Mikrokosmos
Sie standen sich in der Arena gegenüber und wussten genau, es kann nur einen Sieger geben, nur einen Überlebenden. Der Verlierer würde mit dem höchsten Einsatz bezahlen, den man hergeben konnte: seinem Leben.
Beide kamen sie aus unterschiedlichen Lagern. Es herrschte Krieg zwischen der Roten und der Schwarzen Armee. In ihrer Welt ging es immer nur darum, die eigene Existenz und die der Familie zu sichern. Ressourcen waren knapp, und wann immer man dem Feind über dem Weg lief, kam es zum Kampf.
Doch einer von den beiden Gladiatoren hatte schlechte Karten. Im Gegensatz zu seinem dunklem Gegenüber war die Rothaut kein Krieger. Er war immer nur ein einfacher Arbeiter gewesen, der den ganzen Tag Boten- und Transportgänge unternahm. Auch wenn seine Arbeit meistens sehr anstrengend war, wünschte er sich jetzt lieber mühselig irgendeine schwere Last von einem Ort zum anderem zu schleppen, als ausgerechnet hier zu sein, Sekunden vor dem möglichen absoluten Ende.
Er wusste selbst nicht genau, wie er überhaupt in diese ausweglose Situation geraten war. Vor wenigen Minuten war er noch in der Nähe seiner Heimat, auf einem kleinem Spaziergang im Gras. Doch plötzlich ging alles sehr schnell. Irgendetwas schien ihn zu packen, wirbelte ihn umher. Ihm wurde schwindelig, und die Angst packte ihn gerade, als es dunkel vor seinen Augen wurde.
Genauso schnell wie das Etwas kam, war es auch wieder weg. Es entließ ihn anscheinend wieder in die Freiheit. Doch als er wieder richtig zu sich kam, und sein Blick sich klärte, da sah er den Feind. Und nun stand er an diesem heißen, sonnigen Tag in diesem Loch, die Wände zu steil, um flüchten zu können. Es gab nur noch eins: Den Gegner zu töten.
Sie starrten sich gegenseitig an, schätzten sich und ihre Chancen ein. Ihr Atem ging schnell, ihre Muskeln waren angespannt, jederzeit dazu bereit zuzuschlagen.
Auch wenn der Rote durch seine schwere tägliche Arbeit alles andere als schwach und untrainiert war, war ihm der Schwarze doch eindeutig an Masse und Kraft überlegen. Mit Sicherheit auch an Erfahrung im Kampf.
Beide warteten sie auf den ersten Schritt des anderen. Alles verging wie in Zeitlupe. Der Moment streckte sich wie eine Ewigkeit.
Weit über ihnen bewegte sich plötzlich irgendetwas, und auf einen Schlag verdunkelte sich der Himmel.
Während die Rothaut sich noch fragte, welche Gottheit hier wieder Unheilvolles auf die Erde schickte, nutzte der Schwarze die Gunst der Stunde und preschte auf seinen Gegner los. Mit atemberaubender Geschwindigkeit und gesenktem Kopf wie ein wilder Stier, kam er angerannt. Er wollte den Feind mit voller Wucht treffen, ihn zu Boden stürzen und ihm die Luft rauben.
Geistesgegenwärtig versuchte sich der Rote mit einem Sprung zur Seite noch zu retten. Doch es war zu spät. Eine Schulter bohrte sich in seinen Unterleib, er wurde gepackt, und knallte hart mit Rücken und Kopf auf den Untergrund. Der Schmerz traf ihn wie einen Blitz, kroch von seinem Gehirn durch alle Glieder seines Körpers. Er war überrascht, das er überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen konnte, doch das einzige was ihm in den Sinn kam war: "Scheiße, du Blödmann! Das war's dann wohl schon!" Seine Augen schlossen sich.
Der Soldat der Schwarzen Armee stand triumphierend da, er lächelte, war sich siegesgewiss. Dieser sich im Dreck windende Wurm war eine zu leichte Beute. Keine Messlatte für einen erfahrenen Krieger wie ihn.
Er blickte sich in der Arena um, auf der Suche nach einem Stein oder einem Stock. Irgendetwas das er als Waffe benutzen konnte, um den Feind richtig leiden zu lassen. Um ihn zu töten, ohne sein Blut unmittelbar an den Händen kleben zu haben. Zu seinem Bedauern konnte er nichts in der näheren Umgebung finden. Er wollte sein Opfer auch nicht zu sehr aus den Augen lassen.
Mit einem Schulterzucken dachte er sich: "OK, dann mach ich's halt wie immer. Reiß’ ich ihm den Kopf von den Schultern."
Zweifelsohne war er mit seinen starken Armen dazu in der Lage. Es wäre auch nicht das erste Mal gewesen, dass er jemanden enthauptet. Nur bevorzugte er diese Art des Tötens nicht. Es gab wesentlich elegantere Lösungen für dieses Problem.
Aber jetzt hatte er keine Wahl. Er beugte sich über seinen Feind, um nach ihn zu greifen und ihn noch mal hochzuziehen. Er wollte das dieses mickrige Insekt ihn noch einmal ansah, wollte seine Macht voll auskosten, bevor er ihm das Leben nahm. Aber der Soldat wurde überrascht.
Innerlich hatte die Rothaut mit seinem Leben schon abgeschlossen. Keuchend lag er auf dem lehmigen Boden. Die Schmerzen pochten noch immer in seinen Knochen, schienen nie wieder aufhören zu wollen. Er vergrub seine Hände in der Erde, als er doch noch mal ein Fünkchen Energie in sich verspürte. So leicht wollte er nicht aufgeben. Doch was sollte er tun? Welche Chance hatte er gegen diesen ausgebildeten Kämpfer?
Da wurde ihm bewusst, was er zwischen seinen Finger spürte. Er griff zu, öffnete seine Augen, fokussierte seinen Gegner und schmiss ihm eine Hand voll Sand ins Gesicht. Schnell rappelte er sich ein Stück auf, nutzte die Irritation des Dunklen Soldaten, und brachte diesen nun seinerseits mit einem Beinwischer zu Boden. Direkt stürzte er sich auf ihn. Er wusste genau, dass er nur eine Chance haben würde, wenn er ihn schnell zu packen kriegen würde.
Er setze sich auf dessen Unterleib und verpasste ihm harte Schläge ins Gesicht. Immer wieder und wieder trafen seine Fäuste, er wurde getrieben von unbändiger Wut, verfiel in einen regelrechten Blutrausch.
Der alte Krieger wusste gar nicht wie ihm geschah. Es war als ob ein Tornado ihn von den Beinen geholt hätte und nun unnachgiebig über ihm tobte. Er war in ernsthafter Gefahr, versuchte sich mit Händen und Füssen seines Widersachers zu erwehren. Doch dessen Schwall der Aggression prasselte so unnachgiebig über ihn herein, dass er überhaupt keine Möglichkeit fand diesen zu unterbrechen. Er spürte wie ihm Blut langsam aus der Nase und den aufgesprungenen Lippen quoll. Seine Verzweiflung wuchs immer mehr.
Doch plötzlich bekam er einen Arm durch die Deckung seines Feindes und packte blitzschnell zu. Er bekam den Hals des Roten zu fassen und drückte zu, versuchte ihm die Luft abzuquetschen, um ihn so zu stoppen.
Er hatte Erfolg. Die Schläge die auf ihn nieder gingen, verlangsamten sich merklich. Er nutzte die Gelegenheit und griff auch mit seiner zweiten Hand zu. Das Blatt wendete sich wieder. Er spürte wie er wieder die Kontrolle über den Kampf zurückgewann.
Mit seinen Beinen wand er sich um die Taille seines Feindes, und riss diesen mit einem Ruck zur Seite. Jetzt hatte er wieder die Oberhand, hatte die überlegene Position. Es war nun eine ganz klare Angelegenheit. Er würde einfach so lange mit aller Gewalt zudrücken, bis dieser verdammte Kerl einfach aufhören würde zu zucken. Er lächelte. Er war sich vollkommen sicher, er würde diesen Tag überleben.
Dann hörte er ein tiefes Grollen. Er sah hoch von seinem Opfer und sein Lächeln versiegte.
"Scheiße. Das war es jetzt aber wirklich. Wenigstens hast du nicht gleich aufgeben."
Jetzt war der Rote sich vollkommen sicher, er würde diesen Tag nicht überleben.
Doch plötzlich ließ der Druck nach, bekam er wieder Luft. Sein Gegner sah merkwürdigerweise über ihn hinweg. Anstatt noch mal einen Gegenangriff zu wagen, sah auch er zur Seite. Aber er konnte nichts genaues erkennen. Sein Blick war von Blut, Schweiß und Erschöpfung getrübt. Aber dann konnte er es mit einem anderen Sinn wahrnehmen. Dieses Geräusch hörte sich wie der Untergang der Welt an.
Jonas hörte jemanden kommen. Er blickte hoch, und sah seinen Onkel auf ihn zu kommen. Jonas wusste genau, seinem Onkel würde es nicht gefallen, was er hier tat. Schnell wischte er mit seiner Hand über den Boden und begann, das kleine Loch wieder mit Erde zuzuschütten, obwohl er es erst vor kurzem mit viel Sorgfalt gegraben hatte. Er beeilte sich. Sein Onkel war fast da.
"Jonas, was machst du hier? Es gibt gleich Essen. Ich suche dich schon eine ganze Weile."
Der kleine Junge sagte erst mal nichts. Im Boden war noch eine kleine Mulde zu erkennen. Vielleicht würde es niemand bemerken.
Sein Onkel sah ihn an. "Deine Hände sind ja ganz schmutzig. Komm, wir müssen los. Du musst sie dir noch waschen. Mama wartet schon."
Jonas stand auf, um mit seinem Onkel zurück nach Hause zu gehen. Doch sein Onkel war ein aufmerksamer Mann, und er erkannte, was hier vor sich ging.
"Jonas...", sagte er langgezogen. "Willst Du mir nicht doch sagen, was du hier gemacht hast?"
Der Junge schaute verlegen zu Boden.
"Ich glaube, du hast sie wieder gegeneinander kämpfen lassen. Habe ich recht?", fragte sein Onkel.
Jonas nickte nur ganz leicht. Er wollte seinen Onkel nicht ansehen. Schon einmal hatte er ihn erwischt und ihm gesagt, es wäre nicht richtig.
"Komm, setz dich.", sagte sein Onkel, und Jonas war klar, jetzt würde er sich wieder eine Standpauke anhören müssen. Aber es würde nicht so schlimm werden. Sein Onkel war ihm bisher niemals richtig böse gewesen, und angeschrien hatte er ihn auch noch nie. Eigentlich, dachte Jonas, ist er ganz in Ordnung. Manchmal redet er nur ein bisschen zuviel.
Sein Onkel räusperte sich kurz. Er lächelte Jonas freundlich an und fragte: "Und? Wer hat denn gewonnen?"
Jonas musste auch kurz grinsen. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. "Kann ich nicht sagen.", antwortete er. "Als du kamst, hab' ich schnell das Loch weggemacht."
"Dann wurde der Kampf wohl wegen höherer Gewalt abgebrochen."
Jonas war nicht ganz klar, wie sein Onkel das meinte. "Meinst du Unentschieden?", fragte er.
Sein Onkel lächelte wieder. "Ja, so kann man, das sicher auch sagen." Nach einer kurzen Pause fragte er: "Sag mal, was ist eigentlich so toll daran, zwei Ameisen in ein Loch zu stecken und ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig umbringen?"
Jonas zuckte mit den Achseln. "Weiß' nicht. Es ist lustig. Es ist cool, wie sie kämpfen."
"Hmm..." Diesen nachdenklichen Ton gab sein Onkel häufig von sich, bevor er etwas wichtiges feststellte. "Und glaubst Du, die Ameisen finden das auch lustig und cool?"
"Aber das sind doch nur Ameisen!", protestierte Jonas.
"Und?"
Jonas stockte ein wenig. "Niemand... Niemanden interessiert was mit ihnen passiert... Niemand wird zwei dämliche Ameisen vermissen!"
"Ist das so?", fragte sein Onkel. "Du meinst, sie sind so klein und unbedeutend für die Welt? Schließlich gibt es ja vermutlich Milliarden von ihnen, da kommt es auf zwei weniger nicht an."
"Genau!", stimmte Jonas gleich eifrig zu.
"Nun, Jonas, dann denke mal über folgendes nach, bevor du sie wieder gegeneinander kämpfen lässt: Was wäre wenn Du eine kleine Ameise wärst? Oder was wäre, wenn es jemanden gäbe, der viel, viel größer ist, als wir beide. Jemand, den wir nicht sehen können. Denn glaube mir, du bist auch viel zu groß für die Ameisen, als das sie dich sehen könnten. Stell Dir vor, es gäbe so jemanden, den wir gar nicht richtig wahrnehmen können. Und eines Tages kommt dieser jemand auf die Idee, ein bisschen Gott zu spielen, und uns beide in eine kleine Arena zu stecken, in der wir gegeneinander kämpfen müssen. Fändest Du das dann auch lustig und cool?"
Jonas musste lachen. Manchmal sagte sein Onkel, wirklich merkwürdige Sachen. "Aber, Onkel, das ist doch gar nicht möglich!"
"Ja, da hast du natürlich recht. Und natürlich würde ich auch niemals gegen dich kämpfen". Sein Onkel lächelte jetzt auch schon wieder. "Komm, lass und jetzt nach Hause gehen. Wir sind spät dran."
Sie standen beide auf und machten sich auf den Heimweg. Jonas dachte dabei über die Worte seines Onkels nach und er fand, irgendwie stimmte es ja, wahrscheinlich fanden das die Ameisen wirklich nicht so toll, was er mit ihnen veranstaltete. Er beschloss, es in Zukunft einfach sein zu lassen.
Doch der kleine Jonas konnte diesen überaus vernünftigen Entschluss seinem Onkel nicht mehr mitteilen. Denn die beiden hatten zwei Minuten nachdem sie losgegangen waren, unglaublich viel Pech. Viel mehr Pech, kann man eigentlich gar nicht haben, denn sie starben beide.
Auf der Erde gab es ein riesiges Erdbeben, bei dem sie ums Leben kamen. Es war mehr als nur ein Beben. Die ganze Erde schien sich ganz schnell um sich selbst zu drehen und wie ein guter Cocktail durchgeschüttelt zu werden.
Nicht nur die zwei würden nie wieder miteinander reden. Auch Millionen anderer hatten unglücklicherweise nicht mehr die Möglichkeit dazu. Und das war wirklich schade, denn die Menschen sind in der Galaxis als Rasse bekannt die man geradezu als penetrant kommunikationsfreudig einstufen konnte. Aber es waren ja noch genug von ihnen übrig, und sicherlich würden sie genug Sachen finden, über die sie reden konnten, z.B. Wie schlafe am bequemsten im Freien?, Wo bekommt man günstig etwas zu essen, wenn der Supermarkt um die Ecke nicht mehr steht? oder Wie baut man am besten eine neue Zivilisation auf?
Und irgendwo anders, in einer Dimension, deren Existenz für die Menschen für immer verborgen sein wird, auf einem Planeten mit dem merkwürdigen Namen Oldush, schrie ein verärgerter, vor Wut rot angelaufener Vater seinem Sohn hinterher: "Firbarion, du Mistkerl! Du sollst nicht mit Papis schöner, blauer Murmel spielen!!"