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Mila und der Tod

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16.03.2013
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Mila und der Tod

Keiner mochte Mila. Niemand fand, sie habe etwas Schönes oder Liebliches an sich. Das war einfach so. Ob es an den dunkelbraunen Zöpfen lag, die an ihr herunterhingen, an den einfachen Zügen ihres Gesichts, oder dem leeren Blick? Das konnte oder wollte keiner recht beantworten. Es war auch nicht weiters von Bedeutung.

Meist saß sie da und schwieg. Und wenn man zu ihr sprach, zuckte sie, wenn überhaupt, mit den Schultern. Sie tuschelte manchmal vor sich hin und hielt man dann die Hand ans Ohr und fragte hämisch: „Was? Wolltest du gerade etwas sagen?“, obwohl einem nichts daran lag und man es nur tat, um sie vor den anderen zu demütigen, dann machte sie sich immer kleiner, so als würde sie am liebsten in sich hinein schlüpfen und verschwinden wollen.
Wenn Sie nun Mitleid mit Mila empfinden, dann deshalb, weil Sie sie selbst nicht gekannt haben. Sie hätten ganz einfach mitgemacht, und sei es nur, indem Sie lediglich mit erhobenen Mundwinkeln und funkelnden Augen dabei gestanden wären.

Eines Tages geschah etwas sonderbares. Es war in der Deutschstunde von Frau Kern. Wir mussten einen Text abschreiben. Es herrschte Ruhe. Man konnte nur hören, wie die Lehrerin in wohlbekannter Weise durch die Bankreihen schritt. Ich schaute aus dem Fenster auf die graue Wand des Nachbargebäudes. Es erinnerte mich an irgendein Gesicht.
Da schrie Mila plötzlich „TOD!“ und die Zeit stand still.
Aber es war nicht wegen dieses Wortes, auch nicht wegen der Tatsache, dass sie den Unterricht gestört hatte. Das Sonderbare war die Art, wie sie es gerufen hatte.
Sie hatte es auf heitere, auf eine von unermesslicher Freude erfüllte Art getan, als hätte sie gejubelt.
Wir Schüler schauten uns gegenseitig an und keiner wusste weiter. Die Lehrerin ging rückwärts auf ihr Pult zu, die Augen voller Entsetzen aufgerissen, den Rest ihres Gesichts mit den Händen bedeckt.

Und da wurde uns klar, warum wir dieses Mädchen nicht mochten, es insgeheim hassten:
Es war Angst.
Mit gesenkten Häuptern saßen wir da. Dann erhob sie nochmals ihre Stimme und wir konnten nur zuhören, wir mussten es:
„TOD – ÜBER – UNS – ALLE!“
Sie wiederholte es einige Male, wobei sie sich steigerte und das „ALLE“ betonte. Jedes Wort traf.
Dann hörte es auf. So abrupt wie es begonnen hatte.
Frau Kern setzte sich ans Lehrerpult und schrieb ins Buch, so als wäre nichts geschehen. Auch die Schüler begannen einer nach dem anderen sich zu regen und zu schreiben. Als wäre nichts passiert.

Ich saß da, konnte nicht verstehen, dass alles einfach weitergehen sollte. Ich war nicht mehr derselbe.
Mila hatte mich verändert.
In mir wuchs der unwiderstehliche Wunsch, ihr näher sein zu wollen. War sie nicht etwas ganz besonderes? Hatte sie nicht die Wahrheit gesprochen, die unverblümte Wirklichkeit ausgedrückt? Und hatte sie es nicht auf einer solch erhabene, wunderbare Art getan? Als würde sie den Tod, die unumgängliche Auslöschung ihres Selbst, geradezu mit offenen Armen willkommen heißen wollen.
Ich hatte mich so in ihr getäuscht.
Ich musste sie sehen. Erwartungsvoll drehte ich den Kopf nach hinten, zur letzten Bank hin, wo sie für gewöhnlich wie eine Aussätzige dasaß.
Doch sie war nicht mehr da. Da stand nur der Stuhl hinter der Bank, als glotze er mich an, als würde er sagen wollen: „Zu spät, zu spät.“
Heiße Tränen liefen mir die Wangen herab. Ich brach meinen Stift entzwei, stand auf, mein Stuhl kippte um und knallte zu Boden. Die anderen blickten mich fragend an, begannen zu tuscheln.
Ich eilte aus dem Klassenzimmer, auf den Gang hinaus. Ich riss die Türen der anderen Zimmer auf nur um sie zu finden. Nur für Mila machte ich mich vor der ganzen Schule zum Idioten.
Wie von Sinnen stürmte ich ins Freie, schrie immer wieder ihren Namen, so lange, bis ich heißer war. Irgendwann kamen Leute und stellten mich mit einer Spritze zur Ruhe. Da lag ich nun.

Ich habe sie niemals mehr gesehen. Sie blieb verschwunden. Die wollen mir weiß machen, es habe sie nie gegeben. Die tun nur so als ob.
Sie sind wohl zufrieden, so.
Ich bin frei.

 

Memento mori

Hallo Cybernator,
rätselhafte Geschichten sind mir deshalb angenehm, weil sie (Schein)Sicherheit nicht vorspiegeln, sondern, wie das Leben, unergründlich sind.
Was ist das Unergründliche in Deiner Geschichte?
Natürlich Milva: eine Autistin, ein Gespenst, eine Anima, ein Schattenwesen, ein Sündenbock; für die Klasse ein Nichts, eine Person, die zu demütigen einem das Gefühl gibt, überlegen zu sein.
Da sie in der Deutschstunde zu vernehmbaren Worten kommt, hat sie etwas mit Literatur zu tun. Und tatsächlich ist es doch so, dass in der Literatur der

„TOD!"
Keine geringe Rolle spielt. Ist sie der Geist der Literatur?
„TOD – ÜBER – UNS – ALLE!“
Wunsch oder Feststellung? Das alte „Memento mori“ steigt in Milva wieder auf.
Klasse und Lehrerin verdrängen dies. Der Erzähler fühlt sich
Frei zum Leben:
„Die meisten Menschen haben solche Angst zu sterben, daß sie ganz darauf gerichtet sind, den Tod zu vermeiden und dabei nie richtig leben.“ (Anthony de Mello: Warum der Schäfer jedes Wetter liebt)
Nebenbei: Eine Deutschlehrerin, die in einer höheren Klasse einen Text abschreiben lässt, gibt es (hoffentlich) nicht. Oder hat das den tieferen Sinn, dass der Geist der Klasse in mechanischen Handlungen gefangen wird, um den Tod nicht zu bemerken?
Und für mich ist die Einleitung zu lang.
Ein Text, der gegen den Strom der lebensprallen Eventkultur schwimmt. Rätselhaft schön!
Herzlichst
Wilhelm Berliner

 

Hallo Cybernator

Arme Mila ging mir bei den ersten Sätzen durch den Kopf. Natürlich ist nicht jedes Geschöpf in Eselsmilch gebadet, die die Schönheit von Kleopatra gefördert haben soll. Auch ist nicht allen mit ihren Formen gegeben, einen inspirierten Geist antiker Bildhauer und damit die Venus von Milo aufleben zu lassen. Doch jedes Wesen besitzt zumindest etwas, das es in seiner Art, wenn schon nicht begehrenswert, doch von einer Einmaligkeit aufscheinen lässt. Diese Missgunst, die Mila entgegengebracht wird, macht mich neugierig, ob ich da nicht ein verdecktes oder verstecktes Omen dazu in der Geschichte entdecke.

Ha, also doch! Die Geschichte brachte es an den Tag. Ob Mila nun ein Hirngespinst war, sie den Blick des Schülers auf die gegenüberliegende Hauswand mit Worten imaginierte oder es ein surrealer Streifzug des Autors war, ist eigentlich unerheblich. Mila bekam eine Ausdrucksform, sie gewann an Gestalt, seltsam zwar, aber doch.

Es ist eine seltsame Geschichte, die hinter ihrer Fassade eine andere Geschichte zu erzählen scheint, in der die Wahrnehmungen des Schülers, dessen Visionen, die Wirklichkeit bildet.

Ein kleines verspieltes Lesestück, das mir Vergnügen bereitete. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Lieber Wilhelm!

Deine kritische Würdigung hat mir sehr gut getan. Es ist immer schön, verstanden zu werden.
Ich habe mich gefragt, wie ein so kurzer und surrealer Text wohl rüberkommt.
Das Thema Tod ist ja weißgott nichts neues. Auch wenn er allgegenwärtig ist, wird da viel Mühe investiert ihn zu ignorieren. Setzt man sich dann noch positiv mit ihm auseinander, wirkt es gleich krank.
Die Mil(v)a ist auch so eine.
Passt nicht in unsere Gesellschaft. War wahrscheinlich aus der Gothik-Szene.
Keine Ahnung.

Grüße,
Steffen

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Anakreon!

Danke für deinen Beitrag.

Mir geht es auch so, dass ich in allem und jeden etwas Schönes entdecke. Selbst bei Menschen, die mir eigentlich auf den Geist gehen, gebe ich mir meist erfolgreich Mühe dabei.
Das liegt zweifelsohne am genialen Designer.
Da war es auch für mich reizvoll, das kleine Mädchen so unbeliebt darzustellen. Toll, dass es bei dir funktioniert hat und du Mitleid hattest.

Ha, also doch!

Genau, irgendwas hatte schon immer nicht mit ihr gestimmt. Und

Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass, Hass führt zu unsäglichem Leid.
(Yoda)
Kein Wunder, dass sie auf einmal verschwunden war.

Wichtig für mich war, dass der Protagonist für sie Liebe empfand. Darin steckt wohl

im Tod ist mein Leben (Rumi)

Grüße,
steffen

 

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