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Michałs Suche
Als ich ein Kind war, trieb mich die Angst vor dem Sterben beinahe in den Wahnsinn. Nächtelang lag ich wach und stellte mir den Tod vor; stellte mir (etwas idealisiert) vor, wie ich langsam darnieder gehen würde, um dann letztlich mit einem schwachen Atemzug zu sterben. Dieser Moment war für mich irrational, ich stellte ihn mir vor als bestialischen Schmerz, der alles nimmt, was mir das Leben gegeben hat; der mich zerreißt und meine Einzelteile in den Tiefen des Universums verteilt. Es war eine Qual; ich wälzte mich im Bett hin und her, war schweißgebadet und wimmerte leise vor mich hin, bis meine Eltern kamen und mich trösteten. Doch auch sie waren ratlos und konnten mir die Angst nicht nehmen. Lediglich mein Großvater, ein einfacher, alter Mann, nahm mich mit der ihm eigenen plumpen Zärtlichkeit in den Arm, und zwischen meinen Tränen sah ich sein verwittertes Gesicht, das zu mir sagte, dass der Tod manchmal weniger Angst mache als das Leben. Ich beruhigte mich, doch ich verstand nicht. Wie sollte der Tod nicht ängstigen, wo doch danach nichts kam? Meine Erziehung war – wie zu jener Zeit üblich – stramm atheistisch, weshalb man vergessen hatte, mir eine plausible Idee des Jenseits zu vermitteln. Einen Fünf- oder Sechsjährigen mit überdurchschnittlicher Phantasie stellt dies vor ein Rätsel, das ich auf meine Weise gelöst habe: Ich beschloss, nicht zu sterben.
Nach dieser Entscheidung war mein Schlaf wieder tief und meine Nächte voller Träume. Ich begriff diesen Beschluss als geheimen Pakt mit einer mir unbekannten Macht (Gott war mir noch unbekannt), der es mir erlaubte, mein Leben bis ins Unendliche auszudehnen. Als ich älter wurde, geriet dieser Pakt schnell in Vergessenheit, und spätestens nachdem ich mich um des Verdrängens pubertärer Aufwallungen willen mit den Werken der französischen und russischen Existenzialisten beschäftigte und mich tatsächlich in die von ihnen beschriebenen „farblosen Wüsten des Denkens“ begab, verlor die Angst vor dem Tod ihre Kraft. Fortan begriff ich das Sterben weder als erstrebenswerten Höhepunkt noch als furchteinflößende und durch niemanden zu bestehende Prüfung, sondern als das, was es ist: Als kontradiktorisches Antonym zur Geburt.
Als mein Großvater starb, erfuhr ich eine ganz andere Geschichte. Sie stellte meine Erfahrungen und meinen Lernprozess zur Überwindung meiner unsagbaren kindlichen Angst in ein neues Licht. Ich las diese Geschichte in einigen alten, vergilbten Briefen, die nach seinem Tod auftauchten und die in unserer Familie als „Rigaer Korrespondenzen“ bekannt wurden. Genau genommen handelte es sich eher um ein fiktives Tagebuch in Briefform, da es (so zumindest die Interpretation) keinen Briefpartner gab.
In ihnen wird die Geschichte eines Mannes namens Michał erzählt, der Nacht für Nacht im Rigaer Hafen umher streift. Ein charakterloser, leerer Hafen; ein Industriemoloch mit verrosteten Kränen und Containern, in dem sich tagsüber noch betrunkene Tagelöhner als Hafenarbeiter verdingen. Monotones Knirschen und Knarzen beim Entladen der Schiffe beherrschte den Alltag, und hektisch füllten sich die Hallen. Abends, wenn sich die Hafenstraßen leerten und die knapp beleuchteten Spelunken füllten, versanken selbst die sonst aufgeregten Möwen in einer rätselhaften Lethargie; als wäre die Tristesse des Tages nach Sonnenuntergang tausendmal potenziert.
Die „Rigaer Korrespondenzen“ beschreiben detailliert, wie Michał Nacht für Nacht durch diesen Hafen zog. Er schlich durch lange Schatten, selber nur ein Schatten, und war auf der Suche nach etwas, von dem er nicht wusste, was es war. Hin und wieder ließ er sich nieder und versank in kurzem, heftigem Zittern. Dann setzte er seine Spaziergänge fort. Er ernährte sich hauptsächlich von Zwiebeln. Und von Milch, die er täglich noch vor Sonnenuntergang von einer alten Lettin namens Ieva erhielt (Die sich trotz ihres Alters als Prostituierte hergab, um sich ein Zubrot zu verdienen. Dennoch überließ sie Michał täglich einen halben Liter Milch). In manchen Nächten beobachtete er stundenlang das gekräuselte Meer, das sich der allgegenwärtigen Lethargie unterzuordnen schien. Nur gelegentlich revoltierte es und ließ in einer wahnsinnigen Wut gewaltige Wellen gegen die Kaimauern schlagen, deren Brandung im Dunkeln wie eine drohende Kavallerie wirkte. Michał focht das nicht an. Er warf sich in die Brandung, ließ die Wellen gegen seine Brust prallen und drang in sie ein. Er ließ sich von ihr vergewaltigen, doch sie ließ ihn im Stich. Auch die brandende See konnte ihn nicht von seiner Krankheit heilen. Was blieb, war seine nasse Kleidung.
Ein anderes Mal erklomm Michał nach einer langen Nacht des Umherstreifens einen der altersschwachen, aber imposanten Kräne, die ihre langen Ausleger wie dürre Äste über die See hielten. In schwindelerregender Höhe zog er sich auf einem Metallträger, der den Abschluss des obersten Auslegers bildete, nach vorne. Lange blickte er auf den düsteren Hafen, die daran anschließenden niedrigen Häuser, aus denen dumpfe Musik drang, sowie die am Horizont erkennbaren Lichter der Stadt. Er saß lange so, zusammengesunken im fahlen Mondschein, bis er sich mit einem Ruck hinab stürzte, auf den Asphalt des Hafengeländes, welcher tagsüber unter unzähligen Stiefeln verborgen lag.
Michał starb nicht. Michał war krank, und seine Krankheit war die Unsterblichkeit. Aus den Aufzeichnungen meines Großvaters ging hervor, dass Michał um die Zeit der Livländischen Kriege geboren wurde. Als Kind schon musste er Vieh hüten, und als eines Tages ein Bulle durchging und ihn mit seinen Hörnern aufspießte, überlebte er dies trotz seiner schweren Verletzungen. Es war wie ein Wunder, und nach kurzer Zeit wich die spontane Freude der Angst. Der Einfluss der Kirche war groß in dieser Zeit, sie verurteilte das „Wunder“ als teuflische Krankheit, und so wurde Michał aus dem Dorf verjagt. In einem Sumpfgebiet baute er sich eine Kote, und hier schlich er jahrhundertelang umher, während sich die Stadt am Rande des Sumpfgebietes immer weiter ausdehnte und dieses schließlich trockengelegt wurde. Erst wurden einzelne Häuser errichtet, dann eine Armensiedlung, dann der Hafen. Michał bemerkte den Wandel kaum, hatte er sich doch selber kaum gewandelt: Als Folge der Einsamkeit und der Trauer über die erzwungene Isolation sowie die jahrhundertelange Mangelernährung mit Zwiebeln (etwas anderes gab es in den Sümpfen nicht) war er körperlich wie geistig auf der Stufe eines Sechzehnjährigen geblieben.
Michał verfluchte seine Krankheit. Trotzdem er sich der Ewigkeit seines Lebens bewusst war, hoffte er auf Heilung. Wahrscheinlich konnte er mit dem Begriff der „Unendlichkeit“ schlichtweg nichts anfangen; alles, was er in den Sümpfen sah, hatte irgendwann ein Ende: Die Bäume, die Sträucher, die Eidechsen und Frösche. Die Schwalben und Kiebitze, die Schnepfen, Blesshühner und Kraniche. Der Herbst und der Winter. Die Nächte, in denen er fror, und die heißen Tage. Die Momente der Verzweiflung, die Stunden der Sehnsüchte, die wenigen Augenblicke der Euphorie. Wahr ist aber auch, dass er mit dem Tod nichts anfangen konnte. Das Ende eines Frosches war für ihn das gleiche wie das Ende einer Nacht. Austauschbar, ein Moment wie jeder andere, keinesfalls ewig. Dass er selber nicht sterben würde, war für ihn zwar Folge seiner Krankheit und er bedauerte zutiefst, nicht sterben zu können. Doch er bedauerte es nicht aus Sehnsucht nach dem Tod, sondern vielmehr, weil er diesen als wichtigen Teil des Lebens ansah, so wie unsereins trauern würde, wenn er einen Finger verlieren würde oder einen Arm. Dieser ungeklärte Widerspruch zwischen Unendlichkeit und Tod ließ Michał nach und nach verzweifeln, und er zog sich immer mehr zurück und verließ seinen Unterschlupf nur noch nachts. Er wollte sich von seiner Krankheit befreien; erst zaghaft, dann immer mehr mit Gewalt wollte er sich das Leben nehmen (das er sich nicht nehmen konnte). Er stürzte sich von Kränen, in die Schrauben startender Schiffe, richtete sich selber mit Revolver, Strang, Rattengift. Doch Erfolg hatte er keinen. Nachts durch die Schatten des Hafens zu streifen, in Gedanken versunken und sich noch vor Sonnenaufgang das Leben nehmen war zu seiner ewigen Beschäftigung geworden. Doch nie löste er den Widerspruch auf, nie begriff er, dass Tod und Unendlichkeit dasselbe sind.
Nachdem Michał in jener trüben Nacht auf den Asphalt gestürzt war und wie üblich lediglich einige Schrammen davongetragen hatte, schlich er weiter durch den Hafen. Ein Geräusch holte ihn aus seinen Gedanken. Hinter einem Berg alter Ölfässer lag die alte Prostituierte Ieva und wimmerte leise. Michał nahm ihren Kopf und sah an der linken Schläfe eine klaffende, blutende Wund, wie von einem Schlag oder einem schweren Sturz. Ieva öffnete die Augen, und als sie ihn sah, fing sie an zu weinen:
„Mein Sohn, meine liebe Erde, mein Mütterlein...Ach...ach...Trage mich! Sättige mich! Laima hat‘s mir gegeben und jetzt wieder genommen...ach! Ach! Aber es ist gut wie's ist, Mütterlein...“.
Müde wie vor einem langen Schlaf sank ihr Kopf tiefer und tiefer in Michałs Hände. Ihre Stimme wurde brüchiger, und auch das Zittern ließ nach.
„Žemyna wartet bereits am Friedhofseingang, ich sehe ihre zarten Glieder….Mein Sohn, mein Sohn! Lebe, du sollst bleiben, während ich gehe! Žemyna hat es so gewollt…“
„Aber ich kann nicht leben, wenn ich nicht sterben kann!“ rief Michał.
„Mein Sohn, verzweifle nicht! Lerne den Tod kennen, und du wirst das Leben kennenlernen. Ich habe es andersrum gehalten, und es war gut wie es war….“
„Mütterlein, wie soll ich denn den Tod kennenlernen?“
„Frage die, die ihn erlebt haben…ach! Ach! Es ist gut, wie’s ist! Es ist gut, wie‘s ist…“ erwiderte die alte Prostituierte, deren Güte und Wohltaten weit über den Hafen hinaus bekannt waren, und mit einem letzten Röcheln sank sie tief in Michałs Arme.
Trost und Leid liegen nah beieinander, und das Maß an Trost, das Michał in dieser trüben Nacht spendete, schien sich mit dem Leid aufzuwiegen, das er empfand. Ieva’s Ratschlag zwang ihn zu einer ununterbrochenen Schlaflosigkeit, die ihn an die dunkelsten Stellen des Hafens trieb. Seine apathischen Selbstmorde waren vergessen, und wie getrieben suchte er in den schwärzesten Schatten nach Spuren derer, die den Tod erlebt haben. Es war nicht einfach, viele Nächte irrte er umher, hilflos, schutzlos. Am Ende war ihm nicht einmal mehr wirklich bewusst, was er eigentlich suchte; die Suche selber war es, die ihn beschäftigte, nicht das Ziel. Er hatte keinen Lehrer und auch kein Instrument, seine Methode war der bloße Wille. Wäre ihm bewusst gewesen, dass es eigentlich der falsche Ort war, hätte er seine Suche wahrscheinlich aufgegeben und hätte seine ewigen nächtlichen Spaziergänge erneut begonnen.
Ein weißbärtiger Lotse bedeutete schließlich den Anfang vom Ende seiner Suche. Dieser Lotse war bereits seit Jahren tot, zerschellt an einem finnischen Schoner. Für Michał eröffnete sich somit der Vorhang zu dem schwarzen Theater, auf dessen Bühne der letzte Teil der makaber-süßlichen Trilogie – mal Tragödie, mal Komödie, aber immer mit einer definitiven Schlusspointe – aufgeführt wurde. Das Stück begeisterte Michał natürlich, und obwohl ihm die die beiden ersten Teile bereits bekannt waren, wurde der logische Zusammenhang und somit der Sinn dieser Teile erst durch den dritten Teil klar. Es schien chaotisch: Souffliert wurde nicht, und unter einem dauerhaft beleuchtetem Firmament, das so oder ähnlich bereits durch Thales dokumentiert wurde, wurden scheinbar Schicksale wie die losen Enden von Fangschnüren aneinander geknüpft. Michał traf auf Matrosen, Kranfahrer, Lageristen, Vorarbeiter, Schiffshandwerker, Tagelöhner, Wirte, Hafenarbeiter, Prostituierte, Säufer und Schläger, Bettler und Diebe, Viehhirten, Torfstecher, Holzfäller und Baumarbeiter, Edelmänner und Halunken – alle längst gestorben und dem morastigen Grund des Hafengeländes entstiegen. Sie alle trugen ihren Teil zu der Aufführung bei, sie alle bewirkten, dass sich der schwere Vorhang des schwarzen Theaters für Michał nicht mehr schloss; mehr noch, er betrat die Bühne und begann, seine eigenen Fäden zu knüpfen, willkürlich und unbedacht, lediglich seinen Instinkten folgend. Und letztlich ließ ihn der abgeschlossene und dreigeteilte Handlungsstrang erkennen, dass Unendlichkeit und Tod zwangsweise eins sein müssen, und das Eine ist zwangsweise vom Anderen abhängig: Will ich die Unendlichkeit besiegen, muss ich den Tod besiegen; wähle ich den Tod, nehme ich auch die Unendlichkeit, undsoweiter.
Diese Erkenntnis drehte Michał gegen sie selber, und somit besiegte er seine Krankheit: Er starb. Doch er starb nicht physisch; sein Körper blieb immerfort sein Körper. Vielmehr hatte er seine eigene Art des Sterbens gefunden: Er starb, und wurde im gleichen Augenblick neu geboren. Er lebte ein Leben und beendete es, sobald der richtige Zeitpunkt gekommen war. Er lebte Leben auf Leben; er bekämpfte die Unendlichkeit mit dem Tod. Er entkam den langen Schatten des Hafens und beendete sein nächtliches Herumstreichen, und er schaffte letztlich das, was die französischen und russischen Existenzialisten immer erreichen wollten: dem Leben durch das Leben vieler Leben zu entkommen. Indem er viele Leben lebte, war er in der Lage, sein eigenes Leben zu leben, dann das meines Großvaters, dann das meines Vaters, letztlich meines. Und alle diese Leben als Bestandteil eines Lebens waren voneinander abgetrennt durch einen nichtphysischen Tod, ein lebendiges Sterben, das die Trilogie (oder das Triptychon) aus Geburt, Leben und Tod neu beginnen lässt, einschließlich aller Ängste, aller Glücksgefühle, aller Erinnerungen.