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- 02.01.2011
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Michails Deal
1
Als mir Angelika das erste Mal begegnete, hatte ich das Gefühl, aufzuwachen.
Sie stand im Lidl am Kühlregal, mit dem Kleinen auf dem Arm – und gerade, als ich an ihr vorbeilief, sind ihr die kompletten Einkäufe aus der Hand gefallen.
»Podaschditye – warte«, sagte ich, dann zog ich mir die Kopfhörer runter und bückte mich. »Ich mach’ das.«
»Danke«, sagte sie, steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte. Der Kleine fing zu heulen an, sie schaukelte ihn. Ich sammelte Käse und Joghurt vom Boden auf, und als ich wieder aufgestanden war, fragte ich: »Ist das deiner?«, und nickte auf das Kind.
»Nee«, lachte sie, schaukelte den Kleinen und lächelte mich weiter an, »ich pass’ bloß auf den auf.«
So habe ich Angelika kennengelernt – das war eine Woche bevor diese Sache passiert ist: Eine Woche bevor ich nach Hause gekommen bin, meine Mutter schreiend auf dem Fußboden gekniet war und mein Vater sie angefleht, angebrüllt, geohrfeigt hat, dass sie doch endlich damit aufhört; das war eine Woche, bevor ich all das Blut gesehen habe – Blut an der Wand, Blut auf dem Teppichboden, Blut an der Haustüre.
So habe ich Angelika kennengelernt.
Ich lege den Zeigefinger auf meine Lippen, sage zu Angelika: »Warte«, dann höre ich, dass auch mein Vater drüben im Wohnzimmer den Fernseher auf stumm schaltet.
Seitdem ich denken kann, will ich weg von hier. Flüchten. Ich kenne niemanden aus meiner Stadt, der nicht genauso denkt; klar, da gibt es diese kurzen Augenblicke, in denen man sich zurücklehnt und: »Zuhause« und: »Ist doch alles gut« denkt, aber all diese Momente werden früher oder später von einer tiefen, brennenden Sehnsucht überschattet; einer Sehnsucht nach etwas anderem, nach einem Ort, der wahrscheinlich gar nicht existiert.
Zehn Minuten später gibt der alte Böhmer auf. Angelika und ich zünden uns eine Kippe an, wir lachen und dann reden wir weiter, wir träumen von fernen Ländern, in die wir gerne abhauen würden.
»Amerika«, sagt Angelika, und zieht an ihrer Zigarette. Die Glut leuchtet auf, verscheucht kurz die Dunkelheit aus meinem Zimmer, und ich sehe ihre spitze Nase, die glänzende Haut.
»Oder nee«, haucht sie, fuchtelt erst mit der Hand herum, dann lacht sie und fährt sich durch die Haare. »Los Angeles. Dann George Clooney über ’n Weg laufen und mit dem durchbrennen oder so.«
Sie lacht noch mal, dreht sich auf die Seite, schiebt ihre Hand zwischen Kissen und Gesicht und tastet mich mit ihren großen, müden, braunen Augen ab.
»Und du?«, fragt sie.
Ich picke mir die Zigarette aus ihrer Hand, drehe mich auf den Rücken und nehme ein paar Züge. Schließlich zucke ich mit den Schultern.
»Kanada«, sage ich.
Angelika runzelt die Stirn.
»Kanada?«, fragt sie in einem schrillen Ton, »was willst ’n du in Kanada?«
»Weiß auch nicht«, sage ich, und rauche weiter, aber als ich merke, dass der Filter heiß wird, fingere ich den Aschenbecher vom Fenstersims und drücke die Kippe aus. »Ruhe wahrscheinlich.«
»Ha ha, genau«, lacht Angelika, piekst mir in die Seite und stößt ihr Knie unter der Bettdecke gegen mein Schienbein. »Mein großer Maler will einfach mal seine Ruhe vor mir haben oder was?«
»Na endlich hast du’s gecheckt«, sage ich, grinse, und wir lachen beide.
»Ublyudok – Fiesling«, zischt Angelika, dann rutscht sie rüber zu mir und beißt mir in die Schulter.
Wir liegen einige Zeit so da; ich spüre ihren warmen Körper neben mir, rieche diesen Geruch, der nur von ihr ausgeht, wenn wir miteinander geschlafen haben. Angelika streicht mir mit den Fingerspitzen über die Brust.
»Du bist so anders als er«, sagt sie schließlich, »weißt du, mit dir kann ich lachen und so, und Michail ... Michail ist immer so ernst. Redet die ganze Zeit von diesem scheiß Haus und der scheiß Kohle dafür, hat sich das richtig in den Kopf gesetzt. Keine Ahnung, warum, aber der will das total, das scheiß Haus in irgend ’nem scheiß Kaff, mit Garten und Kühen und so um die Ecke. Was weiß ich, was der da will.«
Sie legt sich mit der Backe auf meinen Bauch, ich streiche ihr durch die Haare.
»Kanada«, flüstere ich in die Dunkelheit meines Zimmers. Angelika hebt ihren Kopf und sieht mich mit zugekniffenen Augen an.
»Was?«
»Als wir noch klein waren«, fange ich an, »da hab’ ich meinen Bruder manchmal mit rüber zu Logan genommen. Deutsches Fernsehen und so, der war da immer ganz scharf drauf. Und da gab’s diese eine Doku, da ging’s um diesen einen Typen, der nach Kanada geht, so total in die Natur halt. Und der wohnt dann in so ’ner Holzhütte, paar Wochen, und plötzlich kann er nicht mehr schlafen. Einfach so. Und irgendwann kommt er drauf, dass es ihm einfach zu still ist. Dass er nicht schlafen kann, weil er nachts keine Autos und keine Züge und keine Menschenstimmen mehr hört. Deswegen kann er nicht mehr schlafen.«
Angelika sieht mich an und schüttelt den Kopf.
»Du spinnst«, sagt sie, dann legt sie sich wieder auf meinen Bauch.
Ich atme tief ein. Fast schäme ich mich, das alles gesagt zu haben – das mit meinem Bruder und das mit der Stille.
Wir schweigen einen Moment, Logan bröselt was vom Hasch über den Tabak, dann grinst er mich blöd an und sagt: »Betoncity, was?«
Er nickt vom Dach runter, auf das graue Wimmelbild vor uns, auf die Straßen, die viereckigen Wohnklötze, die rauchenden Fabrikschlöte. Ich grinse und nicke zurück; Logan spricht Betoncity so aus, als ob er einen Witz reißen würde, als ob das Spaß wäre, aber ich weiß, wie er es meint. Wir sind hier aufgewachsen, im gleichen Hochhaus, fast Tür an Tür: Logans Kinderzimmer lag genau ein Stockwerk unter meinem Kinderzimmer – und ich konnte es immer hören, wenn sein Vater mal wieder mies drauf war und vorne bei Mehmet’s Späti zu viel getankt hatte – zuerst seine tiefe, kratzige Stimme, dann das komische, dumpfe Klatschen, fast wie der Knall eines Peitschenhiebes oder wie man sich als Kind den Schuss einer Pistole vorstellt. Erst, als Logan mal abends, nach diesem Klatschen, vor meiner Tür gestanden war, und ich seine roten, glühenden Wangen sah, da wurde mir bewusst, was hinter diesem Geräusch steckte. Jahre später hat mir Logan erzählt, dass auch er unsere Wohnung hören konnte: Dass er oft meine Mutter hörte, wenn sie mal wieder ihren Blues schob, wenn sie tagelang im Bett lag und wimmerte, heulte.
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche.
»Noch zehn Minuten«, sage ich, »meinste, wir schaffen das?«
»Klar«, sagt Logan, lässt die Zunge über den Klebestreifen des Papers fahren und dreht die Tüte zu. »Der wird auf jeden Fall noch weggeballert, Mann.«
Er steckt sich den Joint in den Mund und tastet seine Taschen ab.
»Scheiß auf den verfickten Kapo«, sagt er, und zündet sich die Tüte an, »in ’n paar Wochen sind wir eh hier weg.«
Logan nimmt ein paar tiefe Züge, zieht sich seine Kapuze zurecht und sieht schließlich mich an. Seine blauen, glasigen Augen weilen einige Zeit auf mir, dann hält er mir den Joint hin und fragt: »Wie geht’s deinem Bruder eigentlich?«
Ich blicke wieder runter auf unsere Stadt, atme tief ein und nehme schließlich den Joint.
»Besser«, sage ich, obwohl ich es eigentlich nicht weiß.
Ich habe ihn zu lange nicht gesehen. Das letzte Mal vor einem halben, dreiviertel Jahr, als ich mit der Bahn dorthin gefahren bin, wo er jetzt lebt. Ich habe ihn besucht, weil ich ihm sagen wollte, dass ich ihm nicht böse bin, dass er den Bullen alles erzählt hat – ich habe ihn besucht, weil ich ihm sagen wollte, dass ich ihm nur böse bin, weil er es überhaupt machen wollte.
Gesagt habe ich dann letztendlich nichts von beidem. Wir saßen einfach nur da, im Garten, lange, hörten den Vögeln zu, sahen uns die Bäume, Gräser, Blumen an, die im Wind wackelten, als winkten sie uns heimlich zu.
Das alles ist lange her, aber ich denke noch jeden Tag daran; ich denke auch daran, wie es vorher, wie es früher gewesen ist. Ich denke daran, dass es irgendwie auch meine Schuld gewesen sein könnte, aber dann denke ich, dass es wahrscheinlich niemands Schuld ist, dass höchstens diese Stadt daran schuld ist, dass sie über die Jahre hinweg in ihn eingesickert ist, sich bis in sein Hirn gefressen hat. Und dann hat er eben diese gottverdammte Pistole bei mir liegen sehen.
Ich liebe meinen kleinen Bruder. Ich liebe ihn so sehr, dass ich mich jeden Tag frage, wie es wohl heute wäre, wäre Logan damals nicht vollkommen aufgebracht vor meiner Haustüre gestanden, und hätte er mir nicht mit diesem glasigen, irren Blick die Knarre in die Hand gedrückt, und gesagt: »Die Bullen ficken mich, Mann, die ficken mich, die nehmen grade meine Bude auseinander, und wenn die das Ding da finden, ficken die mich!«
Klar, hab’ ich ihm versprochen, das Teil ein paar Tage bei mir zu lagern, und, klar, hab’ ich mir nichts dabei gedacht, als ich die Knarre einfach in die oberste Schublade meines Nachttischs gelegt habe.
Wir rauchen auf und dann rasen Logan und ich das Treppenhaus hinunter, wir schreien und lachen, spucken auf die Wände, überall stinkt es nach Pisse. Und dort, im Treppenhaus vom alten, leerstehenden Atrium, zwischen Erdgeschoss und Dach, da kann ich das alles für einen Augenblick vergessen; da kommt mir das alles kurz so vor, als ob es nie wirklich passiert ist. Als ob diese ganze Geschichte mit Logan und Angelika, mit der Knarre und meinem Bruder, als ob das alles etwas ist, das mir irgendjemand mal erzählt hat, und von dem ich dann schlecht geträumt habe.
Der Kapo ist der größte Wichser, den ich je gesehen habe: blaue Latzhose, Meister-Proper-Glatze und glupschige, in den Schädel gedrückte Augen; den ganzen Tag hat er nichts Besseres zu tun, als ständig von der Werkstatt zu uns rüberzukommen und rumzukeifen, dass wir zu lahm wären. Und das acht Stunden am Tag, ohne Radio, ohne Fenster. Von den Wänden bröckelt der Putz ab, der Boden klebt und riecht nach Ammoniak.
Logan sitzt am Tisch gegenüber von mir und starrt auf seine Hände. Er tunkt eines der schwarzen Gummiteile in den Eimer Seifenwasser, dann zieht er das Ding über die Metallstange. Wir bauen irgendwelche Teile für Solaranlagen, zusammen mit Langzeitarbeitslosen und einem anderen Arbeitsstündler, der mit einem Ziegelstein auf einen Bullen losgegangen ist. Die Arbeitslosen reden nicht viel; sie sind vierzig, fünfzig und verdrücken sich so oft es geht aufs Klo, um zu trinken.
Um kurz vor vier passiert es dann. Meine Arme bewegen sich wie von alleine: Gummiteil, Eimer, Metallstange, Gummiteil, Eimer, Metallstange, aber von acht Stunden Wasser und Seife sind meine Hände rot und verschrumpelt und meine Birne ist weich und matschig. Einer der Männer murrt, Logan kriegt das Gummiteil nicht über die Stange gezogen, er schmeißt alles auf den Tisch, schnaubt, sieht mich an und sagt: »So ’ne Scheiße, Mann, das ist so ’ne Scheiße hier, noch einen Tag, dann ist Freitag, dann machen wir ordentlich einen drauf, Mann, das schwör’ ich dir!«
»Mhm«, mache ich, greife nach dem Gummiteil und will es über die Stange ziehen – da blitzt mir plötzlich dieser verdammte Schmerz bis in die Schulter. Ich springe vom Stuhl, fauche: »Fuck!«, und da sehe ich auch schon die klaffende Wunde in meinem Handteller, Blut tropft auf den Tisch.
»Scheiße«, sagt Logan, und dann hört der gesamte Raum auf zu arbeiten, alle blicken mich an.
»Die Scheißwichser von der Werkstatt!«, fluche ich, »können nicht mal richtig abschleifen oder was!«
Der Mann neben Logan nickt und sagt: »Geh mal schnell rüber zum Kapo, sonst sauste uns noch den ganzen Tisch voll.«
Ich versuche mir das Blut von der Hand zu lecken, aber es ist zu viel. Ich schaue in die Runde, niemand sagt was.
Ich brauche eine Ecke, bis ich die Werkstatt gefunden habe. Teile holen und bringen übernehmen sonst immer die Alten, weil sie dann unbemerkt bei den Klos vorbeischauen können.
Das Arbeitsförderungszentrum ist riesig, ich renne die Treppe hoch. Im ersten Stock sitzen alte, russische Mütterchen an Nähmaschinen, die schicken mich wieder runter, in den Hof, da stehen ein paar Typen in meinem Alter mit Schaufeln in der Hand, die lachen erst, schütteln den Kopf und zischen: »Kartoffel!«, aber als ich auf den Boden spucke und: »Nyet, ya russkay – nein, ich bin Russe« sage, drücken sie mir eine Zigarette zwischen die Lippen und meinen, die Metallwerkstatt sei genau auf der anderen Seite des Gebäudes.
In der Werkstatt ist es laut, das Geräusch von Sägen, die sich in Metall fressen, bohrt sich in mein Trommelfell, überall sprühen Funken, es riecht verbrannt. Vierzehn-, fünfzehnjährige Jungs stehen herum, in Blaumännern. Es dauert keine zehn Sekunden, da steht der Kapo vor mir und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
»Haiaiai«, sagt er, dreht sich zu seinen Schützlingen um und hebt die Arme. »Alle mal aufhören! Stopp! Stopp!«
Als alles still ist, blickt er wieder zu mir.
»Wie ist ’n das passiert?«, fragt er und nickt meine Hand an, ich halte sie vor meinem Brustkorb.
»Geschnitten«, sage ich. Er denkt einen Moment lang nach, dann schnalzt er mit der Zunge und ruft: »Michail!«
Michail – als er um die Ecke biegt, zucke ich zusammen. Kurz springen mir all die Bilder vor die Augen: Michail in der Grundschule, in der ersten Reihe, bei jeder Frage den Finger oben, aber keiner dieser Streber, nein, schon damals ein Bulle, vor dem wir alle Respekt hatten – dann denke ich an Angelika, klar, Angelika, fuck, Angelika.
Michail kommt auf mich zu und mir wird mulmig; zwei Sekunden später schiebt sich ein Lächeln zwischen seine gigantische Kiefer, er hebt die Hand, winkt mir zu, und ich atme durch.
»Scheiße«, sagt er, als er vor mir steht, »die Flasche da kenn’ ich doch.«
Er sieht auf meine Hand, dann in mein Gesicht.
»Würde dir ja die Hand geben, ist aber grade weng scheiße oder?«
Er lacht, ich versuche mitzulachen und sage: »Das kannste sagen, Mann.«
»Ich mach’ das«, sagt Michail zum Kapo, dann nickt er mir zu und wir gehen nach hinten, in die Umkleide.
Als ich auf der Bank hocke und Michail den Erste-Hilfe-Kasten auf dem Boden auspackt, kriege ich dieses Bild nicht aus dem Kopf: Angelika unter mir, ihr heißer Atem, ihr nassgeschwitzter Körper. Michail blickt vom Kasten auf und ich weiß nicht warum, aber für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, dass er direkt in meinen Tagtraum hineinsehen kann: Angelika unter mir, Angelika ...
»Ich pack’ dir mal ’nen Verband rum«, sagt Michail, »aber an deiner Stelle würde ich’s heute noch flicken lassen.«
»Klar«, sage ich.
Plötzlich schluckt Michail; er streckt den Kopf nach links, nach rechts, so, als wolle er sichergehen, dass uns niemand hören kann. Dann schiebt er sein Gesicht nah an meines, zu nah, ich beginne zu schwitzen, drücke mich mit dem Rücken gegen den Spint. Michail schaut mir prüfend in die Augen. Er beginnt zu flüstern, diesmal in einem harten, kantigen Russisch: »Also, sag, wieso bist du hier, Mann?«
Ich beiße mir auf die Zunge.
»Mein Bruder«, fange ich an, aber als ich zum nächsten Wort ansetzen will, blickt Michail schon runter auf meine Hand und schüttelt den Kopf.
»Ja«, flüstert er, »ja. Hab’ davon gehört.«
Er sieht wieder hoch zu mir. »War deine oder wie? Mit der er’s machen wollte?«
Ich nicke.
Michail rümpft die Nase, blickt wieder zur Werkstatt und spitzt dabei die Lippen.
»Also keine Drogen-Sache?«
»Nee.«
»Gut.«
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen.
»Wieso: gut?«
»Na ja«, sagt er, und fährt sich dabei über die Wange, »suche gute Leute. Leute, denen man vertrauen kann, weißt du.«
Er schlägt mir gegen die Schulter, ein Lachen platzt aus ihm heraus. »Russen! Du bist doch einer, oder? Oder bist du schon ’ne kleine Kartoffel geworden?«
»Nie im Leben«, sage ich, und lache auch.
»Na siehst du. Gute Kohle für gute Russen«, sagt er, »wir müssen doch zusammenhalten oder?«
»Michail«, sage ich, und schüttle den Kopf, »der verfickte Richter fickt mich, wenn ich jetzt noch was schiebe.«
»Andrej«, sagt er, und tätschelt mir beschwichtigend auf den Oberschenkel, »ihr könnt doch jetzt ’n bisschen Kohle gebrauchen oder? Oder hast du was Besseres?«
»Nein, aber, Scheiße ...«
»Ja, also. Ist nichts Schweres. Meine Cousins sind wieder da, kommen einmal die Woche. Ich brauche bloß jemanden wie dich, weißt schon, nettes Gesicht, wie Kartoffel, aber innen drin«, sagt Michail, und dann klopft er sich gegen die Brust und grinst dabei, »innen drin guter Russe. Also, was sagst du?«
Ich glaube nicht an das Schicksal. Ich glaube nicht daran, dass alles einem großen Plan gehorcht, dass manche Dinge passieren, weil sie eben passieren müssen, weil dadurch dann dies oder das passieren wird.
Aber wieso zum Teufel diese kleine scharfe Kante an der Metallstange? Wieso dieser eine verdammte Augenblick, in dem ich nicht bei der Sache war? Wieso ausgerechnet Michail – Michail? Angelika hat mich gewarnt, als ich ihr erzählt habe, wohin mich das Gericht schickt. Sie hat mich davor gewarnt, dass Michail wegen der Kurzarbeit bloß noch die Nachtschichten in der Fabrik bekommt, und jetzt tagsüber Kids ausbildet, die sonst keine Lehrstelle finden. Angelika hat mich gewarnt, und ich war unvorsichtig.
»Fester!«, schreit Angelika, und unsere heißen, brennenden, verschwitzten Körper reiben aneinander.
»Ja«, sage ich, »kriegst du«, und dann bohrt mir Angelika ihre Fingernägel in die Arschbacken und beißt mir so fest in die Lippe, dass ich sofort Blut schmecke. Ich sehe, denke, höre nichts mehr, habe Scheuklappen auf, stoße immer wieder in sie hinein, bis zum Anschlag, bis es nicht mehr weiter geht: Ich habe das Gefühl, sie gleich in der Mitte zu zerreißen, sie aufzuschlitzen, umzubringen.
»Ja«, schreit sie, »ja! So! Jetzt würg’ mich!«
»Was?«
»Würg’ mich!«
Ich packe sie, bumse sie, ihr Puls pocht in meinen Händen, ihr Kopf wird rot, ihre Adern schwellen an.
Dann kommt es mir, eine halbe Sekunde später zieht sich auch bei Angelika alles zusammen, und es ist, als ob ich mit einer Rakete durch die Decke schießen würde, durch die Wolken breche, die Sonne sehe.
Wir liegen nebeneinander und schnaufen. Schweiß läuft mir das Gesicht herunter, mein Herz rast, ich bekomme kaum Luft.
»Das war’s«, sagt Angelika, fährt sich durch die Haare, schnauft und nickt. »Das war’s«, sagt sie.
Ich höre Angelika noch eine Weile atmen; dann werden wir still, dann tun wir nichts, als in die bläuliche Dunkelheit meines Zimmers zu starren. Wir schweigen. Sind weit weg. Fühlen uns, als seien wir woanders, als seien wir wer anders.
Ich weiß nicht, was mir Angelika bedeutet. Es gibt Augenblicke, da denke ich, dass ich sie liebe. Da beginnt alles in mir zu rasen, wenn ich mir vorstelle, dass sie noch am selben Tag mit Michail zusammen sein wird; da versteifen sich meine Gedanken: Angelika, Angelika, und da habe ich das Gefühl, dass nach ihr nichts mehr kommen wird, bloß noch Leere, bloß noch ein tiefer, schwarzer Abgrund. Und dann, zwei Minuten später, laufe ich zum Kühlschrank, und plötzlich sind all die komischen Gedanken kilometerweit weg: Dann fühle ich nichts mehr, dann lache ich bloß noch, weil ich mir denke, dass ich doch tatsächlich so eine geile suka ficke.
An der Tür nimmt Angelika meine rechte Hand, streicht über den Verband und sagt: »Ich melde mich, wenn ich wieder kann. Pass auf dich auf, okay?«
Ich schließe die Tür, dann setze ich mich zu meinem Vater auf die Couch. Der Fernseher läuft, irgendein russischer Nachrichtensender, mein Vater ist ganz verrückt nach russischen Nachrichten. Er meint, der Westen lügt, er meint, früher, nach Glasnost, da sei das noch anders gewesen, aber seit dem Elften September würde der Westen durchdrehen, seit da gäbe es diese große Paranoia gegen alles und jeden, auch gegen uns, auch gegen Putin.
Wir sitzen da und nippen an unserem Bier. Die Krim hat sich zur Republik ausgerufen, ein aufgebrachter grauer Mann sagt in die Kamera, er fürchte sich vor den ukrainischen Faschisten. Mein Vater stellt sein Bier ab, da sagt er plötzlich: »Pass auf mit ihr.«
Ich weiß nicht genau, was er meint, frage: »Was?«
»Dein Mädchen«, sagt er, » pass auf mit ihr.«
Ich nehme einen Schluck und sehe rüber zu meinem Vater. Das blaue, weiße, rote Licht des Fernsehers flackert auf seinem Gesicht.
»Ich pass’ schon auf«, sage ich.
»Manche Frauen haben Augen wie Katzen«, sagt er, und als er »Katzen« sagt, schwingt da irgendwas mit, ich weiß nicht was, »Kaati« sagt er, und ich bekomme sofort Gänsehaut.
Mein Vater blickt nicht vom Bildschirm weg, und als wir ein paar Sekunden geschwiegen haben, sagt er schließlich: »Manche Frauen kratzen, obwohl sie kurz davor noch geschnurrt haben.«
In meinem Zimmer setze ich mich aufs Bett und stecke mir eine Kippe an. Draußen hängt der Mond in einem blauschwarzen Himmel, er ist groß und rund, fast unwirklich. Durch die Wand höre ich den Fernseher meines Vaters und auch den unserer Nachbarn, es sind Araber, nette Leute, Frauenstimmen lachen auf, Geschirr klappert, ihre Küche liegt direkt hinter meinem Zimmer.
Ich rauche und dann ziehe ich die Bilder unter meinem Bett hervor. Wenn ich nicht in mein Blackbook kritzle, zeichne ich viel: meistens mit Bleistift oder Kohle, selten mit Acryl oder schwarzer Tinte. Angelika will immer, dass ich sie zeichne – sie nennt mich ihren »großen Maler«, sie sagt, sie hat noch nie gesehen, dass jemand so zeichnen kann wie ich, sie sagt, dass sie heulen könnte, wenn sie sieht, wie ich den Blick aus meinem Zimmer, wie ich Menschen oder Hochhäuser zeichne.
Ich blättere weiter, und dann kommt das Kohlebild von meinem Bruder; ich habe ihn gezeichnet, als er an seinem Schreibtisch gesessen und geschrieben hat. Mein Bruder hatte in den letzten Jahren immer geschrieben. Den ganzen Tag saß er in seinem Zimmer und hat in seine Hefte gekrakelt, und wenn man ihm über die Schulter sehen wollte, wurde er panisch und hat alles zugeklappt. Ich habe mich oft gefragt, was er wohl schreibt, »Schulzeug«, hat er immer gesagt, aber ich wusste, dass das nicht stimmt. Ich hatte keine Ahnung, was die letzten Jahre in ihm vorging. Alex war der einzige, den ich kannte, der ins Gymnasium ging. Er redete nie viel und ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass er jemals irgendjemanden mit nach Hause gebracht hätte. Nachdem die Sache mit der Pistole passiert war, haben wir sein ganzes Zeug gefunden, all die Zettel, Blöcke, Hefte – ich habe mir alles durchgelesen, manches zweimal, dreimal, manches verfolgt mich bis zum heutigen Tag.
Die Araber in der Wohnung nebenan lachen wieder auf, diesmal sind auch Männerstimmen dabei. Ich rauche fertig, dann setze ich mich aufs Fenstersims und blicke runter auf die Straße, rüber zu den anderen Hochhäusern. Ich sehe nur ihre Schatten, so wie ich meinen Bruder langsam in meiner Erinnerung nur noch als Schatten sehe, ein Schatten, der mir fremd, aber doch so vertraut vorkommt. Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals wirklich gekannt habe.
Ich stehe in der Küche und schenke mir Kaffee ein – mit der Rechten, alles zieht, ich verschütte die Hälfte. Als ich das Zeug mit dem Schwamm aufwische, beobachte ich meinen Vater: Aus dem Augenwinkel kann ich ihn sehen, er sitzt im Wohnzimmer, am Keyboard, mit den Kopfhörern auf, die Augen geschlossen – seine Hände tanzen über die Tasten, ganz leichtfüßig und zart, aber mit dem Oberkörper wippt er hin und her, so schwermütig und träge, als würde er torkeln, als hätte ihn all der Kummer und Frust der letzten Monate auf eine komische Art besoffen gemacht.
Mein Vater denkt an Mutter, und er denkt daran, ob es ihr zuhause in Nowosibirsk besser geht – ich kann nicht genau sagen, wieso ich mir da so sicher bin, aber ich spüre es, ich weiß es.
»Mhm«, sagt der Kapo, und schiebt sein plattes Gesicht noch ein Stück näher an meine Hand. »Nee, das wird nix.«
»Wie, das wird nix?«
Der Kapo blickt mich an, mitten ins Gesicht.
»Na, was denkste denn, was das heißt?«, sagt er nach ein paar Sekunden.
»Aber ich muss die scheiß Stunden wegkriegen«, sage ich.
Jetzt lässt er sich in seinen Stuhl fallen und faltet die Hände hinter dem Kopf zusammen.
»Kann man nix machen«, sagt er, »so bringste mir gar nix, so wird das nix mit der Arbeit.«
Ich atme tief ein und aus, lasse mich auch in den Stuhl sacken; und das ist der Augenblick, in dem ich beschließe, noch mal rüber zu Michail zu schauen. Ja, meine Hand ist im Arsch und ja, ich brauche Kohle, aber da gibt es noch einen anderen Grund, wieso ich zu Michail in die Werkstatt schaue, wieso ich ihm sage, dass ich dabei bin, dass ich heute Abend vorbeikomme. Ich weiß nicht, ob Angelika der Grund ist. Ich glaube, ich würde das gerne sagen, aber ganz stimmen würde es nicht. Vielleicht bin ich scharf auf den Kick, vielleicht will ich die zweihundert Tacken, um dann mit Logan einen draufzumachen, gutes Gras, gute Es, Shots und Elektro. Vielleicht ist da aber auch etwas in mir, das will, dass Michail mich und Angelika zusammen sieht, etwas, das will, dass heute Abend alles auffliegt. Das ist dumm und selbstmörderisch, klar, aber manchmal bin ich eben so: dumm und selbstmörderisch – manchmal muss ich so sein, um alles zu vergessen, um zu spüren, dass ich noch lebe. Um Kanada zu sehen, wenn ich die Augen schließe.
»Privyet, Michail«, sage ich, und ziehe mir die Schuhe aus.
»Angelika kennst du?«, fragt er.
Ich schaue sie an, sie schaut mich an: Für einen Augenblick weiß ich nicht, ob wir uns zu lange ansehen, für einen Augenblick ist da diese Spannung zwischen uns, dieses Vertraute, diese Verbundenheit; es ist schwierig, das wegzubekommen, wenn es erst einmal da ist.
Ich schüttle den Kopf, »nyet – nein, vielleicht früher mal gesehen?«, sage ich.
Angelika zuckt mit den Schultern, schaut an mir vorbei.
»Kann sein«, sagt sie.
Wir sitzen auf der Couch, trinken türkischen Apfeltee und Michail erzählt mir, wie alles ablaufen soll. Aber ich kann ihm kaum folgen; Angelika, Angelika, überall ist Angelika, ihr Geruch hängt in der Wohnung, ab und zu blitzt etwas von ihr aus der Küche zu mir herüber: ihre Nase, ihre Hand, eine Haarsträhne.
»Alles klar?«, fragt Michail. Sein Gesicht verkrampft, er beäugt mich.
»Ja«, sage ich, »klar.«
»Du schwitzt wie ein Schwein«, sagt Michail, dann beugt er sich vor zu mir, die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt.
»Schau mir mal richtig in die Augen, bläd – verdammt«, sagt er. »Ich hasse das, wenn man mir nicht richtig in die Augen schaut.«
Ich sehe ihn an, versuche den Blick zu halten. Alles in mir beginnt zu beben, Angelika, Angelika – Hitze steigt mir in den Kopf, mein Hals schnürt sich zu. Michail sitzt keine Armlänge vor mir, seine blauen, stählernen Augen durchstechen mich, wollen in mich hineinsehen, in meinen Kopf.
»Ich mach’s«, sage ich, und weiche seinem Blick nicht aus, »ich bekomm’ das hin. Bloß ...«
»Was? Was bloß?«
»Na ja ...«
»Sag.«
»Die Deutschen«, sage ich, weil mir in dem Moment einfach nichts Besseres einfällt.
»Was ist mit denen, bläd?«
Angelika kommt um die Ecke, die Hände auf Bauchnabelhöhe zusammengefaltet.
»Wollt ihr noch ’nen Tee?«, fragt sie.
»Nyet«, stöhnt Michail, »geh mal bitte.«
Er sieht Angelika hinterher, es fällt mir schwer, das nicht auch zu tun.
»Also, was ist jetzt mit den Deutschen, hä?«
»Wollen mich vielleicht doch in den Knasten stecken«, sage ich.
»Was?«
»Ja. Hab’ vorhin ’nen Brief bekommen.«
»’nen Brief?«
»Da – Ja. Vom Richter. Meint, dass ich doch vielleicht in ’n Knast muss.«
»Dachte, das ist vorbei?«
»Wird neu aufgerollt, vielleicht.«
Ich schwitze, mein T-Shirt klebt mir wie Tesafilm auf dem Rücken. Ich frage mich, ob Michail mir diesen Mist abnimmt, oder ob er checkt, weswegen ich wirklich so aufgeregt bin.
Michail schlägt sich die Hände über dem Kopf zusammen, lässt sich nach hinten in die Couch fallen.
»Dyermo - Scheiße«, bellt Michail, »verfickten Nazis.«
Ich nicke, schlucke.
»Lass dich nicht fertigmachen von den verfickten Nazis«, sagt er.
»Da«, sage ich, »scheiß Nazis, Hurensöhne.«
Aus der Küche höre ich, wie Angelika mit Geschirr klappert.
»Wo ist ’n das Klo?«
»Da rechts um die Ecke«, sagt Michail, und als ich aufstehe, blickt er mir hinterher, lacht und schreit: »Mir aber nicht die Bude vollscheißen, klar?«
Ich lache zurück, sage: »Kann nichts versprechen, Mann!«
Ich wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Langsam komme ich wieder zu mir, das Zittern in meinen Beinen wird schwächer, ich gebe mir eine Ohrfeige, atme tief ein und aus, höre Angelika draußen etwas sagen, dann Michail.
Plötzlich sehe ich, wie sich der Türgriff nach unten dreht, wie sich die Tür ins Bad schiebt.
Angelika steht vor mir. Sie steht vor mir und starrt mich an, aus ihren großen, runden, braunen Augen. Amerika. Kanada. Großer Maler.
Wir sagen nichts von alldem. Wir stehen nur da, blicken uns an, Angelika noch mit dem Türgriff in der Hand. Da passiert es – da packe ich sie an der Hüfte, Angelika schlingt ihre Arme um meinen Hals, unsere Lippen treffen sich, verfehlen sich, ich spüre ihren heißen Atem auf meiner Wange, ihre weichen Hände an meinem Nacken. Amerika. Kanada. Kanada, Los Angeles.
»Andrej?«, schreit Michail von drüben.
Wir zucken zusammen, erstarren, lösen uns voneinander. Ein letzter Blick, dann schlurft sie zurück in die Küche. Ich drehe den Wasserhahn auf und zu.
»Ja, ja, bläd, gleich!«, schreie ich zurück.
Ich stehe in einem Wald vor der Stadt. Alles ist dunkel, alles knistert und raschelt, die Baumstämme sehen wie erstarrte, langgezogene Riesen aus, das Mondlicht fällt durch Äste, Blätter.
»Kann grade nicht«, sage ich, »chille bei mir.«
»Ich komm’ vorbei«, sagt Logan.
»Nein«, sage ich, »bin zu müde«, dann brauche ich noch zwei Minuten, um ihn abzuwimmeln.
Erst finde ich die Plastiktüte nicht. Michail hat mir die Koordinaten gegeben, Michail hat gemeint, es liegt in einem Loch unter einer großen, alten Eiche, aber da dachte ich noch nicht daran, dass ich gar keine Ahnung habe, wie eine Eiche überhaupt aussieht, vor allem nicht nachts.
Ich gehe ein paar Schritte, habe das Gefühl, im Kreis zu laufen, immer mit dem Smartphone vor mir, GPS.
Plötzlich ein Rascheln an meinem linken Fuß. Ich leuchte mit dem Handy darauf, sehe den blauen Plastikgriff. Ich muss ein paar Mal kräftig ziehen, dann liegt die Tüte vor mir.
Später treffe ich den Typen auf einem Feldweg neben der Landstraße. Er kommt mit dem Roller, ein zweiter Kerl sitzt hinten drauf, er hat eine schwarze Sporttasche in der Hand. Als die beiden absteigen und sich die Helme ausziehen, springen mir ihre Klamotten in die Augen: rote Nikes, feine Hosen, Poloshirts; der vordere ist ein langer, dünner Deutscher, ich sehe das an seinem Gesicht und an der Art, wie er sich bewegt, wie er sich durch die Haare fährt – der andere ist Türke, Araber, keine Ahnung, Muskeln hat er, dazu noch Flaumbart und diese Bushido-Frisur.
»Warteste auf uns?«, fragt der Deutsche und grinst.
»Ja«, sage ich.
»Ist’s da drin?«, fragt der Bushido-Verschnitt, und nickt auf die blaue Tüte in meiner Hand.
»Ja«, sage ich wieder.
»Dann zeig mal her«, sagt der Deutsche, und fährt sich wieder durch die Haare.
»Erst die Kohle«, sage ich, und blicke auf die schwarze Sporttasche.
»Mann, ey ...« Der Deutsche wirft seinem Kumpel einen Blick zu, lacht auf und schüttelt den Kopf.
»Was biste denn so misstrauisch, ey?«, fragt er mich, und grinst immer noch.
»Erst die Kohle.«
Wir tauschen Blicke aus, dann nickt der Deutsche seinem Kumpel zu, der zischt: »Russen«, wirft mir die Tasche vor die Füße und spuckt auf den Boden.
Einen Augenblick geschieht gar nichts, einen Augenblick steht alles still: Ich sehe sie an, sie sehen mich an, ein Lastwagen fährt vorbei, der Windstoß peitscht mir ins Gesicht.
Dann bücke ich mich – ich bücke mich und lasse die beiden nicht aus den Augen, stelle die Plastiktüte ab und greife nach der Sporttasche – da passiert es plötzlich, da packen mich Hände von hinten, halten mir den Mund zu, ich spüre ein, zwei Schläge in den Magen, dann das kalte Metall an meiner Kehle. Der Deutsche lacht wieder auf, hinter mir Stimmen, dann noch ein Schlag und noch einer, ich liege auf dem Boden, bekomme keine Luft, sehe den Sternenhimmel.
»Ihr Russen seid so dumm«, höre ich den Türken zischen, »ihr seid so dumm, ey – fuck, wieso seid ihr eigentlich so behindert, hä?«
Irgendjemand spuckt mir ins Gesicht, dann wird alles schwarz.
»Diese Hurensöhne!« Michail läuft hin und her, schwitzt, knöpft sich das Hemd auf, steckt sich die Kippe zwischen die dünnen Lippen. »Das kriegen die zurück, die verfickten Nazis!«
Und erst, als ich dasitze, in Michails Bude, erst, als Angelika aus der Küche angerannt kommt und mir den Eisbeutel an die Schläfe drückt, da wird mir klar, was gerade eben passiert ist: Ich wurde verarscht. Klar, ich wurde abgezogen und verprügelt, aber ich wurde auch verarscht, von Michail: Seine Cousins verstecken ihm das Zeug im Wald, und er will sich die Hände nicht schmutzig machen, er will kein Risiko eingehen, also braucht er jemanden wie mich, einen Dummen, einen, der ihm sein Zeug erledigt.
Ich atme tief ein.
»Dyermo – Scheiße«, zische ich zu Angelika, als sie mir den Eisbeutel auf die Wange drückt, »nicht so fest!«
Michail schaut zu uns herüber, mit diesem Blick, als ob er für eine Sekunde sehen würde, wie wir bumsen, wie wir von Amerika, von Kanada träumen.
»Du hättest mitkommen sollen!«, schreie ich Michail plötzlich an, »verfickte Scheiße, du hättest mitkommen sollen, Mann!«
Michail kommt zu mir rübergelaufen, schnell, aggressiv, Angelika springt weg, und als Michail vor mir steht, schlägt er mir mit der flachen Hand ins Gesicht, direkt auf die Schwellung. Ich falle vom Sofa, warmes Blut läuft mir das Kinn herunter.
»Halt die Fresse!«, schreit er, »halt bloß deine Fresse! Woher will ich wissen, dass du’s nicht gerippt hast, hä?«
Dann dreht er sich um, zündet sich eine neue Kippe an, läuft durchs Wohnzimmer und bleibt am Fenster stehen.
»Ich lass’ mir was einfallen«, sagt er, ohne mich dabei anzusehen, »geh’ mal heim, und ich lass’ mir was einfallen, Andrej.«
Wir trinken schwarzen Kaffee und ich erkenne ihn kaum. Ja, doch, das ist er, mein Bruder, irgendwo hinter diesen dunklen, tiefen, leeren Augen, hinter den eingefallenen Wangen: Er ist dünn geworden, ich sehe jeden einzelnen Fingerknochen, über den sich die graue, fahle Haut spannt.
Wir sitzen im Gemeinschaftsraum. Zu ihm ins Zimmer durften wir nicht, der Zimmergenosse hatte heute Morgen irgendwas, braucht Ruhe, ein psychotischer Schock oder so.
Ich rede fünf Minuten, dann fällt mir nichts mehr ein. Ich erzähle meinem Bruder von Vater, dass er wieder ab und zu Keyboard spielt, ich erzähle ihm von früher, von dem riesigen Staudamm, den wir im Bach aus Teilen vom Schrottplatz gebaut haben, und von dem Alten, der dann gekommen ist und sich darüber aufgeregt hat: Aber wir sind weggerannt, haben uns in einem Gebüsch versteckt, er hat uns nie gekriegt. Kurz lache ich auf, aber als sich bei meinem Bruder nichts regt, lasse ich das.
Auf einmal hebt Alex seine Hände und starrt sie an. Er starrt sie an, als ob er sie zum ersten Mal sehen würde, als ob er erschrecken würde, dass sie da wären, an seinen Armen. Dann blickt er wieder mich an.
»Es ist in mir drin«, sagt er mit krächzender und heiserer Stimme – eine Folge des Schusses.
»Was?«, sage ich, und ziehe die Augenbrauen zusammen. »Was ist in dir drin?«
»Es ist einfach in mir drin«, sagt er. »Hab’ alles versucht. Echt jetzt, Andrej, ich hab’ alles versucht.«
Ich runzle die Stirn, blicke fragend zurück.
»Es ist einfach in mir drin, kann man machen, was man will«, sagt er. »Es ist so fest in mir drin, wie meine Augen oder meine Hände in mir drin sind. Total verwachsen mit mir, ein Teil von mir.«
»Alex, komm ...«
»Nein«, sagt er, schließt die Augen und schüttelt den Kopf, »ist einfach so.«
Dann blickt er wieder auf seine Hände.
»Du musst mitkommen«, sagt er.
Ich laufe an ihm vorbei, hole den Schlüssel aus meinem Rucksack.
»Mit wohin?«
Ich bleibe vor meiner Haustüre stehen, versuche mir nichts anmerken zu lassen.
»Zu dem Hurensohn«, sagt er, dann steht er von den Treppenstufen auf und sieht mich an. »Du musst mit.«
»Ist jetzt schlecht, Mann«, sage ich, aber Michail packt mich am Kragen, drückt mich gegen die Wand und beißt die Zähne zusammen.
»Pass auf, bläd«, sagt er, »dieser Hurensohn hat uns abgezogen, und jetzt sieht der mal, was passiert, wenn man uns abzieht, klar?«
»Was ist mit deinen Cousins?«, sage ich. »Wieso lässt du die’s nicht machen?«
Michail lässt mich wieder los, fährt sich über die blonden Haarstoppel, läuft den Gang auf und ab.
»Komm schon«, sagt er, »springt auch was bei raus für dich.«
Wir sitzen die halbe Nacht vor dem Haus, im Golf, haben Baseballschläger und Sturmhauben auf unserem Schoß liegen, das Nummernschild mit Erde eingerieben, nur zur Sicherheit. Ständig erwische ich mich dabei, wie ich mir vorstelle, dass ich hier wohne; dass ich hier durch die Straßen laufe, dass ich hier Fußball, Basketball, Hockey spiele, dass ich abends meinen Freunden winke und in eines der Häuser verschwinde. Ich frage mich, wieso der Typ in diesem Haus tickt, ich frage mich, ob er es vielleicht selbst nicht weiß, ob er es vielleicht wegen einem Mädchen macht. Ich frage mich, ob man überhaupt irgendetwas macht, ohne dass es in irgendeiner Verbindung zu einem Mädchen steht.
Ein paar Stunden, nachdem alle Lichter erloschen sind, ziehen wir uns Handschuhe und Sturmhauben über und steigen aus. Ich schmeiße die Tür hinter mir zu, Michail zischt: »Nicht so laut, bläd, nicht so laut!«
Michail meint, er kenne da einen Typen – er meint, er wüsste, wie man am besten reinkommt. Wir springen über die Hecke, laufen durch den Garten, immer gebückt, immer mit dem Blick überall.
Durch das Fenster reinzukommen ist kein Problem. Michail setzt mit dem Schraubenzieher unten rechts am Rahmen an, wackelt, drückt, dann noch mal oben, dann springt es auf.
Drinnen ist es dunkel, still. Wir laufen durch Gänge, die Treppe hoch in den ersten Stock, Michail immer mit dem Baseballschläger voraus, er scheint genau zu wissen, wo wir hin müssen.
Wir finden das Zimmer. An der Tür hängt ein Sido-Poster, wir warten zwei, drei Sekunden, werfen uns gegenseitig Blicke zu, schnaufen durch, nicken uns an, dann drückt Michail die Türklinke nach unten. Als wir ins Zimmer schleichen, versuche ich meinen Atem so still wie möglich zu halten. Mein Puls pocht mir an der Schläfe, mein Herz trommelt; ich erkenne ihn sofort wieder, den blonden Deutschen, ich sehe seinen Kopf, wie er im Bett liegt, wie er schläft, wie er träumt.
Michail lehnt den Baseballschläger vorsichtig ans Bett an, dann packt er den Deutschen: mit der Linken hält er seinen einen Arm fest, die Rechte legt er auf seinen Mund – ein, zwei Sekunden vergehen, dann wacht der Deutsche auf und blickt uns erschrocken an – und als er plötzlich checkt, was hier gerade abgeht, reißt er die Augen auf, will schreien, zappeln, aber ich bin auch schon auf der anderen Seite des Bettes und halte seine Beine an den Knöcheln fest.
»Halt die Fresse!«, zischt Michail, und schiebt sein Gesicht ein Stück an das des Deutschen. »Sei still, du Pussy! Halt’s Maul oder ich bring dich um! Hast du das gecheckt? Ich hab’ ’ne Knarre an deinem Schädel, du Pussy! Halt die Fresse jetzt!«
Der Deutsche wird ruhiger, versucht sich nicht mehr zu befreien, starrt Michail bloß noch mit großen, aufgerissenen Augen an.
»Du weißt, wieso ich hier bin, du Pussy? Wo ist meine Kohle? Hä? Wo?«
Der Deutsche will etwas sagen, da flüstert Michail: »Ich hab’ ’ne Knarre an deinem Schädel, kapiesch? Ich werd’ jetzt meine Hand von deinem Mund nehmen und du wirst mir schön brav sagen, wo meine Kohle ist, klar, und wenn du denkst, du kannst hier gleich rumschreien, dann baller ich dir den Schädel weg, klar?«
Jetzt fängt der Deutsche plötzlich an wie irre zu nicken, und als Michail die Hand von seinem Mund nimmt, flüstert der Deutsche irgendwas, ich verstehe es nicht.
»Was?«, zischt Michail. »Sag das noch mal, bläd!«
»Dein Typ«, höre ich den Deutschen plötzlich flüstern, »ich hab’ deine Kohle nich’ mehr, ich hab’ sie deinem Typ gegeben, die Kohle, so wie wir’s ausgemacht haben, Mann!«
Sofort beginnt mein Herz zu rasen. Ich höre, wie Michail das Schnaufen anfängt – er starrt erst runter auf den Deutschen, tauscht ein paar Sekunden Blicke mit ihm aus – dann schaut er durch die Dunkelheit des Zimmers rüber zu mir. Ich schüttle den Kopf, will sagen: Nein, nein, das stimmt nicht, Mann!
»Sicher?«, knurrt Michail schließlich den Deutschen an, noch während er mich ansieht.
»Ja!«, zischt der Deutsche. »Ja! Ich hab’s ihm gegeben, die Kohle! Bitte!«
»Bullshit!«, fahre ich Michail plötzlich an, »das ist Bullshit! Der will dich abziehen, der Hurensohn!«
»Nein!«, wimmert der Deutsche, »echt nicht!«
Michail starrt mich noch immer an. »Wo-ist-mein-Geld?«, knurrt er, und betont dabei jede einzelne Silbe – den Blick noch auf mich gerichtet, die Worte aber an den Deutschen.
Wieder faselt der Deutsche irgendwas, aber ich kann ihn nicht verstehen – alles um mich herum verschwimmt zu etwas Unwirklichem, meine Beine werden weich; Michail starrt mich noch immer durch die Dunkelheit hinweg an, mit diesem Blick, als würde er alles wissen, als würde er mich und Angelika gerade ficken sehen – das bilde ich mir zumindest ein.
Da greift Michail den Baseballschläger, der noch an der Bettkante lehnt; und ich halte den Deutschen ja noch an den Füßen fest, damit er nicht mit den Beinen rumzappeln kann; und Michail blickt noch immer mich an, mit diesem Blick, als er nach dem Baseballschläger greift – und dann holt er aus, Michail: Der silberne Überzug des Baseballschlägers glänzt für einen Augenblick im Zimmer auf, von der Straße her bricht Licht rein – ein kurzes Zischen, Holz durchschneidet die Luft, dann dieser hölzerne, dumpfe Schlag, bong!, und sofort brechen die Schreie aus dem Deutschen heraus: Sie sind so laut, ich muss mein ganzes Gewicht auf seine Füße stemmen, damit ich ihn halten kann, mein Puls ist auf dreitausend – Michail holt noch mal aus, dann wieder volles Rohr auf das Schienbein des Deutschen – und diesmal ist da nicht bloß dieses Bong!, diesmal knackst da irgendetwas, diesmal spüre ich, wie der Fuß des Deutschen plötzlich wegsackt, ganz lasch wird – und immer noch diese Schreie, diese furchtbaren Schreie, sie sind so laut, ich ertrage es nicht; und dann dreht sich Michail um, zum Gesicht des Deutschen – und dann holt er ein drittes Mal aus, mit dem Baseballschläger; und der Deutsche schreit und schreit, und er fuchtelt mit den Händen herum, und Michail hat den Baseballschläger noch über sich in der Luft stehen – und dann schlägt er zu, ein drittes Mal, mitten auf den Kopf des Deutschen, bong!; und plötzlich wird alles ganz still, plötzlich hört der Deutsche zu schreien und zu zappeln auf. Ein paar Sekunden vergehen, in denen alles wie eingefroren scheint. Michail atmet ein und aus. Ich zittere am ganzen Körper, mir ist kotzübel, ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten.
»Das war’s«, sagt Michail, schaut noch immer auf den Deutschen und nickt dabei. »Das war’s jetzt.«
Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich nach Hause komme, wie wir es aus dem Zimmer und dem Garten des Deutschen geschafft haben, alles ist so weit weg, so grau und schwarz und weich wie Watte. Ich komme erst wieder zu mir, als ich daheim zur Tür reinkomme, als ich in meinem Zimmer stehe und rauche und rauche, noch mit der Sturmhaube in der Hand.
Ich sitze auf meinem Bett, zittere, schwitze, alles rast in mir, jeder Gedanke, jedes Gefühl. Ich wippe mit dem Kopf hin und her, rauche einen Topf: Weißer, süßer Rauch, es wird nicht besser.
Ich habe keine Sekunde geschlafen gestern Nacht, draußen geht die Sonne auf: blauer Himmel, fast keine Wolken, ich laufe im Kreis.
Mein Bruder hat sich wegen einem Mädchen in den Mund geschossen. Sie ging in seine Klasse, zwei Jahre lang, und er war unglaublich verknallt, das erste Mal. Wusste aber keiner, er hat das niemandem gesagt, hat das bloß immer aufgeschrieben, Tag für Tag, hat lauter kleine Geschichten über sie geschrieben, in denen sie sich kennenlernen, in denen sie sich verlieben, küssen, und dann zusammen abhauen, irgendwohin, mal auf ein Schiff, das zu einer Stadt in den Wolken fliegt, mal nach Südamerika, in den Dschungel.
Mein Bruder hat sich wegen einem Mädchen in den Mund geschossen – einem Mädchen, mit dem er anscheinend nie geredet hat, die er immer nur von der letzten Reihe aus beobachtet hat; mein Bruder hat so unglaublich viel über sie geschrieben, und sie hatte keinen Schimmer. Für sie war er bloß ein blasser, komischer Typ mit Brille und Akzent, der jeden Tag aus irgendeinem Hochhaus mit dem Bus angefahren kam. Und sie? Was war sie für ihn? Jeder hat etwas, an das er sich klammert; jeder hat diesen einen Wunsch, diese eine Vorstellung, die er Tag für Tag mit sich herumträgt – ich weiß nicht, ob sie nicht schon von Geburt an in uns lebt, unsere eine Vorstellung, oder ob sie erst mit der Zeit in uns heranwächst, uns besessen macht: so besessen, dass man die Leere nicht erträgt, die sie hinterlässt, wenn man begreift, dass sie irreal ist, die Vorstellung, dass man Seifenblasen hinterherjagt.
Ich kiffe und kiffe, ich kriege gar nicht genug.
Ich bin so müde, so müde.
»Da ist irgendwas passiert«, sagt er, »hörst du’s draußen?«
Ich nicke.
»Da wurde vorhin geschossen, bei uns im Viertel, sagen sie im Fernsehen«, sagt er aufgeregt.
»Ich weiß nicht«, sage ich, »ich weiß nicht« – aber tief in mir drin spüre ich etwas: Tief in mir drin weiß ich, dass gerade irgendetwas aus dem Ruder gelaufen ist, und dass das alles auch mit mir zu tun hat.
Zwei Minuten später habe ich mir Pulli und Schuhe übergezogen, und renne das Treppenhaus hinunter, raus auf die Straße, in Richtung Logan. Ich habe furchtbaren Schiss, dass die Bullen Michail geschnappt haben – und dass er auspackt, und dass sie mich als nächstes holen werden.
Oder lebt Michail gar nicht mehr? Haben sie ihn bei der Festnahme erschossen? Oder haben seine Cousins etwas damit zu tun? Sind sie ausgerastet, weil er ihre Kohle verloren hat?
Je mehr ich darüber nachdenke, desto schneller laufe ich. Ich habe die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, ich blicke ständig nach links, nach rechts, hinter mich: Verfolgt mich jemand? Die Bullen? Michails Cousins?
Als ich gerade über die Kreuzung vor Logans Hochhaus renne, rast mir ein Auto vor die Füße. Quietschende Bremsen, dann wird die Tür aufgeschmissen – das gibt es nicht: Michail! Er ist kreidebleich, hat die Augen weit aufgerissen und schreit: »Rein!«
»Was?«, sage ich.
»Schnell! Steig ein, Mann!«
»Wieso?«
»Steig jetzt ein, du Idiot!«, brüllt Michail, den Blick im Rückspiegel, ein Mercedes steht hinter ihm auf der Straße und hupt.
Wir fahren immer tiefer in den Wald hinein, alles holpert, ich muss mich am Türgriff festhalten. Irgendwann hält Michail dann an, stellt den Motor ab, steigt aus und reißt die Hintertüre auf.
»Raus«, sagt er straff, ohne mich dabei anzusehen. Ich merke sofort, dass hier irgendwas nicht stimmt.
»Was soll der Scheiß, Mann?«, sage ich – da fällt mir plötzlich die glänzende Knarre auf, die Michail in der Hand hält – da fallen mir plötzlich die dunkelroten Blutspritzer auf, die Michail auf Hose und Schuhen hat.
Ich will schlucken, habe aber keine Spucke im Mund; mein Herz rast, mir ist schwindelig, schlecht.
»Michail? Fuck, was ist hier los, Mann?«
Michail sieht mich noch immer nicht an, steht bloß vor mir und blickt an mir vorbei.
»Raus«, befiehlt er noch mal. Ich steige aus, zittere am ganzen Körper. Plötzlich schubst mich Michail weg von sich, ich stolpere ein paar Meter zurück, falle rücklings auf den Boden. Michail reißt die Augen auf, hält mir die Knarre ins Gesicht und blickt mich wutentbrannt an.
»Du Idiot!«, brüllt er. »Du Bastard! Du Hurensohn, du Missgeburt!«
»I-Ich weiß n-nicht was du willst, Michail, ich –«
»Tu nicht so!«
Einen Augenblick ist alles still: Ich sitze da, zittere, das nasse Moos an meinen Händen, mein Gesicht wird taub; ich sehe Michail vor mir, sehe in den Lauf seiner Knarre.
»Denkst du, ich bin bescheuert oder was?«, brüllt Michail auf Russisch. »Denkst du, ich checke nicht, was hier abgeht?«
»I-Ich –«
»Weißt du, was ich gestern Nacht noch gemacht hab’?«
Mein Hals schnürt sich zu.
»Ich hab’ mal umhören lassen, im Gericht, wie’s mit deinem Prozess aussieht! Wann der ist! Weißt du noch? Das hast du gesagt, dass dein Prozess wieder aufgerollt wird!«
»M-Michail, ich –«
Plötzlich verändert sich Michails Gesichtsausdruck – plötzlich verschwindet dieses Harte, Toughe, plötzlich wird alles ganz weich an ihm, plötzlich werden seine Augen glasig, Tränen sammeln sich in ihnen.
»Du bumst sie! Du bumst sie, du Missgeburt!«, schreit er. »Ich hab’s gesehen, wie ihr euch anschaut! Wie ihr euch berührt! Du hast mein Geld und willst mit ihr abhauen, du Missgeburt! Als der’s mir gesagt hat, dass es keinen Prozess gibt, da hab’ ich’s gleich gewusst! Dass du mit ihr abhauen willst, du Hurensohn!«
Ich sehe wieder auf das Blut an Michails Klamotten. Alles in mir fällt zusammen – Angelika, Angelika! Das – das kann nicht sein!
»Du Hurensohn!«, schreie ich, »du Psycho! Wo ist Angelika? Was hast du mit ihr gemacht, du Fotze!«
Aber eigentlich weiß ich, was passiert ist; ich sehe Michails irre, glasige Augen, ich sehe die Knarre, die er zitternd auf mich hält und ich sehe das viele Blut, das an seiner Kleidung klebt.
»Sie hat es mir gesagt!«, schreit Michail. »Du Bastard! Du Hundesohn! Sie hat es mir gesagt! Alles!«
Da kribbeln plötzlich meine Fäuste – da weiß ich auf einmal, was ich tun muss: Denn wenn ich jetzt nicht handle, wenn ich Michail jetzt nicht die Knarre aus der Hand schlage ...
Ich blicke direkt in den Lauf seiner Pistole. Ich denke an Angelika, ich denke an ihren Geruch; ich denke an meinen Bruder und an meinen Vater, und daran, wie alles gewesen ist, früher, und wie ich mit meinem Bruder diesen Staudamm im Bach gebaut habe und dieser Alte dann gekommen ist, aber wir haben uns im Gebüsch versteckt; und Angelika, Angelika, ich bin ihr großer Maler, meine Angelika, und als sie mir das erzählt hat, das mit Michail, dass er dieses Haus kaufen will, irgendwo in der Pampa, neben Kühen, auf dem Land, und dass sie gar nicht weiß, was er da will; und meine Angelika, Angelika, nein, nein, nein, das kann nicht sein, das kann alles nicht sein, dass ich –
Ein Schuss, es schleudert mich nach hinten, auf den Rücken, auf den Waldboden, in meiner Brust ein gigantisches Ziehen, wie der Stich einer riesigen Hornisse, ich kriege kaum Luft –
Michail heult Rotz und Wasser, und ich hebe die Hand, ich will etwas sagen, aber Michail dreht den Kopf nach rechts, schaut weg von mir, und jetzt hält er mir wieder den Lauf ins Ge-