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Mihaly’s Hund
Er hat schöne Augen. Bernsteinaugen mit kummervoll schräg gestellten Brauen. Die verleihen seinem Gesicht einen traurig-pessimistischen Ausdruck.
Aber er schaut mich nicht an! Vielleicht würde ich dann in seinen Augen lesen, dass er seine ganze Hoffnung auf mich setzt, ihn aus diesem Loch zu befreien.
Diesen Wunsch kann ich nicht erfüllen, so gern ich es auch täte. Er ist Mihalys Hund.
In diesem lächerlich kleinen Verschlag wird er sein ganzes Leben verbringen müssen. Ein Hundeleben. Schon beim bloßen Hinschauen steigen in mir Wut und Empörung auf.
Ich möchte es ein wenig lindern. Bei meinen seltenen Besuchen stecke ich ihm etwas zu - einen Blutwurstzipfel, einen Entenhals, ein Stück Kälbermagen. Wenn ich ihm wenigstens ein paar erträgliche Minuten schenken kann, ist mir das viel wert.
Mihaly sieht das nicht gern.
„Tamás“, sagt er, „du verwöhnst ihn unnötig. Ich geb ihm schon genug.“
Aber ich darf den Wassernapf auffüllen.
Das geht problemlos mit der Gießkanne durch die Bretterwand.
Das allgegenwärtige Geräusch meiner Kindheit war Hundegebell. Wie ein Dauerton lag es – und liegt es noch heute - über dem Land, durchs ganze Jahr, nah und fern, anschwellend und abklingend.
Nicht nur vor stattlichen Bauernhäusern, auch vor der wackeligsten Kate wacht ein Hund. Oft hat diese arme Kreatur keinen geschützten Platz; ein viel zu kurzer Strick lässt die blutenden Wunden am Hals nicht heilen. Stechende Sonne oder eiskalter Regen peinigen und quälen. Das Fell ist verwahrlost und verfilzt. Ich darf nicht hinsehen. Brennend gern möchte ich diese Torturen beenden. Aber wie?
Selbstverständlich gibt es ein Tierheim; ich kenne die dortigen Zustände. Man sollte einen Hund nicht vom Regen in die Traufe schicken. Es ist zum Verrücktwerden.
Die Leute sind nicht ansprechbar bei diesem Thema.
Sie winken ab – was weiß denn der? Ein Hund gehört zum Haus und damit basta.
Er ist ein schöner Kerl. Ein Riesenviech – ein Kaukase. Kinder könnten auf ihm reiten.
Csibész heißt er, Strolch, Herumtreiber. Der würde gern seinem Namen alle Ehre machen, doch er sitzt so gottverlassen in seinem Pferch, dass ich rund um die Uhr weinen könnte.
Was habe ich denen schon alles gesagt! Alle Register der Redekunst habe ich gezogen – vergebens. Sie behaupten, dass der Hund alle Blumenrabatten kaputtmache, dass er alles ruiniere. Nichts sei vor ihm sicher. Deshalb sperren sie ihn ein.
Ich sage darauf: „Macht doch einen Zaun um die Blumen! Die stört das nicht. Das wäre hundertmal besser, als einen Zaun um den Hund zu machen.“
Da schauen sie mich verständnislos an, bleiben aber freundlich. Ich weiß, dass sie mich für schwierig halten, besonders wegen meiner Ansichten zur Hundehaltung.
Mihaly wohnt eine Stunde entfernt von unserem gemeinsamen Heimatdorf. Überstürzt ist er damals aufgebrochen, weißglühend in Liebe, wirr im Kopf, unansprechbar. Hat das Ingenieursstudium geschmissen, wurde Pusztabauer und wäre auch Friseur geworden, wenn Erzsebets Eltern einen Frisiersalon gehabt hätten. Das ist ihm erspart geblieben, jetzt hat er zweihundert Hektar und zweihundert Schweine.
Ich fand seinen rabiaten Entschluss sehr verwegen, mich hätten keine zehn Pferde in die Puszta ziehen können. Aber Erzsebet war eine Schönheit - bevor sie kochte wie ihre Mutter.
Ob er’s je bereut hat? Jedenfalls sieht sein Ungarn anders aus als meins.
Mein Land sind die grünen Hügel – ein altmodischer Fleckerlteppich aus Obstgärten, Feldern, Waldstücken und Weinbergen. Viel Grün, viel Schatten. Meist weht ein frisches Lüftchen. Ein Grund für Mihaly, mich hin und wieder zu besuchen. Zu Tamás fährt er - in die ‚Sommerfrische’, wie er sagt.
Ein anderer Grund sind unsere Jugendjahre. Unzertrennlich waren wir. Ist lange her.
Deshalb haben wir uns auch so vieles zu erzählen. Schon beim Aussteigen fragt er:
„Und was macht der Wein?“ Den vermisst er in seiner neuen Heimat. Er wird wieder einige Kartons mitnehmen.
„Keine Ahnung“, entgegne ich. „Aber das lässt sich herausfinden.“
Mit einem beseligenden Gefühl steigen wir runter ins Allerheiligste. Fast verschwörerisch zünden wir einige Funzeln an; das elektrische Licht brennt nur beim Weinverkauf.
Diese Uraltgewölbe haben etwas beinahe Sakrales. Sie sind ein Ort, an dem Wunder geschehen. Hier reift der Wein. Und der Mensch.
Mein Rasenmäher bockt; ich muss zu Mihaly, meinem Ingenieur. Auf dem Rückweg nehme ich jeweils seine Steuererklärung mit.
Ich fahre los und bin immer wieder überrascht, wie sehr sich beim Verlassen der grünen Hügel das Bild ändert. Eben noch genieße ich die beschwingte Fahrt durch die langgezogenen Kurven der alten Alleen – und plötzlich führen die Straßen fast übergangslos wie mit dem Lineal gezogen von A nach B, sachlich und uncharmant. Das wirkt stets befremdlich auf mich, so nüchtern, ganz ohne Poesie, nur Parzellen und Nutzflächen.
Alföld – das ist Mihalys Land, das Tiefland. Getreide, Sonnenblumen und Mais auf endlosen Feldern. Und Schweine in langgestreckten Baracken, neben den Futtersilos.
Die Fahrt ist monoton, meine Gedanken beschäftigen sich mit diesem merkwürdigen offenen Land. Immer wieder überkommt mich ein sonderbares Gefühl; ich kann es nicht so recht erklären, doch es hat zu tun mit Ausgeliefertsein, fast mit Brutalität. Ich sehe keine Rückzugsmöglichkeiten, nichts Schützendes.
Als ich ankomme, sitzen schon ein paar Herrschaften unterm Birnbaum und lassen es sich gut gehen.
„Tamás, setz dich zu uns! Wenn’s für sechs reicht, reicht’s auch für den siebten. Probier mal!“ Schon hab ich ein Wasserglas Palinka in der Hand.
Sie reden übers Geld, wie viel die Leute in Österreich und Deutschland verdienen und über ihre unzufriedenen Frauen. Eine von ihnen, Mihalys Erzsebet, bringt neues Bier und stellt Pogatscherln auf den Tisch.
Die sind gut! Sie mischt zerstampfte Kartoffeln und Quark unter den Teig, auf jedes Pogatscherl gibt sie etwas Kümmel, grobes Salz, Käsespäne und Speckgrieben. Ich bediene mich ohne Umschweife. Höchste Zeit, etwas zu essen! Gerade erfahre ich, dass unser Schnaps satte fünfzig Prozent hat. Kein Wunder, dass er mir zu Kopf steigt.
Aber es ist vor allem das hirnlose Gequatsche, das mich nervt. Da macht es mehr Sinn, Mihalys Hund ein paar nette Worte zu sagen. Sein Verschlag befindet sich zwischen Haus und Scheune.
Ich muss achtgeben – ich laufe Slalom, obwohl der Weg geradeaus führt.
Jetzt stehe ich vor Csibész, nur die Bretter trennen uns. „Na, wie geht’s, alter Freund?“
Eine Sekunde schaut er mich an, dann wandert sein Blick weiter.
Csibész leidet.
In seiner Verzweiflung hat er handtiefe Kerben in die Wand gekratzt. Ihm fehlt Bewegung. Ich bin aufgewühlt. Ich muss etwas für ihn tun.
Wie in Trance öffne ich den Verschlag und bin bedacht, ihn um Gottes Willen nicht herauszulassen. Also schlüpfe ich hinein: „Komm, wir zwei schmusen ein biss ...“
Seine Augen werden weiß, wie Murmeln aus Glas. Ein starker Föhn richtet sein Fell auf. Wie der Teufel knurrt er und zieht die Oberlippe zurück. Mir erscheinen seine gebleckten Zähne wie ein Haigebiss mit fünf Zahnreihen. Au verdammt! Der schnappt nach mir! Ich muss hier ganz schnell wieder raus! Doch er drückt mich gegen die Brettertür und attackiert mich. Seine Zähne dringen in meinen Unterarm. Ich schreie vor Schmerzen. Der Alkohol gibt mir Kraft und ich versuche, ihm den Hals zuzudrücken, aber er hat einen Nacken wie ein Stier. Er beißt mir in die Hände, ich blute wie ein Schwein. Dann geht er runter an die Beine. Ich trete nach ihm, reiße eine ausgediente Sense aus der Halterung und will mich damit verteidigen, ihn irgendwie davon abbringen, mich weiter anzugreifen. Der Stiel verfängt sich in einem Mauerloch. Ich reiße an ihm und er bricht. Jetzt habe ich einen malaiischen Krummdolch in der Hand. Das Metall funkelt, Csibész greift wieder an. Er springt aus dem Stand, ist in der Luft, im Sprung. Abwehrend halte ich den scharfen Stahl vor mich und er springt direkt hinein. Das Sensenblatt fährt in seinen Leib und eine Fontäne schwarzroten Blutes schießt heraus.
Er sackt zusammen. Roter Schaum quillt aus seinem Maul. Ich lehne mich keuchend gegen die Wand.
Csibész starrt mich an - nie hätte ich gewollt, dass er mich einmal so anschaut. Sein Zucken ist der Abschied von der Welt.
Unser Blut stinkt, ich muss mich übergeben. Ich erbreche Schnaps und Pogatscherln; Rotz vermischt sich mit Blut und Tränen.
Sie schleifen mich aus dem Verhau auf die Wiese. Erzsebet wäscht mich, vermeidet mich anzusehen. Vor Scham stelle ich mich ohnmächtig.
Mihaly bringt Verbandszeug und sagt: „Wir kennen uns so lange, doch manchmal werd’ ich nicht schlau aus ihm. Einmal ist er der große Tierfreund – und jetzt bringt er meinen Hund um.“