Mikrowelle
Wir haben keine Mikrowelle.
Meine Mutter sagt, dass Mikrowellen das Essen verändern. Sie verändern seine Struktur. Warum?
„Weil... wegen den Wellen. Weisst du, die Mikrowelle strahlt und das verändert etwas in der Grundstruktur des Essens. Das habe ich gelesen. Mikro, das heisst klein. Es sind also ganz kleine Wellen in der Luft gemeint. Die sind so klein, dass wir sie gar nicht sehen können.“
Wenn meine Mutter das sagt, dann stimmt es wahrscheinlich. Meine Mutter hat oft Recht, öfter als meine Lehrerin, als mein Vater und vor allem öfter als ich. Meine Mutter arbeitet nämlich mit Recht. Sie verdient viel Geld damit, dieses Jahr sogar noch mehr als letztes Jahr, und sie ist auch weniger zu Hause. Deshalb gehe ich jetzt drei Mal in der Woche zu Fabio Mittag essen. Ich finde es nicht sehr schön, wenn sie nie da ist und es ist mir eigentlich egal, ob sie mehr verdient. Einen eigenen Computer kriege ich ja doch nicht und das meiste Geld bekommt die dritte Säule.
Bei Fabio zu Hause gib es eine Mikrowelle. Das Praktische daran ist, dass man einfach etwas aus dem Kühlschrank nehmen und hineinstellen kann und schon nach fünf Minuten ein fertiges Mittagessen hat. Meine Mutter braucht viel länger, um Essen zu kochen. Und dabei mag sie Kochen gar nicht, wie sie sagt. Aber eine Mikrowelle würde eben das Essen verändern.
Gestern war Fabios Mutter auch nicht da. Sie musste ins Spital und Fabio hatte ein bisschen Angst, bis seine grosse Schwester erklärt hat, dass sie nur für die Untersuchung dort hin gehen musste.
„Das ist nur zur Kontrolle. Sie geht zum Frauenarzt.“
Dazu hat sie vielsagend genickt. Ich finde es komisch, dass es Ärzte gibt, die nur Frauen helfen. Ärzte sollten allen helfen, wenn sie ein Problem haben. Das habe ich der Schwester von Fabio gesagt, aber sie hat nur gelacht. Dann hat sie zwei Tupperware aus dem Kühlschrank genommen, das was darin war auf Teller verteilt, Käse drüber gestreut und die Teller in die Mikrowelle gestellt. Sie hat die Türe zugemacht und an dem runden Ding gedreht, das aussah wie ein Zahlenschloss von einem Tresor. Damit stellt man die Zeit ein. Dann hat die Mikrowelle angefangen, das Essen zu verändern.
Ich bin auf einen Stuhl geklettert, um besser zusehen zu können.
„Was passiert jetzt?“, habe ich gefragt.
Sie hat schon wieder gelacht. „Es wird warm.“
Die Mikrowelle wird tatsächlich warm, wenn man sie anstellt. Und sie leuchtet und strahlt, genau wie meine Mutter es gesagt hat. Die Scheibe, auf die Fabios Schwester die Teller gestellt hat, hat sich immerzu um sich selbst gedreht, wie ein Karussell.
Als die Mikrowelle fertig war, hat sie gepiept, Fabios Schwester hat die Teller auf den Tisch gestellt und wir konnten essen. Sie heisst Manuela, glaube ich.
Ich habe die Teigwaren gründlich angeschaut und ganz langsam gekaut. Ich hatte schon das Gefühl, dass sie anders waren, aber ich konnte nicht genau sagen, woran das lag.
Wie bei Adrian. Meine Freunde sagen, dass er nicht zu uns gehört. Weil er nicht so ist wie wir, weil er anders ist. Aber ich weiss nicht genau, was bei ihm anders sein soll. Ich glaube, das weiss keiner so richtig. Mit Adrian und dem Essen aus der Mikrowelle ist es vielleicht gleich, wie mit vielen anderen Dingen. Es ist anders, aber niemand kann sagen, was anders ist und warum eigentlich. Man stellt das Essen in die Mikrowelle und wenn man es wieder raus nimmt, hat es sich verändert.
Obwohl ich nicht glaube, dass es immer schlecht ist, wenn sich etwas verändert oder anders ist, meinen das irgendwie viele Leute. Sie sprechen von Frauen mit Glatzen oder Kopftüchern, vom Nachbar, der nicht arbeitet, von dicken Kindern, von dem Onkel, der mit seinem Efeu, aber nicht mit anderen Menschen redet, und sagen dabei „anders“. Das sagen sie und machen ein tolerantes Gesicht. Doch an ihren Blicken sehe ich, dass sie es nicht so tolerant meinen, wie sie es sagen.
Nur mein Grossvater mag anders wirklich. Wenn er davon spricht, dass es früher anders war, leuchten seine Augen. Er ist romantisch veranlagt, deswegen mag er Briefe lieber als Mails.
Meine Mutter findet anders vermutlich auch nicht so toll. Denn sie schreibt jeden Tag viele Mails. Ausserdem hätten wir sonst eine Mikrowelle.