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Mikrowelle

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08.10.2011
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Mikrowelle

Wir haben keine Mikrowelle.
Meine Mutter sagt, dass Mikrowellen das Essen verändern. Sie verändern seine Struktur. Warum?
„Weil... wegen den Wellen. Weisst du, die Mikrowelle strahlt und das verändert etwas in der Grundstruktur des Essens. Das habe ich gelesen. Mikro, das heisst klein. Es sind also ganz kleine Wellen in der Luft gemeint. Die sind so klein, dass wir sie gar nicht sehen können.“
Wenn meine Mutter das sagt, dann stimmt es wahrscheinlich. Meine Mutter hat oft Recht, öfter als meine Lehrerin, als mein Vater und vor allem öfter als ich. Meine Mutter arbeitet nämlich mit Recht. Sie verdient viel Geld damit, dieses Jahr sogar noch mehr als letztes Jahr, und sie ist auch weniger zu Hause. Deshalb gehe ich jetzt drei Mal in der Woche zu Fabio Mittag essen. Ich finde es nicht sehr schön, wenn sie nie da ist und es ist mir eigentlich egal, ob sie mehr verdient. Einen eigenen Computer kriege ich ja doch nicht und das meiste Geld bekommt die dritte Säule.
Bei Fabio zu Hause gib es eine Mikrowelle. Das Praktische daran ist, dass man einfach etwas aus dem Kühlschrank nehmen und hineinstellen kann und schon nach fünf Minuten ein fertiges Mittagessen hat. Meine Mutter braucht viel länger, um Essen zu kochen. Und dabei mag sie Kochen gar nicht, wie sie sagt. Aber eine Mikrowelle würde eben das Essen verändern.
Gestern war Fabios Mutter auch nicht da. Sie musste ins Spital und Fabio hatte ein bisschen Angst, bis seine grosse Schwester erklärt hat, dass sie nur für die Untersuchung dort hin gehen musste.
„Das ist nur zur Kontrolle. Sie geht zum Frauenarzt.“
Dazu hat sie vielsagend genickt. Ich finde es komisch, dass es Ärzte gibt, die nur Frauen helfen. Ärzte sollten allen helfen, wenn sie ein Problem haben. Das habe ich der Schwester von Fabio gesagt, aber sie hat nur gelacht. Dann hat sie zwei Tupperware aus dem Kühlschrank genommen, das was darin war auf Teller verteilt, Käse drüber gestreut und die Teller in die Mikrowelle gestellt. Sie hat die Türe zugemacht und an dem runden Ding gedreht, das aussah wie ein Zahlenschloss von einem Tresor. Damit stellt man die Zeit ein. Dann hat die Mikrowelle angefangen, das Essen zu verändern.
Ich bin auf einen Stuhl geklettert, um besser zusehen zu können.
„Was passiert jetzt?“, habe ich gefragt.
Sie hat schon wieder gelacht. „Es wird warm.“
Die Mikrowelle wird tatsächlich warm, wenn man sie anstellt. Und sie leuchtet und strahlt, genau wie meine Mutter es gesagt hat. Die Scheibe, auf die Fabios Schwester die Teller gestellt hat, hat sich immerzu um sich selbst gedreht, wie ein Karussell.
Als die Mikrowelle fertig war, hat sie gepiept, Fabios Schwester hat die Teller auf den Tisch gestellt und wir konnten essen. Sie heisst Manuela, glaube ich.
Ich habe die Teigwaren gründlich angeschaut und ganz langsam gekaut. Ich hatte schon das Gefühl, dass sie anders waren, aber ich konnte nicht genau sagen, woran das lag.
Wie bei Adrian. Meine Freunde sagen, dass er nicht zu uns gehört. Weil er nicht so ist wie wir, weil er anders ist. Aber ich weiss nicht genau, was bei ihm anders sein soll. Ich glaube, das weiss keiner so richtig. Mit Adrian und dem Essen aus der Mikrowelle ist es vielleicht gleich, wie mit vielen anderen Dingen. Es ist anders, aber niemand kann sagen, was anders ist und warum eigentlich. Man stellt das Essen in die Mikrowelle und wenn man es wieder raus nimmt, hat es sich verändert.
Obwohl ich nicht glaube, dass es immer schlecht ist, wenn sich etwas verändert oder anders ist, meinen das irgendwie viele Leute. Sie sprechen von Frauen mit Glatzen oder Kopftüchern, vom Nachbar, der nicht arbeitet, von dicken Kindern, von dem Onkel, der mit seinem Efeu, aber nicht mit anderen Menschen redet, und sagen dabei „anders“. Das sagen sie und machen ein tolerantes Gesicht. Doch an ihren Blicken sehe ich, dass sie es nicht so tolerant meinen, wie sie es sagen.
Nur mein Grossvater mag anders wirklich. Wenn er davon spricht, dass es früher anders war, leuchten seine Augen. Er ist romantisch veranlagt, deswegen mag er Briefe lieber als Mails.
Meine Mutter findet anders vermutlich auch nicht so toll. Denn sie schreibt jeden Tag viele Mails. Ausserdem hätten wir sonst eine Mikrowelle.

 
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Hallo dabu !

Irgendwie gefällt mir dein Text.

Die Mutter beunruhigt das Kind mit ihrer Mikowellentheorie und setzt es dann der Strahlung aus, weil sie nie da ist und das Kind in einem Mikrowellenhaushalt essen muss. Das ist nicht nett und das Kind sitzt vor dem Ding und macht sich so alleine seine Gedanken! Aber das trifft wirklich gut einen gewissen Nerv bei mir. Dieses ständige Gerede von Leuten, die eine schlechte Welt sehen, aber selbst dazu beitragen. Ich glaube ich bin da nicht anders :-) Was finde ich nicht alles schlimm, doch um wirklich etwas zu verändern, müsste man selbst verzichten. Die Mutter müsste vielleicht auf Geld verzichten (könnte ja auf ne dreiviertel Stelle reduzieren und immer mal zum kochen heimkommen) Und jeder, der über die armen Kinder in Afrika jammert, könnte mindestens eine Patenschaft für dreißig Euro übernehmen. Aber das geht dann ja auch nicht, weil die Versicherungen wieder teurer geworden sind und außerdem die Malediven rufen. Doch, ich finde dieses Textchen, das von einem Kind erzählt wird, spiegelt einiges wieder, bricht es sozusagen auf die Mikrowellenebene runter und ist zudem gut zu lesbar. Da schwingt ein schöner Ton mit.

Ich würde das Kind allerdings nicht von Toleranz reden lassen, das passte mir nicht in den vermuteten Wortschatz des Erzählers. Also, jemand, der noch nie von einem Frauenarzt gehört hat, wirft nicht mit Fremdwörtern um sich ..

Dann hat die Mikrowelle angefangen, das Essen zu verändern
.;)


Gruß

Lollek

 
Zuletzt bearbeitet:

Hej dabu,

mir hat gut gefallen, wie Du erzählst. So schön kurzweilig.
Ich hätte gerne noch mehr gelesen.

Das Ende war mir einen Tick zu plötzlich. Gerade fühlt es sich an wie am Kern der Geschichte, dann rauschen plötzlich in einem Absatz alle möglichen Menschen und der Großvater an mir vorbei - und Schluss!

Was mir an der Stelle so aufgefallen ist:

Wie bei Adrian. Meine Freunde sagen, dass er nicht zu uns gehört. Weil er nicht so ist wie wir, weil er anders ist. Aber ich weiss nicht genau, was bei ihm anders sein soll.
Hier könntest Du genauer beschreiben. Als Leser bleibt für mich nicht nur das Anders-Sein, sondern der gesamte Adrian so gut wie nicht (be-)greifbar. Vielleicht würde es nützen ihn ansatzweise zu beschreiben, um zu verstehen warum er anders, bzw. eben nicht anders ist.

Mit Adrian und dem Essen aus der Mikrowelle ist es vielleicht gleich, wie mit vielen anderen Dingen.
Das "gleich" braucht es nicht

Man stellt das Essen in die Mikrowelle und wenn man es wieder raus nimmt, hat es sich verändert.
Hier fehlt mir etwas, ein weiterführender Gedanke, denn inwiefern stimmt dieser Vorgang mit Adrian überein? Wo wurde er (oder dicke Kinder, Frauen mit Kopftuch oder Glatzen usw.) hineingestellt und wieder heraus genommen, im übertragenden Sinn?

LG
Ane

 

Hallo dabu,

willkommen auf kg.de!

Dieser kleine lakonische Text ist gar nicht mal so übel als Einstand.

Da spricht ein vermutlich kleinerer Mensch und zeigt seine Sicht der Dinge.
Hat mir durchaus gefallen.

Vier Dinge haben mich gestört:

Am Anfang ist mir die wörtliche Rede der Mutter zu lang. Du könntest es ja wieder in die Erzählsprache des Protagonisten packen und nur einen oder zwei markante Sätze für die Mutter lassen.

Innerhalb des weiteren Textes gelingt dir das nämlich ganz gut. Da sind nur kleine Einschübe mit wörtlicher Rede. Da fand ich das gut.

Dann hab ich mich gefragt, was du damit gemeint hast:

Einen eigenen Computer kriege ich ja doch nicht und das meiste Geld bekommt die dritte Säule.
Welche dritte Säule? Hab ich irgendwo etwas verpasst?


Und am Ende halte ich es für einen Stimmigkeitsbruch, wenn du den kleinen Menschen das Wort "tolerant" benutzen lässt. Das traut man ihm nicht zu.

Nicht stimmig ist auch, dass einerseits die sog. Toleranz in den Gesichtern stehen soll, aber andererseits in den Blicken die Intoleranz. Wie muss ich mir das vorstellen? Meist sind die Augen das Aussagekräftigste an einem Menschen.

Lieben Gruß

lakita

 

Danke viiielmal für die Rückmeldungen!!:)

Ich werd den Text bei Gelegenheit mit euren Tipps nochmal überarbeiten. Der Schluss kommt tatsächlich etwas plötzlich, weil ja doch das "anders-sein" die eigentliche Poine, bzw. den Kern darstellt.

Zu "tolerant":
Ich hab mir da vorgestellt, dass das Kind das Wort aufgeschnappt hat, wenn es andere über das Thema hat reden hören. Also braucht es "tolerant", ohne so richtig zu verstehen, was es bedeutet. Das soll dann im besten Fall die Leser dazu bringen, selbst über das Wort und seine Bedeutung nachzudenken;)
Aber vielleicht müsste ich es "falscher" brauchen? Das Kind soll wissen, wann das Wort gebraucht wird, aber nicht, was es eigentlich bedeutet...

 

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