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Mikesch - Long John Silver (3)
Im Geiste hab ich ihn Long John Silver getauft – nach dem einbeinigen Schiffskoch aus der Schatzinsel. Er kommt jeden Morgen als Erster ans Vogelhäuschen, vertreibt die anderen Amseln und die Tauben, wenn sie auch etwas von den Haferflocken und Rosinen abhaben wollen. Egoistisch verteidigt er sein Essen, selbst wenn er längst satt ist. Ein bisschen kümmerlich schaut er aus, wenn er auf seinem Beinchen im Schnee herumhopst, aber nicht einmal die Tauben wagen sich an die Futterstelle heran.
Auf der anderen Seite der Glastüre liegt Mikesch auf der Lauer. Platt wie eine Flunder und mit sichelschmalen Augen beobachtet er den schwarzen Vogel. Nur sein rot gekringelter Schwanz zuckt nervös.
Wenn er doch nur einmal durch die Türe flitzen könnte, er würde dem Federvieh schon zeigen, wer in diesem Garten das Sagen hat!
Manchmal ist es anstrengend, eine Wohnung im Erdgeschoß zu haben – ich weiß, wie sehr ich aufpassen muss, wenn ich in der Früh das Vogelfutter auslege. Meistens werde ich dabei misstrauisch beobachtet – gleichermaßen von Long John, der im Gipfel des Apfelbaumes schon auf sein Frühstück wartet, und von Mikesch, der erfolglos versucht, seinen dicken Kopf durch den Türspalt zu schieben, um aus der Wohnung zu stürmen. Im Sommer stand die Glastür immer offen. Damals genügte es Mikesch, in den Glockenblumen zu liegen, sich von der Sonne anscheinen zu lassen und zu dösen. Aber jetzt, im Winter, sticht ihn der Hafer.
Wenn ich dann zurück ins Warme komme und ihm seine Dose aufmache, gibt er nach einigen Minuten den Beobachtungsposten auf. Dem Duft von Kaninchen in Gelee oder Lachs & Thunfisch kann er nicht lange widerstehen. Er ist in diesen kalten Monaten ganz schön rund geworden, das ist nicht alles Winterfell, mein Lieber!
Als ich noch über Katzendiät nachdenke, schießt ein rotweißer Pfeil an mir vorbei, platt und mit angelegten Ohren. Krallt sich den Stamm empor, immer höher, die Amsel als ultimatives Ziel. „Mikesch!“ Meinen Ruf ignoriert er natürlich. Wie kann ich auch hoffen, dass er in so einer Situation auf mich hören würde? Er kann verschmust sein wie kein Zweiter, wenn er abends mit mir fernsieht oder in mein Bett will – aber er ist mindestens genau so stur. John Silver, der Einbeinige, sitzt immer noch auf dem höchsten Ast, schaut aber meinem Kater höflich interessiert bei seiner Kletterpartie zu. Ich hoffe, er überschätzt sich nicht, denn Mikesch ist keine Taube, die vor seinem Gezeter flieht.
Mein Roter hat sich das wohl einfacher vorgestellt: Jetzt balanciert er unsicher auf einem dünnen Zweig, der sich unter seinem Gewicht deutlich biegt. Ziemlich verwirrt schaut er nach oben, wo die Amsel immer noch in der Krone sitzt, und dann nach unten, wo ich nach ihm rufe. Schließlich verzieht er sein Gesicht und miaut kläglich. Es ist ein Wunder, wie dünn und hoch seine Stimme ist – während sein Körper zu dem eines starken Katers herangewachsen ist, klingt sein Maunzen immer noch nach dem kleinen Kätzchen, das ich in der Abfalltonne gefunden habe.
Von der Entschlossenheit, mit der er täglich hinter der Scheibe gelauert hat und mit der er den Stamm hinaufgerast ist, ist nicht mehr viel übrig. Vorsichtig locke ich Mikesch, verspreche ihm seine Lieblingsdose, wenn er nur da runter kommt – Lamm & Rind mit Soße (igitt) – aber er kann sich nicht entscheiden. Wenn ihm die Flucht aus der Wohnung schon einmal gelungen ist, kann er doch nicht einfach so aufgeben – der Gedanke ist ihm deutlich anzusehen.
Während Mikesch also da oben langsam recht nachdenklich herumschwankt, geht Long Johns Geduld dem Ende zu. Auf jeden Fall fängt er plötzlich an mit den Flügeln zu schlagen, hüpft in der Baumkrone herum und zetert, als würde ihm gerade eine Taube sämtliche Rosinen klauen.
Ich habe meinen Kater noch nie so schnell flitzen sehen! Vor Schreck klettert er rückwärts die Äste hinunter, springt die letzten zwei Meter, rennt wie von der Tarantel gestochen ins Haus zurück. Ich laufe hinterher – nicht dass ihm gleich wieder eine Dummheit einfällt …
Aber das ist unnötig. Als ich nachkomme, sitzt er auf seiner Fellburg in der Zimmerecke beim Sofa und putzt sich mit Hingabe den Schnee vom linken Hinterbein. Er schaut kurz auf, dehnt und streckt sich, als ob er eben erst aus dem Schlaf aufgewacht wäre, springt auf den Boden und kommt zu mir. Mit freudig zitterndem Schwanz streift er um meine Jeans und maunzt mich fordernd an. So, als hätte es Long John Silver, den Einbeinigen, nie gegeben. Als wäre nichts gewesen. Und er hätte jetzt gerne seine Frühstücksdose, bitteschön. Aber mit Lamm & Rind, wie versprochen ...