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Mikesch - Der Mantel meiner Tante (2)
Der Mantel meiner Tante Martha lag, in eine durchsichtige Plastikhülle verpackt, auf dem Sofa. Martha war vor einigen Tagen gestorben, nach zweiundachtzig Jahren war sie eines Morgens einfach nicht mehr aufgewacht.
Ihren Mantel, fast ungetragen, hatte sie, neben ein paar anderen Kleinigkeiten und einer alten Spieldose mir vererbt.
Ich konnte mich daran erinnern, wie ich als kleines Mädchen mit dieser Spieldose Stunde um Stunde spielen konnte, die Melodie „Für Elise“, ganze Nachmittage lang. Abgegriffen war das stumpfe Gehäuse und von Rissen durchzogen. Ich klappte den Deckel vorsichtig zurück, um die vertrauten Klänge zu hören.
Die Erinnerung an Tante Martha kam mit der Melodie. Die Lieder, die sie mir vorgesungen hatte. Die langen Spaziergänge. Der Geruch ihrer kleinen Wohnung und nach heißem Kakao. Das schmale Gesicht mit dem Lächeln, ihre Fröhlichkeit. Ihre lustigen grünen Augen.
Unser letztes Gespräch kam mir in den Sinn, vor ein paar Monaten. Ich hatte ihr von Mikesch erzählt, dem kleinen rot-weißen Kater, den ich an einem kalten Herbstabend in einer Mülltonne gefunden hatte, und der mittlerweile meine komplette Wohnung auf den Kopf gestellt hat. Sie hatte so lachen müssen, als ich ihr erzählt hatte, wie Mikesch zu Weihnachten auf den Christbaum geklettert ist und alle Stohsterne angenagt hat.
Sachte klappte ich den Deckel wieder zu. Mein Blick fiel auf den Mantel. Nerz. Das ganze Zimmer roch nach Mottenkugeln. Und nach Tod. Wie viele Tiere hatten für dieses Stück ihr Leben lassen müssen? Glänzend, wie neu lag er auf dem Sofa, ich scheute mich, ihn anzufassen. Dennoch zog ich die Plastikhülle herunter. Brauner, zarter Glanz.
Unentschlossen betrachtete ich den Pelz.
Ein klägliches Miauen unterbrach meine Gedanken. Ich öffnete Mikesch die Türe und er strich mir um die Beine, fing an zu schnurren, als ich ihn auf den Arm nahm. Er war schwer geworden, ein großer, stolzer Kater, mit der dünnen Stimme eines Kätzchens. Ich gab ihm frisches Futter und zog mir dann die Jacke an.
Ich wollte einen Spaziergang machen, um an der frischen Luft über diesen Mantel nachzudenken.
Als ich aus der Wohnungstüre trat, empfing mich ein eisiger Wind. Ich zog den Kragen meiner Jacke enger zusammen, bereute es schon, dass ich keine Mütze aufgesetzt hatte. Ich lief los in Richtung Park, wollte zu dem kleinen Teich, in dem im Sommer die Enten schwammen. Jetzt würden die alten Trauerweiden von Raureif überzogen sein, das Wasser zugefroren.
Der Pelzmantel ... Was sollte ich mit diesem Mantel nur anfangen? Irgendwie schreckte ich vor der Berührung zurück, ich würde ihn nie tragen wollen. Schuldgefühle? Ich hatte ihn geerbt, nicht gekauft. Diese Tiere waren bereits tot, nichts würde daran mehr etwas ändern ... Dennoch ... ein Mantel aus Tod.
Kurz kam mir der Gedanke, dass ich ihn auch in die Kleidersammlung geben könnte, viele Menschen könnten einen warmen Mantel gut gebrauchen und würden sich wahrscheinlich über dieses Kleidungsstück sehr freuen. Diese Idee verwarf ich jedoch schnell wieder, ich wollte den Mantel meiner Tante nicht irgendjemandem in die Hände geben, der sie nicht einmal gekannt hatte.
Mittlerweile war ich bei dem Teich angekommen. Was sollte ich nur machen? Den Pelz in die hinterste Ecke meines Schrankes hängen, mit Mottenkugeln versorgen und verstauben lassen? Tragen wollte ich ihn nicht.
Lange stand ich auf dem groben Kies, der den Teich umsäumte, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben. Als der Wind stärker wurde, an meinen Haaren riss, als die Sonne langsam tiefer sank und die Schatten der Weiden länger wurden, kehrte ich schließlich um.
Ich sperrte die Wohnung auf, rief nach meinem Kater. Normalerweise kam er immer, sobald er mich am Flur hörte, um mich zu begrüßen. Wo war er diesmal? Ich zog Schuhe und Jacke aus, betrat das Wohnzimmer.
Mikesch blickte mich mit goldenen Augen an. Er lag mitten auf dem Mantel.
Mittlerweile habe ich mich schon daran gewöhnt, dass in einer Ecke meines Wohnzimmers ein brauner Berg liegt, der bis vor kurzer Zeit noch ein Mantel war. Jetzt ist es der Lieblingsplatz meines Katers, der sich in dem Pelz versteckt. Ein herrlicher Schlafplatz für jede Katze, weich, warm und kuschelig.
Meine Mutter hat mich vor einigen Tagen besucht – sie war entsetzt. Wie pietätlos! Das Erbe von Tante Martha!
Mikesch und ich haben uns nur angesehen, ich musste lächeln.
Jetzt liegt er zufrieden irgendwo in diesem Berg aus Pelz, nur ein zartes weißes Ohr kann man erkennen. Aber er schnurrt.
„Für Elise“ klingt aus der alten Spieldose.
Wir denken an Tante Martha.