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Michael Jackson, Edgar und der Traum vom Menschsein

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19.06.2002
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Michael Jackson, Edgar und der Traum vom Menschsein

Kurz vor Mitternacht ist es beinahe überall auf der Welt dunkel. So auch in Edgars Kopf, denn Edgar war erfüllt von finsteren Gedanken – genau so, wie man es von einem Vampir erwartet, denn Edgar war ein Vampir.

Er stapfte mit mürrischem Gesicht durch die Nacht, die Hände tief in den Taschen vergraben, und verfluchte im Stillen sein Nicht-Leben. „Dunkelheit“, dachte er, „wohin man auch blickt, immer nur Dunkelheit. Was würde ich darum geben, nur ein einziges Mal bei hellem Sonnenschein durch die Stadt zu spazieren!“ Er hatte es versucht. Einmal. Natürlich hatte er seinerzeit Vorsichtsmaßnahmen ergriffen und seinen Körper unter der Kleidung komplett in Alufolie eingewickelt. Sein Gesicht hatte er mit Sonnenmilch getüncht, so dass es sogar noch blasser wirkte als gewöhnlich. Auf den Kopf hatte er sich eine zerzauste, dicke, schwarze Perücke gesetzt und seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen gewesen. Dennoch waren nach wenigen Minuten plötzlich Rauchwolken von ihm aufgestiegen.
Immerhin hatte Edgar damit eines erreicht: Er war für einige Sekunden lang wirklich berühmt gewesen. Die Leute hatten mit den Fingern auf ihn gedeutet und ihn mit dem Namen „Michael Jackson“ belegt, während Edgar, qualmend wie ein angeschossener B-17-Bomber, im gestreckten Gallopp zu seiner Kellerwohnung gesaust war. Die Alufolie hatte dabei Geräusche erzeugt, als würde Edgar in tropfnassen Kleidern stecken. Bis auf einige Sekunden Popularität und einem sagenhaften Sonnenbrand hatte ihm die Angelegenheit nichts eingebracht. Im Gegenteil: Hätte er sich selbst nur noch wenige Sekunden länger der Sonne ausgesetzt, wäre er mit einem spektakulären Knall explodiert, was Vampire nun einmal so tun, wenn sie zu lange gebraten werden.

Auch sein Speiseplan trug nicht gerade zu Edgars Erheiterung bei. Heute sollte es Blut geben. Im Grunde genommen wäre das nicht übel gewesen. Doch gestern hatte es bereits Blut gegeben, ebenso wie vorgestern. Und morgen würde es wieder Blut geben. Edgar seufzte laut ob dieser Eintönigkeit.
Er hatte bereits versucht, ein klein wenig zu variieren und nicht ausschließlich junge, gutaussehende Mädchen anzuknabbern. Zuerst hatte er sich einen Burschen vorgeknöpft, der gerade aus einer Kneipe gekommen war. Daraufhin war Edgar in den frühen Morgenstunden sturzbetrunken nach Hause gekommen, mit den Kleidern in den Sarg gestiegen, hatte sich übergeben und war am nächsten Abend mit einem legendären Kater aufgewacht.
Später hatte er es dann bei einem Pastor versucht und war bei dem Versuch beinahe verhungert, weil der alte Knacker fast blutleer gewesen war. Nein, das war auch nicht die Lösung gewesen. Die jungen, hübschen Mädchen mussten auch weiterhin herhalten.

Edgar steckte in einer handfesten Krise. Niemand mochte ihn, alle fürchteten ihn. Die Menschen liefen schreiend vor ihm weg, wenn er nicht gerade einmal tagsüber die menschliche Fackel spielte, und die Hunde bissen ihn, wenn sie ihn zu fassen bekamen. Edgar dachte dabei an die unheimliche Begegnung, die er vor einem Monat gehabt hatte. Ein riesenhafter, zerzauster, grauer Köter war plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte Edgar herzhaft in den Allerwertesten gebissen. Der Schrei, der Edgars Kehle dabei entfleucht war, hätte Joe Cocker glatt vor Neid erblassen lassen! Und der Hund war hartnäckig gewesen. Nachdem Edgar ihm beherzt einen Klaps auf die Nase gegeben hatte (genaugenommen hatte er dem Vieh einen Schwinger versetzt, der selbst Mike Tyson auf die Bretter geschickt hätte), war die Töle nur noch aggressiver geworden. Edgar war allerdings ein Vampir und verfügte damit über sagenhafte, übermenschliche Kräfte. Also hatte er den Köter kurzerhand geschnappt, bevor dieser ein weiteres Mal zubeißen konnte, und ihm die Gurgel umgedreht. Anschließend hatte er den Kadaver über die Schulter in irgendein Gebüsch geworfen. Das Vieh war wirklich groß gewesen. Und schwer. Edgar schätzte sein Gewicht auf mehr als achtzig Kilogramm. Aber tot war tot war egal war vergessen, auch wenn der Hintern immer noch schmerzte.

Unter dem Strich gesehen war Edgars Nicht-Leben nicht mehr nicht-lebenswert, doch Selbstmord war für Edgar keine Option. Was hätte er auch tun können? Selbstpfählung war aufwändig und schmerzhaft und konnte ziemlich leicht danebengehen. Vergiften mit Weihwasser war ebenfalls ein grausiger Tod. Das Verdrücken einer Portion Spaghetti Aglio et Olio brachte im besten Fall drei Tage Dünnpfiff und die Selbstverbrennung bei Sonnenlicht nur einige erstaunte Blicke, viele Schmerzen und den Namen „Michael Jackson“. Selbstmord schied also völlig aus. Außerdem war Edgar ein Optimist.

„Ich könnte mein Leben umkrempeln“, dachte er. Es gab doch genug ehrenwerte Berufe, die nur nachts ausgeübt wurden. So konnte er beispielsweise Nachtwächter werden. Oder gar Nachtportier. Vielleicht könnte er in einer Nachtbar kellnern oder als Türsteher arbeiten. Mit seinen Vampirkräften konnte es niemand so leicht aufnehmen.

Je länger Edgar darüber nachdachte, um so mehr freundete er sich mit dem Gedanken an. Ergänzend konnte er einen Arzt aufsuchen. Einen echten Spezialisten, der vielleicht sogar etwas gegen Edgars Untotheit unternehmen konnte. Edgar stellte sich vor, wie schön es sein musste, plötzlich wieder ein normaler Mensch zu sein, der alterte und in Frieden sterben konnte. Wer weiß, vielleicht wurden bei dieser Gelegenheit sogar die Medien auf ihn aufmerksam und er wurde ein Star. Schließlich wäre er der erste Vampir, der sich öffentlich als Vampir outete. Auftritte in Late-Night-Talks wären plötzlich möglich, und Edgar spielte sogar für einen Moment mit dem Gedanken, den Künsternamen „Michael Jackson“ anzunehmen.
Außerdem musste er etwas gegen diese Blutgier unternehmen. Vielleicht konnte man ihn für die Übergangszeit mit Blutkonserven aus dem Krankenhaus verköstigen. Das war 1a-lupenreiner Stoff! Wenn der Arzt dann eine Möglichkeit gefunden hatte, Edgars Vampirismus zu heilen, brauchte er das Zeug nicht mehr und konnte endlich einmal eine Portion Spaghetti Aglio et Olio verdrücken, was er sich schon so lange wünschte.

Als die Uhr gerade Mitternacht schlug, war die Dunkelheit für Edgar mit dem strahlenden Sonnenlicht der Zuversicht durchflutet. Er würde es schaffen! Er würde den Vampirismus besiegen und ein normaler Mensch werden. Sein Schattendasein würde ein Ende haben und es wäre nichts, aber auch gar nichts mehr an ihm, vor dem sich seine Mitmenschen fürchten müssten. Er könnte dann zur Kirche gehen und mit seinen Freunden auf Mitternachtsparties einen Drink nach dem anderen kippen, ohne permanent an Blut zu denken. Nichts Furchterregendes wäre mehr an ihm!

Edgar hatte gerade den festen Entschluss gefasst, gleich morgen einen Termin bei einem Internisten zu vereinbaren, als plötzlich sein spärlich vorhandenes Blut in Wallung geriet. Edgar wurde plötzlich immer hibbeliger und fragte sich, was wohl los war.
Die Antwort fand er, als er zum Himmel blickte. Dort stand der Vollmond und zog ihn augenblicklich in seinen Bann.
So voll.
So mondig.
So... nun ja, so vollmondig eben!
Edgar verspürte plötzlich den unbändigen Drang, mit den Füßen zu scharren. Mehr noch: Er musste einfach den Mond anheulen, was er auch umgehend in die Tat umsetzte. Das Geräusch, das er dabei erzeugte, klang wie eine Mischung aus einer Luftschutzsirene und Jimmi Somerville, doch es brachte Erleichterung.

Edgar war völlig verwirrt. Was war nur los mit ihm? Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Je länger er den Mond anblickte, desto länger schienen auch seine Vampirzähne zu werden.
Nein, nicht nur die Vampirzähne.
Alle Zähne in seinem Mund wurden länger!
Erschrocken blickte Edgar auf seine Hände, die plötzlich unerträglich juckten. Auf seinen Händen wuchs Fell!
Dichtes, graues Fell!

Dann kam die Erkenntnis: Es war der Hund gewesen. Der verdammte Hund, der ihn in seinen Allerwertesten gebissen hatte. Doch das war kein normaler Hund gewesen, sondern ein Wolf. Besser gesagt, ein Mensch, der die Gestalt eines Wolfes angenommen hatte. Und Edgar hatte nichts gemerkt...

Edgars Gesicht verwandelte sich rasend schnell in eine verzerrte Werwolfsfratze. Und während all seine Träume von einem normalen Menschsein wie eine Seifenblase zerpoppten und dem Licht der Zuversicht die Birne platzte konnte er gerade noch laut ausrufen:

„Oh Scheiße! Auch das noch!“

 

Wow das ist eine Geschichte! Meiner Meinung nach, das Beste bisher, was ich von Dir kenne. Der Witz ist echt saukomisch und vor allem, du ziehst das Ganze von vorn bis hinten durch.

Die Schreibe ist locker, flüssig und spassig und man liest das Ding in einem Ruck runter.

Die Idee finde ich sehr gut!

Alles in allem eine gelungene Erzählung, die mich davon überzeugt, das Satiren und Komik durchaus mein Ding sein können (vom lesen her).

Also Kompliment und hoffe noch mehr von Dir zu lesen, das diese Qualität und diesen Ideenreichtum aufweist.

Gruß
Marcel

 

Hi Captain Hate,

die Geschichte ist in meinen Augen gut gelungen. Vor allem der Schluss ist so herrlich tragik-komisch, das gefällt mir außerordentlich.
Hier allerdings:

Doch das war kein normaler Hund gewesen, sondern ein Wolf. Besser gesagt, ein Mensch, der die Gestalt eines Wolfes angenommen hatte. Und Edgar hatte nichts gemerkt...
erklärst Du für meinen Geschmack zuviel. Ich weiß spontan auch nicht wie ich es umformulieren würde, vielleicht stört es auch andere gar nicht und es passt so, war nur mein erstes Empfinden.
Der Titel ist schön originell, erinnerte mich spontan an "Mr. Daniels, George A. Romeros Tankstelle der Vergessenen und ich" von JackTorrance. Hab deswegen aus Neugierde angeklickt. ;-)

 

Guten Morgen & vielen Dank, Badfinger & Ginny-Rose!

Wat schön, dass euch mein erster Ausflug in das humorige Genre gefällt. Und dabei ist diese Story aus einer "Blitzeingebung" heraus entstanden. Auf Badfingers Site läuft nämlich derzeit eine Ausschreibung mit dem Titel "Wenn die Uhr Mitternacht schlägt..." Kaum hatte ich die Vorgabe gelesen, da stand Edgar auch schon vor mir und stierte mich blöde an :D

Eines muss ich offen gestehen: Als ich den Titel ausbrütete, hatte ich Jack's Geschichte tatsächlich im Hinterkopf. Diese Aneinanderreihung von scheinbar zusammenhanglosen Schlagworten ist irgendwie immer ein schöner "Anheizer".

Was die Passage mit dem Wolf angeht: Stimmt! Je öfter ich sie lese, desto platter kommt sie mir selbst vor. Ich werde da etwas Neues, Strafferes ausbrüten.

Den Edgar habe ich selbst mittlerweile übrigens so liebgewonnen, dass ich schon mit dem Gedanken gespielt habe, ihm noch einiges anzutun. Allerdings glaube ich, dass der Ärmste schon genug bedient ist, deswegen wird es wahrscheinlich keine weitere Edgar-Geschichte mehr geben.

 

Kaum hatte ich die Vorgabe gelesen, da stand Edgar auch schon vor mir und stierte mich blöde an
:rotfl: Ich kann es mir richtig vorstellen ...
Ich finde Edgar auch klasse, von dem würde ich gerne nochmal was lesen - aber ich hab Veständnis dafür, wenn Du ihm nicht noch mehr Leiden zufügen magst ... ;)

 

@Ginny:

So ganz ist die Sache noch nicht vom Tapet, denn Edgar steht immer noch hinter mir und guckt mir über die Schulter. Ich kann mich einfach nicht so ganz von ihm losreißen... :rotfl:

 

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