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Mila und der Tod
Keiner mochte Mila. Niemand fand, sie habe etwas Schönes oder Liebliches an sich. Das war einfach so. Ob es an den dunkelbraunen Zöpfen lag, die an ihr herunterhingen, an den einfachen Zügen ihres Gesichts, oder dem leeren Blick? Das konnte oder wollte keiner recht beantworten. Es war auch nicht weiters von Bedeutung.
Meist saß sie da und schwieg. Und wenn man zu ihr sprach, zuckte sie, wenn überhaupt, mit den Schultern. Sie tuschelte manchmal vor sich hin und hielt man dann die Hand ans Ohr und fragte hämisch: „Was? Wolltest du gerade etwas sagen?“, obwohl einem nichts daran lag und man es nur tat, um sie vor den anderen zu demütigen, dann machte sie sich immer kleiner, so als würde sie am liebsten in sich hinein schlüpfen und verschwinden wollen.
Wenn Sie nun Mitleid mit Mila empfinden, dann deshalb, weil Sie sie selbst nicht gekannt haben. Sie hätten ganz einfach mitgemacht, und sei es nur, indem Sie lediglich mit erhobenen Mundwinkeln und funkelnden Augen dabei gestanden wären.
Eines Tages geschah etwas sonderbares. Es war in der Deutschstunde von Frau Kern. Wir mussten einen Text abschreiben. Es herrschte Ruhe. Man konnte nur hören, wie die Lehrerin in wohlbekannter Weise durch die Bankreihen schritt. Ich schaute aus dem Fenster auf die graue Wand des Nachbargebäudes. Es erinnerte mich an irgendein Gesicht.
Da schrie Mila plötzlich „TOD!“ und die Zeit stand still.
Aber es war nicht wegen dieses Wortes, auch nicht wegen der Tatsache, dass sie den Unterricht gestört hatte. Das Sonderbare war die Art, wie sie es gerufen hatte.
Sie hatte es auf heitere, auf eine von unermesslicher Freude erfüllte Art getan, als hätte sie gejubelt.
Wir Schüler schauten uns gegenseitig an und keiner wusste weiter. Die Lehrerin ging rückwärts auf ihr Pult zu, die Augen voller Entsetzen aufgerissen, den Rest ihres Gesichts mit den Händen bedeckt.
Und da wurde uns klar, warum wir dieses Mädchen nicht mochten, es insgeheim hassten:
Es war Angst.
Mit gesenkten Häuptern saßen wir da. Dann erhob sie nochmals ihre Stimme und wir konnten nur zuhören, wir mussten es:
„TOD – ÜBER – UNS – ALLE!“
Sie wiederholte es einige Male, wobei sie sich steigerte und das „ALLE“ betonte. Jedes Wort traf.
Dann hörte es auf. So abrupt wie es begonnen hatte.
Frau Kern setzte sich ans Lehrerpult und schrieb ins Buch, so als wäre nichts geschehen. Auch die Schüler begannen einer nach dem anderen sich zu regen und zu schreiben. Als wäre nichts passiert.
Ich saß da, konnte nicht verstehen, dass alles einfach weitergehen sollte. Ich war nicht mehr derselbe.
Mila hatte mich verändert.
In mir wuchs der unwiderstehliche Wunsch, ihr näher sein zu wollen. War sie nicht etwas ganz besonderes? Hatte sie nicht die Wahrheit gesprochen, die unverblümte Wirklichkeit ausgedrückt? Und hatte sie es nicht auf einer solch erhabene, wunderbare Art getan? Als würde sie den Tod, die unumgängliche Auslöschung ihres Selbst, geradezu mit offenen Armen willkommen heißen wollen.
Ich hatte mich so in ihr getäuscht.
Ich musste sie sehen. Erwartungsvoll drehte ich den Kopf nach hinten, zur letzten Bank hin, wo sie für gewöhnlich wie eine Aussätzige dasaß.
Doch sie war nicht mehr da. Da stand nur der Stuhl hinter der Bank, als glotze er mich an, als würde er sagen wollen: „Zu spät, zu spät.“
Heiße Tränen liefen mir die Wangen herab. Ich brach meinen Stift entzwei, stand auf, mein Stuhl kippte um und knallte zu Boden. Die anderen blickten mich fragend an, begannen zu tuscheln.
Ich eilte aus dem Klassenzimmer, auf den Gang hinaus. Ich riss die Türen der anderen Zimmer auf nur um sie zu finden. Nur für Mila machte ich mich vor der ganzen Schule zum Idioten.
Wie von Sinnen stürmte ich ins Freie, schrie immer wieder ihren Namen, so lange, bis ich heißer war. Irgendwann kamen Leute und stellten mich mit einer Spritze zur Ruhe. Da lag ich nun.
Ich habe sie niemals mehr gesehen. Sie blieb verschwunden. Die wollen mir weiß machen, es habe sie nie gegeben. Die tun nur so als ob.
Sie sind wohl zufrieden, so.
Ich bin frei.