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Michael
Pater Michael verlor nicht das Bewusstsein, während die nass-kalten Pflastersteine unaufhaltsam auf ihn zu rasten. Er hatte weder eine Frau noch Kinder, die er zurücklassen würde. In ein paar Monaten wäre er fünfundvierzig geworden. Warum wurde er nicht ohnmächtig? Er spürte alles ganz genau, den Wind, der wie eine unsichtbare Hand gegen seine Haut drückte, an seiner Kleidung und seinen braunen Haaren riss, hörte das Rauschen und das Flattern seiner Kleidung, spürte ein wildes Pochen in den Schläfen. Die sonst eher schlaffe Haut in seinem Gesicht straffte sich um den schmalen Schädel. Michael war ein Mann von durchschnittlichem Aussehen, groß gewachsen, schlanker Körperbau. Er hatte gehofft, er würde ohnmächtig werden, hatte es sich sogar gewünscht. Er war ein wenig enttäuscht, dass es nicht so war, wie allgemein behauptet wurde.
Hatte er Angst? Vielleicht ein wenig. Würde er Schmerzen haben? Nein, das war ausgeschlossen.
Er würde tot sein, bevor sein Gehirn auch nur so etwas entferntes wie Schmerzen registrieren könnte. Er würde nichts spüren, er würde direkt durch den Asphalt in die Hölle rasen, denn das passierte mit Christen, die Selbstmord begingen. Sie kamen allesamt in die Hölle. Aber er sah keinen anderen Ausweg aus seiner Situation. Er hätte seiner Begierde mehr Widerstand leisten müssen, so wie er es früher, egal wie stark sie da gewesen war. Warum war es ihm diesmal nicht gelungen? Warum war er diesmal schwach geworden? Lag es an den Augen des Jungen? Sicher hatte es auch an ihnen gelegen, aber nicht nur. Es waren auch die ebenmäßigen Gesichtszüge, der volle Mund, die leicht gewölbte hohe Stirn, das zottelige blonde Haar und der Blick, mit dem der Junge ihn immer bedachte, wenn sie sich begegnet waren. Der Junge hatte ihn regelrecht verführt, ihm schöne Augen gemacht, ständig Michaels Nähe gesucht. Es war Pater Michael schon unangenehm geworden, weil der Junge so sehr an ihm hing. Aber es war auch schön zu wissen, gebraucht zu werden. Er hatte es sehr genossen. Michael hatte sich, kurz bevor er sich selbst auf den Weg nach Hause machte, für jeden unzüchtigen Gedanken, den er von sich und dem Jungen über den Tag hatte, gegeißelt, sich für seine Schwäche des nachts in seiner Zelle bestraft, bevor er kraftlos an Ort und Stelle zusammengebrochen war. Und das Abend für Abend, seit er dem Jungen das erste Mal begegnet war. Das war jetzt knapp drei Wochen her.
Der Junge sah ihn mit diesen Augen an, in denen Michael Hunger und Begierde und Lust und noch etwas gesehen hatte, dass er noch immer nicht ganz beschreiben konnte. Er konnte es sich unmöglich nur eingebildet haben. Es lag auch etwas Böses im Blick des Jungen, etwas Hinterlistiges. Der Junge, Bartholomäus war sein Name, seine Eltern hatten ihn wohl nach einem der Jünger Jesu und dem zwölften Apostel, der als Märtyrer in die Geschichte einging, benannt, hatte ihm, als sie für einen Moment alleine waren, die schmale Hand auf eins seiner Knie gelegt, und Michael war bei der Berührung durch den Jungen etwas durch Mark und Bein gegangen, das auch ein elektrischer Schlag hätte gewesen sein können. Oder Schlimmeres. Von da an wusste Michael, dass, egal wie sehr er sich auch dagegen zu sträuben versuchte, er den Kampf verlieren würde. Und seine Befürchtungen sollten sich auch bewahrheiten. Er sah den kleinen Bartholomäus noch genau vor sich, wie er vor wenigen Stunden mit regennassem Gesicht vor ihm stand und zu ihm hinauf schaute, Verlegenheit in den feinen Gesichtszügen. Das blonde Haar war leicht feucht und über das Gesicht des Jungen flossen dünne Rinnsale Regenwasser, aber die dunkle Kleidung, die er trug und die ihn noch blasser als sonst erscheinen ließ, schien kaum etwas vom Regen abbekommen zu haben. Als wäre sie nicht Teil dieser Welt. Der Junge schien über irgendwas traurig zu sein, denn er mied den fragenden Blick von Pater Michael. Immer, wenn sich ihre Blicke kurz trafen, irrte der von Bartholomäus gleich wieder davon. Der Pater bat den Jungen hinein und fragte ihn, was er denn hätte und warum er zu so später Stunde nicht zu Hause sei, wo er doch hingehöre. Doch der Junge antwortet nicht, war an ihm vorbei in die Kirche geschlüpft und hatte sich auf eine der hinteren Bänke gesetzt, den Kopf leicht gesenkt.
Pater Michael schloss die schweren Kirchentüren und war zum Jungen gegangen. In seinem Kopf spukte wieder dieses Verlangen, den Jungen zu berühren, die weiche Haut auf seiner eigenen zu spüren. Er verdrängte die Gedanken und setzte sich neben den Jungen, sagte aber nichts. Er wollte dem Jungen die nötige Zeit geben, sein Begehren in Worte zu fassen. Der Junge schaute stumm zu Boden, die schmalen Hände wie zum Gebet gefaltet.
Pater Michael musste schlucken, als er das Profil des Jungen im schummrigen Kerzenlicht betrachtete, die filigranen Hände, den vollen Mund. Nachdem sie eine Weile stumm nebeneinander saßen, Pater Michael konnte nicht sagen, für wie lange, griff der Junge mit einer raschen Bewegung nach der Hand von Michael und hielt diese mit festem Druck umklammert, so als wolle er aus ihr Kraft für das schöpfen, was er als nächstes sagen oder tun würde. Und obwohl Pater Michael Herz in dem Moment wie nie zuvor schlug, seine Haut wie elektrisiert kribbelte, ließ er die Berührung zu, auch wenn es ihm schwerfiel. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet. In seinem Unterleib war ein Feuer entfacht, das er, so glaubte er zumindest, mit tausenden heiligen Wassern und Geißelungen über die Jahre zum Erlöschen gebracht hatte, aber wie um ihn zu verhöhnen, dennoch entfacht war, als wäre es nicht Wasser gewesen, sondern Benzin.
Er musste sich zwingen, an etwas anderes zu denken, denn immerhin war der Junge ja aus einem bestimmten Grund zu ihm gekommen, aus einem wichtigen Grund. Weil er Pater Michael vertraute. Und das einzige, woran er denken konnte, war... Sex mit dem Jungen zu haben. Aber das ging natürlich nicht, deswegen lud er sich zehn weitere Vater-Unser und zwanzig Peitschenhieb auf. Etwas musste den Jungen beschäftigen, dachte der Pater, etwas, das schwer auf seiner Seele lastete, aber eine Menge Kraft benötigte, um ausgesprochen zu werden. Vielleicht war etwas Schlimmes geschehen? Vielleicht hatte der Junge sonst keinen, an dem er sich hätte wenden können. Es war ganz normal, dass Menschen, wenn ihnen etwas auf der Seele lastete, sie nur mit einem Priester darüber reden wollten.
Wollte der Junge etwas beichten, das ihm schwer auf der Seele lastete? Aber was konnte ein Junge von zwölf Jahren schon Schlimmes getan haben? Aber vielleicht ging es nicht darum, dass er etwas Schlimmes getan hatte, vielleicht hatte man ihm Schlimmes angetan. Pater Michael hatte genug Erfahrung in den zwanzig Jahren sammeln können, um zu wissen, dass man jene, die etwas auf dem Herzen hatten, nicht zum Reden drängte. Also wartete er. Dann spürte er, wie der Druck der Hand nachließ und zu einem Streicheln überging. Pater Michael erstartte, sein Herz setzte für einen Moment aus. Er räusperte sich, dann sprach er: "Bart, ich...", doch bevor er auch nur ein weiteres Wort hätte sagen können, vernahm er, wie der Junge ihn mit einem leichten Zischen ersuchte zu schweigen. So, als wäre er, Pater Michael, der jüngere von ihnen und nicht Bartholomäus; als wäre er das Kind, das um den Rat eines Erwachsenen bat.
"Ist gut, Michael, ich weiß, wie es dir gerade geht, was du fühlst, denkst. Aber hab davor keine Angst, es ist okay, ganz normal.", der Ton des Jungen war von beängstigender Klarheit, es war, als spräche nicht ein Zwölfjähriger, sondern ein erwachsener Mann mit ihm. Und er hatte ihn beim Vornamen genannt, was er noch nie zuvor getan hatte. Weil es auch nicht üblich war. Pater Michael war wie durch einen Schlag zurück gezuckt. Er versuchte etwas zu sagen, doch die Klarheit, mit der Bartholomäus zu ihm gesprochen hatte, die Liebkosungen, mit denen er ihn noch immer bedachte, während er sprach, schürten Pater Michael die Kehle zu.
Der Junge wandte sich nun Pater Michael zu. Und in den Augen des Junge brannte etwas, das der Pater noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Ein Feuer, das auch aus der tiefsten Hölle hätte stammen können. Das Lächeln, das die wohl geformten Lippen des Jungen plötzlich umschmeichelten, war verführerisch und gleichzeitig dämonisch. Und es kam Pater Michael so vor, als wisse der Junge um seine Schwäche für Knaben. Als wisse Bartholomäus alles über Pater Michael. Obwohl er zu keinem auch nur ein einziges Wort gesagt hatte.
Nur Gott weiß davon, da war er sich sicher. Aber Gott würde ihm vergeben. Pater Michael war aufgesprungen und einen Meter zurückgewichen. Als er sich einigermaßen wieder beruhigt hatte, sagte er mit schwachen Nachdruck: "Bartholomäus, ich denke, es wäre jetzt besser, wenn wir mal bei dir zu Hause anrufen, damit deine Eltern wissen, wo du steckst. Sie machen sich bestimmt schon große Sorgen. Noch besser wäre, wenn sie dich hier abholen könnten. Komm, in meinem Büro ist ein Telefon." Doch der Junge rührte sich nicht, sondern wandte nur traurig den Kopf ab und schaute wieder nach unten, auf seine wie zu einem Gebet gefalteten Hände. Pater Michael verstand nicht, was hier geschah. Er bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Panik stieg in ihm auf. Er wollte, dass dieser Junge von hier verschwand, sofort. Er könne sonst für nichts garantieren.
Dann sah er, wie sich eine Träne aus dem Auge des Jungen löste und über die von Sommersprossen gesprenkelte Wange bis zum Kinn glitt, sich dort perlend löste und auf seinem Handrücken fiel, um dort langsam von seiner blassen Haut aufgenommen zu werden. Pater Michael erschrak. Wie hatte er nur so dumm sein können? Er hatte den Jungen vollkommen missverstanden. "Bart...", sagte er - er wollte sich bei dem Jungen für seine Torheit entschuldigen - kam aber nicht weiter, weil der Junge erneut das Wort ergriff, diesmal in einem viel kindlicheren Ton. "Ist schon gut...ich dachte...ich könne...", doch seine Stimme brach unter der Trauer, die der Junge über das Fehlverhalten von Pater Michael inzwischen empfand. Bartholomäus stand auf, drängte sich an Michael vorbei und ging zwei schweren Kirchentüren. Bartholomäus ging sehr langsam, als wäre er sich nicht ganz sicher, ob er tatsächlich schon gehen wolle. Michael schaffte es noch, ihn einzuholen.
Er packte Bartholomäus an der Schulter, nur ganz leicht. In seinem Kopf tobte ein wahrer Wirbelsturm, er suchte nach Worten der Entschuldigung, fand aber nicht gleich welche. Der Junge löste sich nicht von der Berührung gelöst, wies ihn nicht ab, war stand noch immer da, den Kopf gesenkt.
"Es tut mir leid.", sagte Michael dann nach einigen Minuten, zwei Finger unter das Kinn des Jungen gelegt und den Kopf leicht nach oben gedrückt, damit dieser ihn ansah. "Ich habe mich dumm verhalten, Bart, ich hoffe, du kannst mir verzeihen." Und er lächelte den Jungen an, versuchte, ihn zu verstehen zu geben, dass dieser sich in jeder Situation an ihm wenden könne. Der Junge sahaus verlegenen Augen zu Michael hinauf, dann nickte. Er schaute dem Priester in braunen, gutmütigen Augen, als suche er etwas tief Verborgenes in ihnen. Wieder lag etwas vollkommen anderes in den Augen des Jungen. Doch Pater Michael konnte wieder nicht sagen, was es war.
Vielleicht Verständnis. Oder wars es Mitleid? Weil er sich so dumm gegenüber dem Jungen verhalten hatte? Plötzlich schlang der Junge die Arme um Michaels Körper und drückte sich fest an ihm. Das Gesicht er in den groben, dunklen Stoff gedrückt, als wolle er nicht, dass jemand seine Tränen sah, doch er weinte, stand einfach ruhig da und saugte Geruch ein. Dann hatte Michael seine Arme um den schmächtigen Körper des Jungen gelegt, so, wie es manchmal Michaels Mutter bei ihm getan hatte, wenn er traurig war. Er spürte wieder dieses Verlangen in sich aufkeimen und auch der Junge musste etwas spüren, aber vielleicht war es schon die ganze Zeit in dem Jungen gewesen, denn dieser hatte nun damit begonnen, den Rücken des Paters zu streicheln. Genau konnte Pater Michael nicht sagen, was dann geschehen war, aber er musste durch die sachten Berührungen schwach geworden sein. Sie schauten einander an - er konnte sich nicht von den klaren blauen Augen des Jungen lösen - und dann, als hätte eine unbekannte Macht die Kontrolle über sie beide gewonnen, küssten sie sich. Als sich ihre Lippen das erste Mal trafen, war etwas in Pater Michael losgebrochen, dessen er sich nicht erwehren konnte.
Anfangs waren es noch schüchterne und unsichere Küsse gewesen, doch bald wurden sie stürmischer und voller Verlangen. Pater Michael spürte, wie sein Penis sich aufrichtete und er sich unwillkürlich näher an den Jungen drückte, damit auch er spürte, wie dieser ihn erregte. Wenige Minuten später lagen sie zusammen auf dem kalten Kirchenboden, die nackten Leiber aneinander gepresst, schwitzend. Der Junge noch leicht keuchend vor Anstrengung. Der hatte sich dann hastig angezogen, als wäre ihm erst in diesem Moment klar geworden, was sie beide da eben getan hatten. Als wäre ihm soeben erst die Tragweite ihres Vergehens klar geworden. Auch Pater Michael, der anfangs irritiert war, aber versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, hatte dann seine Sachen zusammengesucht, hielt sie aber noch in seinen Händen, nackt, zwischen den vielen Reihen der Holzbänke, den Mariastatuen, den Kreuzen, an denen Jesus an Händen und Füßen genagelt war, und den kunstvollen Buntglasfenstern. Angreifbar und verletzlich. Im Gesicht des Jungen war wieder diese Strenge zurückgekehrt und seine Augen hatten wieder dieses dämonische Glühen. Seine Lippen waren zu einem dämonischen Grinsen verzerrt. Vor Schreck hatte Pater Michael seine Kleider fallen lassen.
"Michael, du weißt so gut wie ich, dass du dafür in der Hölle schmoren wirst, oder? Dass es für das keine Vergebung geben wird." Michael war zurückgestoplert und beinahe auf eine der Bänke gefallen. "Du weißt, dass ich darüber mit meinen Eltern reden muss, weil es mich andernfalls innerlich zefressen wird. Und das möchte doch keiner von uns, oder? Ich bin jung, habe noch viel vor im Leben. Wenn ich da nicht mit jemanden drüber rede, dann werde ich mich ewig fragen, warum? Wen will ich eigentlich schützen? Einen kleinen perversen Priester? Das ist es nicht wert. Du bist es nicht wert. Und jetzt, lebwohl, kleiner Michael." , der Junge gegrinste böse und Pater Michael glaubte für einen Moment, dass sich das Mienenspiel des Jungen verändert, sich zu einer Grimasse verzog. Ein Dämon. Doch dann hatte sich das Gesicht wieder zu dem des Jungen zurückverwandelt und ein schwacher Hauch von Traurigkeit lag in den kindlichen Zügen. "Ach, und noch was..", der Blick des Jungen war wieder dämonisch. "Was du auch versuchst, du wirst dem nicht entkommen, im Gegenteil, es wird nur noch schlimmer werden, je mehr du dich dagegen zu sträuben versuchst!", der Junge grinste und Michael sah vielen kleinen spitzen Zähne aufleuchten. Er erschrak.
Die Kehle von Michael schnürte sich fester zusammen, er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, seine Knie zitterten wie Grashalme im Wind und er ging von den Worten Bartholomäus zu Boden, winselte, bat den Jungen um Verzeihung. Flehte in an, nichts zu sagen. Doch dieser stand nur wie ein übermächtiges Wesen da und schaute auf den winselnden Michael hinab, dann kehrte er ihm den Rücken zu und ließ ihn mit all seiner Schuld und all seinen Sünden zurück. Michael hatte erst wieder vom Boden aufgeschaut, als er allein war. Aber er konnte nicht zulassen, dass der Junge mit jemanden darüber sprach, er musste es verhindern - deswegen stürzte er nackt wie er war nach draußen in den Regen, um nach dem Jungen zu schauen, doch dieser war schon verschwunden. Dort war nur Finsternis und der Regen, der gnadenlos auf ihn hinabprasselte.
Dann war er wieder zurück ins Trockene gegangen, hatte seine Sachen zusammengesucht, sie sich angezogen und sämtliche Kerzen ausgemacht. Mit der üblichen Routine, wie er sie sonst auch an den Tag legte. Er hatte im Dunkeln vor dem Altar gehockt und Gott um Vergebung angefleht, doch eine Stimme in seinem Kopf sagte, dass er niemals von seinen Sünden freigesprochen werden würde, dass er auf ewig mit dieser Last werde leben müssen. Es war die Stimme von Bartholomäus, die er hörte, als stünde dieser in diesem Moment neben ihn. Doch niemand war hier. Er hockte allein vor dem Altar in der Dunkelheit und weinte. Dann war er in seine kleine Zelle gegangen, hatte sich unter unzähligen Vater-Unser gegeißelt, bis er kraftlos zusammengebrochen war und von einer tiefen Ohnmacht umspült wurde.
Der Sturz kam Pater Michael ungewöhnlich lang vor, so als müsse er noch mit allem aufräumen, bevor er ins Dunkle, ins Ungewisse stürzte. Und plötzlich, wie durch eine Eingebung, zweifelte er an Himmel und Hölle, zweifelte daran, dass seine Seele in den Höllenfeuern brennen würde. Er glaubte von nun an, dass um ihn herum nur Dunkelheit und Vergessen herrschen werde, sobald sein Körper auf den nasskalten Asphalt klatschte.
Plötzlich hatte er keine Angst mehr, weil er sich nun sicher war, dass es nichts gab, wovor er hätte Angst haben müssen. Da war nichts, da würde auch nie etwas sein. Der Junge, so glaubte Pater Michael, war eine ihm von Gott gestellte Probe gewesen, doch er hatte versagt. Er hatte dem Dämonen, von dem der Junge - dessen war Michael sich sicher - besessen war, nicht widerstehen können, er hatte ihn in Versuchung gebracht, hatte sich wie einen leblosen Faden um den Finger des Jungen wickeln lassen. Er war ein Narr. Nach ihrer ersten Begegnung hatte Pater Michael schon ein komisches Gefühl gehabt, es aber ignoriert. Es war, als habe sich vor den zwei Kirchentüren all sein Verlangen und Begehren in Form dieses einen Jungen zusammengefunden. Ja, er war auf die Probe gestellt worden und hatte jämmerlich versagt.
Aber das war nun nicht mehr wichtig, denn der Asphalt raste weiter auf ihn zu wie ein führerloser Zug und in den nächsten Momenten würde sein Gehirn einfach aufhören zu funktionieren. Nur noch wenige Meter. Er schloss die Augen, versuchte an nichts mehr zu denken, gab sich ganz der Dunkelheit hin und er hörte noch immer das Flattern seiner Kleidung, spürte noch immer den Druck auf seiner Haut, die unsichtbare Hand, die gegen seine Brust drückte, als wolle sie verhindern, dass er auf den Boden klatschte. Aber die Hand war nicht stark genug, um ihn wieder auf das Gebäude zurück zu drücken, und er wollte auch nicht mehr leben, und um dies deutlich zu machen, stemmte er seine Brust gegen den Druck, der auf ihr lastete. Dann plötzlich: Ein unglaublicher Schmerz explodierte in Pater Michaels Körper, als dieser auf den Asphalt vor dem Hochhaus aufschlug, und für einen Moment wurde alles um ihn herum schwarz. Die Schmerzen verebbten.
Dann erwachte er keuchend und hustend, schaffte es aber nicht, sich zu rühren. Er müsste doch eigentlich tot, in der Hölle oder im Nichts sein. Aber er spürte die Tropfen, die auf seine nach oben gewandte Wange fielen. Da er Schmerzen spürte, konnte er doch unmöglich tot sein? Und die Tropfen waren so real wie der nasskalte Asphalt, den er unter seinen Finger spürte. Was geschah hier nur? Wollte man ihn nicht so einfach davonkommen lassen? Sollte er weiter unter der Last seiner Sünden leiden? Hatte das der Junge gemeint? War das die Hölle, die ihm von nun an bevor stand? Würde er auf ewig mit dieser Schuld leben müssen? Bevor er die Kirche verlassen hatte, hatte er sich seine einfache Straßenkleidung angezogen, die aus einem Cordsakko, einem schwarzen Hemd, einer dunklen Jeanshose und schwarzen Schnürschuhen bestand.
Er war froh, dass er sich gegen seine Pastorenkleidung entschieden hatte. Da er entgegen aller physikalischen Gesetze noch am Leben war, hätte er, im Fall, er hätte sich doch für die Priesterenkleidung entschieden, diese nur unnötig beschmutzt und das sicher sehr bereut. Er war am Leben. Sollte er von nun an bis zum Ende aller Tage herumwandeln wie ein Zombie, der nicht sterben konnte und von Sünden geplagt war?