Kopf, „tut es mir gut, einfach durch die Stadt zu wandern, einkaufen und so, um zu vergessen". Doch dem war nicht so. Nach einer schlaflosen Nacht im Zug, in der ihr Wolfgang nicht aus dem Sinn gehen wollte, nahm sie sich das Zimmer in einer Seitengasse der Via Vittor Pisani, warf sich, ohne auszupacken, auf das Bett und vergrub ihren Kopf in das nach Waschlauge riechende Kopfkissen. Nach ein par Stunden seichten Schlafes lief sie durch die Via Vittor Pisani, am Pirellihochhaus vorbei, immer weiter, Autolärm, Gehupe, Konservenmusik aus einem Musikladen. Hammerschläge im Schädel. Immer nur Wolfgang. „Verschwinde aus meinem Kopf, verdammt noch mal!" Ein Abgerissener bleicher mit tiefschwarzen Ringen unter den Augen sprach sie an. „Hast du fünfhundert Lire zum Telefonieren?" „Verpiss dich, lass mich in Ruh!" Martina schritt weiter, so als ob sie hier wohnte. Rote Ampel, einfach drübergelaufen, wie alle. Piazza della Repubblica. Ristorante Self Service, Tagliatelle mit Champignons, schmeckten bitter nach Wolfgang, einen Weißwein dazu, noch einen, dann noch einen, Martina war ja auf Urlaub, also warum denn nicht. Türkisch-arabisches Gezeter hinter der Küchentür. Ein Kunststofftisch und weißes Papiertischtuch. Martina war ein ganz klein wenig schwindlig vom Wein. Sonnenuntergang. Die Stadt wurde dunkel, hell beleuchtete Auslagen. Neonreklamen. Die ganze Stadt eine Modenschau. Martina brauchte ein Mineralwasser zum Mitnehmen, im Pappbecher, von Wimpi. Sogar das Wasser schmeckte ein wenig anders als in Wien. Geruch von Kaffee und Benzinabgasen mischte sich, Duft von Oregano und Gebackenem gesellte sich an der Straßenecke dazu.

In melancholischer Trance fand Martina die Piazza Duomo. Der Dom strahlte im Scheinwerferlicht. Menschen saßen auf den Treppen und unterhielten sich, saßen an den Tischen der Straßencafés, rauchten, lachten, flirteten und küssten. Martina war der Anblick schmerzhaft. Sie ging ins Kino, sah sich einen Horrorfilm auf Italienisch an. „Passt nicht zu der Sprache", dachte sie und ging noch vor Ende aus dem Kino. Neonlicht im Autobus, keiner konnte wechseln für die Fahrkarte. Martina fuhr gratis zurück in die kleine Pension.

Zum Frühstück in der Bar mit Croissant und Cappuccino wieder Wolfgang, „Arschloch verfluchtes!" Verlobt waren sie gewesen, dann lernte er Doris kennen. Doris war anders als Martina, „nicht so spießig, offener", wie er meinte, „nicht immer so ernst und introvertiert", wie er ihr vorwarf. Dann war’s plötzlich aus zwischen Martina und Wolfgang. Die erste Träne trat am Corso Buenos Aires aus Martinas Augenwinkel, als sie eine Auslage anstarrte. Martina wischte sich die Träne vom Nasenbein weg, betrat das Geschäft. „Ich möchte den blauen Hosenanzug in der Auslage probieren". Mit Kreditkarte bezahlt und das Erworbene in ein schickes Sackerl mit Henkel aus schwarzer Kordel gesteckt bekommen. Martina atmete den Duft, der aus einer Bar strömte, ging hinein, ein Tramezzino, Wasser dazu. Nachher noch Caffé Macchiato, stark und heiß. Musste denn alles nach Wolfgang schmecken?

Auspuffgase, Lärm, Gehupe, Menschen mit ernsten Gesichtern hetzten in den neuen Modefarben an Martina vorbei. Schöne Handtaschen, schicke Aktenkoffer. Afrikaner, die ihr hinterherpfiffen, Zigeuner und Obdachlose mischten sich in die wuselnde Menge. Ein Kaufhaus, Musik, „La Bambola", „ausgerechnet", dachte Martina. „Und dann wirfst du mich weg, als ob ich eine Puppe wär...", „ich halt das nicht aus", flüsterte sie zu sich selbst und kaufte ein Schultertuch, das zum Hosenanzug passte. Limonade aus dem Pappbecher, Abfalltonnen vollgepfercht mit Wohlstandsmüll. Martina ging mit dem Pappbecher spazieren, bis sie ihn am Fensterbrett einer Auslage einfach stehen ließ.

Sie konnte Wolfgang nicht vergessen, wünschte ihm alles Schlechte. Der Trübsinn, die bittere Schwermut meldeten sich zurück. Sie waren mitgekommen, bei ihr geblieben, hängten sich an sie, krochen in sie hinein. Die zwei letzten Tage verbrachte sie auf Bänken sitzend, im Park beim Castello Sforzesco, auf der Piazza Duomo, in den Giardini Pubblici.

Und nun sollte sie zurück nach Wien, sie hätte genauso gut dort bleiben können, es ging ihr nicht besser. Der Zug stand schon da. Seufzend nahm sie ihre Tasche, suchte den Wagon, der auf der Reservierung angegeben war, riss die Tür zum Abteil auf, hob die Tasche stöhnend hinauf auf den Gepäckträger und ließ sich in den Sitz fallen. Wolfgang im Geiste die Kehle durchschneidend, knallte sie die Abteiltür zu und versteckte ihr Gesicht hinter einer Zeitschrift. Jemand riss die Türe wieder auf. „Noch was frei?". Eine Frau in schwarzem Blazer suchte Platz. „Ja, nur zu...", Martina blickte nicht von ihrer Lektüre auf. Die Frau blies Luft aus ihrem gespitzten Mund und ließ einen kleinen Koffer mit Rädern auf den Gepäckträger fallen. „Sie lesen l’Espresso?" Martina schrak auf. „Ahm ja."

Die Frau hatte den schwarzen Blazer ausgezogen und sich ihr gegenüber gesetzt. Lange Haare fielen auf ihre Schultern, zwei große goldene Klipps prangten an den Ohrläppchen, die schwarz glänzende Lederhandtasche hielt sie an ihren Bauch gepresst. Sie lächelte Martina erwartungsvoll an. „Fahren Sie weit?", fragte Martina im höflichsten Ton, zu dem sie in ihrer Verfassung im Stande war. „Ja, ich fahre bis nach Wien. Sie wahrscheinlich auch. Wegen des leichten Akzentes. Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht..." „Kein Problem, hab lange nicht geübt", meinte Martina lächelnd. Die Frau begann mit ihren Händen zu gestikulieren. „Wenn’s mir dreckig geht fahr ich nach Wien, alleine, einfach so. Mein Alter hat mich sitzen lassen, einfach so! Mistkerl!" Martina musste lachen. Das erste Mal seit Wolfgangs Es-ist-aus-Vorstellung. Der Zug begann zu rollen. Endlose Vororte mit in den Himmel ragenden Plattenbauten zogen an ihnen vorbei. „Durch ganz Mailand bin ich gelatscht bis mir die Füße abgefallen sind. Ich bin nämlich auch eine Weggeschmissene!" Martinas Herz begann sich zu erbrechen. „Wollte ans Meer, nach San Remo, bin aber dann in Mailand picken geblieben, weil am Strand, alleine wär ich noch depressiver geworden..." „Ich heiße Laura!" „Martina" „Wegen einer anderen, verstehst du Laura?" Martina begann zu weinen. „Arschloch!" Laura fauchte. „Hat’s was gebracht? Ich meine, dass du in Mailand gewesen bist und San Remo sausen hast lassen!" „Einen Hosenanzug und ein Schultertuch!" „Na immerhin!" „Mein Mistkerl", seufzte Laura, „hatte immer was an mir auszusetzen. Nichts hat gepasst. Zu dick, zu wenig verständisvoll. Oft hat er tagelang nichts von sich hören lassen. Dann hab ich gesagt so geht das nicht und er hat mir den Laufpass gegeben. Tja! Und jetzt fahr ich nach Wien, damit ich auf andere Gedanken komme!" Häuser zischten vorbei. Ebene. Verona, Padua, Venedig, Pordenone, Gebirge.

Dann waren sie müde vom vielen Reden, schliefen ein. Der Südbahnhof in Wien war nicht so hektisch. Laura gefiel das. Sie rief Martina an. Sie trafen sich, gingen zum Heurigen. Laura sah Wien mit Martina. Vieles, was sie nicht gekannt hatte. Martina erhielt zum Abschied eine Einladung und die CD von Lucio Dalla, die Laura in ihrem tragbaren CD-Spieler mitgehabt hatte. Drei Monate später saß Martina wieder im Zug nach Mailand. Wolfgang? Wolfgang war vergessen!

 
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Hallo Echnaton!

das hat garnix mit Römern zu tun. Und mit Ägyptern auch nicht.:susp:

Mir hats aber trotzdem sehr gefallen, vor allem ab der zweiten Hälfte.

"„Arschloch!"" Echnaton!! :eek1:

"„Hat’s was gebracht? Ich meine, dass du in Mailand gewesen bist und San Remo sausen hast lassen!" „Einen Hosenanzug und ein Schultertuch!"" :)

Eine schöne Geschichte, vor allem im zweiten Teil auch flott erzählt, schön und flüssig zum lesen, am Schluss ein Happy-End...:)

Schöne Grüße, Anne

 

Hallo Maus,

schön, daß es Dir gefallen hat. Ja, man muß auch mal was modernes schreiben und "Arschloch" reinflicken. hehehe. Selten aber doch verlasse ich das Altertum, hm. Außerdem sind Italien und das Alte Rom ja nicht gaaar so weit auseinander, oder doch???

liebe Grüße

Echnaton

 

Hi Echnaton,
mir hat's auch gefallen. Eine Geschichte für Milanofans und zum Schluss noch eine CD von Lucio Dalla.
Grüße von Emma

 

Echnaton,

eine schöne Geschichte mit guten Beschreibungen. Obwohl nichts großartiges passiert ist der Text unterhaltsam, der rote Faden (die Bitternis um Wolfgang) führt wie die Bahnlinie zu einem neuen Abschnitt (Verhältnis). Auch die Aussage, daß der Ort, von dem eine Person fliehen will, für die andere Person der Zufluchtsort ist, hat mir gut gefallen.
„passt nicht zu der Sprache“ -- schöne Beobachtung!

Tschüß... Woltochinon

 

Emma,

freut mich, daß es Dir gefallen hat und danke fürs Lesen! Milano è vicino a Europa ... ti fa una domanda in tedesco e ti risponde in siciliano... (auch Lucio Dalla). In der Tat, eine der interessantesten Städte Europas, aber wieder Lucio dalla: poi Milan è Benfica, Milano che fatica!

liebe Grüße

Echnaton

Woltochinon: auch Dir danke fürs Lesen! Ein Horrorfilm oder Thriller auf Italienisch paßt wirklich nicht! Freut mich, daß Dir die geschichte gefallen hat

liebe Grüße

Echnaton

 

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