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Mich zu holen
Jochen sah müde aus, wie er dort auf den Stufen zum Vorgarten saß. Ein dünner Rauchfaden wand sich seinen Hemdsärmel hinauf, die Zigarette war bereits zur Hälfte verglüht.
„Mach Dir keinen Kopf! Das wird schon wieder.” Als ob er der Typ wäre, der sich schnell einen Kopf machte. Und was genau meinten alle, wenn sie das wird schon wieder sagten? Was sollte wieder werden? Er warf die Zigarette weg und ging nach drinnen. Die Luft war warm und feucht, es roch nach Desinfektionsmitteln. Der Kammerjäger war noch nicht lange weg.
Was passiert mit mir? Was ist das?
Er nahm die Seiten, die er so oft gelesen hatte, ein weiteres Mal zur Hand. Was er las, setzte ihm zu – mit jedem erneuten Lesen wieder. Jedes Wort ließ die Unruhe ein Stück weiter in ihn hineinkriechen, bis sie einen Punkt ihn ihm erreichte, den er selbst nicht kannte und sich dort festkrallte. Doch diese beiden Fragen waren es, die ihn verfolgten. Die mit jedem seiner Herzschläge in ihm widerhallten. Die ihn im Wachen und im Schlaf beschäftigten.
Letzten Freitag:
Ich kam spät nach Hause. Der Tag war anstrengend, und ich war froh, mich in meinen Sessel lümmeln zu können. Nichts weiter als ein Teil des dunkeln Zimmers zu sein. Selbst nach acht Jahren Projektleitung bin ich nicht gelassener geworden. Immer noch schaffen sie es, mich nervös und wütend zu machen. Diese verdammten Idioten!
Die ersten Zeilen konnte er längst auswendig. Ja, sie ließ sich viel zu schnell aus der Ruhe bringen. Er sah sie vor sich, wie sie, wie immer, wenn sie über die Arbeit sprach und sich dabei über sich selbst ärgerte, den Kopf schüttelte. Sie wirkte mutlos, in seiner Vorstellung noch mehr als gewöhnlich. Sie hatte immer Schwierigkeiten, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Ihren wirbelnden Gedanken Struktur zu verleihen, und sich ihrer Umwelt mitzuteilen. Warum hatte sie diesen Text geschrieben, statt mit ihm zu sprechen? Jedes Mal kam er zu dieser Frage und jedes Mal nagten Zweifel an ihm: Hatte sie es versucht? Er hatte sich seit Wochen zu wenig Zeit für sie genommen, seine Arbeit über ihre Beziehung gestellt, wie sie ihm einmal vorwarf.
Er hoffte, sie käme zur Tür herein, risse ihm die Blätter aus den Händen, entsetzt darüber, dass er seine Nase in ihre Privatsphäre steckte. Wie gern stritte er jetzt mit ihr!
Ich war müde. Wie nach einem Marathon.
Irgendwann, eher weil sich der Aufruhr des Tages in mir nicht legte, als aus Hunger, ging ich zum Kühlschrank. Ich inspizierte den Inhalt in der Hoffnung, ein leichtes Abendessen zu finden. Doch wie schon so oft vorher, landete das, was ich Tage zuvor frisch gekauft hatte, in einer Mülltüte, und ich kehrte, nur mit einem Apfel in der Hand, ins Wohnzimmer zurück.
Freitagabend, Jochen saß noch im Büro, oder war er bereits unterwegs nach Berlin? Mir war klar, dass mit diesem Abend nichts mehr anzufangen wäre, und so schaltete ich sinnlos durch die Programme. Der Apfel war trocken und mehlig, also legte ich ihn nach ein paar Bissen zur Seite und überließ mich meiner schlechten Laune. Als die Anspannung des Tages sachte eingenickt war, fielen mir die Augen zu.
Es war an der Zeit, sich in die Welt des Schlafes zu flüchten und die Batterien wieder aufzuladen. Ich brachte den Apfel also in die Küche und stopfte ihn in die Mülltüte, zu den übrigen verdorbenen Lebensmitteln.
Wieder einmal nahm ich mir vor, meine Ernährung zu ändern und betrachtete dabei den Plastikbeutel, der zugeknotet darauf wartete, zur Mülltonne getragen zu werden.
Da sah ich, am Fußboden vor der Küchenzeile, eine Made liegen. Sie rollte ihren weißen, fetten Körper schwerfällig hin und her.
Mit einem Stück Küchenkrepp bewaffnet näherte ich mich diesem widerlichen Ding und machte mich bereit, den Störenfried durch die Abflussrohre zur Hölle zu schicken.
Dann fixierte ich die Schranktüre. Wäre ich nicht so müde und ausgelaugt gewesen, hätte mein Blick ein Loch in das Holz gebrannt. Doch nach der Mühsal der letzten Wochen, musste ich die Türe öffnen, um hinein sehen zu können. Ich wusste: wo eines dieses Scheißdinger war, waren andere nicht fern. Und tatsächlich, im muffigen Dunkel unter der Spüle lagen noch mehr dicke Larven herum. Ich fluchte laut, als ich den Bio-Mülleimer, das Zwiebelkörbchen, den Knoblauchtopf und jede Menge Flaschen mit unterschiedlichsten Putzmitteln von ihren Plätzen nahm und unter jedem Teil weitere dieser beinlosen Drecksviecher fand.
Nicht das, dachte ich. Nicht heute. Nicht noch so spät.
Zwei Stunden später lag ich endlich in meinem Bett, die vom Desinfektionsmittel rauen Hände dick eingecremt. Gerne hätte ich noch geduscht, die Bilder der letzten Stunden vom heißen Wasser abwaschen lassen, doch ich war einfach zu fertig.
Also legte ich die Hände, obwohl ich sie über jede vernünftige Zahl hinaus gewaschen hatte, neben meinen Körper auf die Bettdecke, argwöhnisch darauf bedacht, mich nicht damit zu berühren.
Ich hatte jeden Winkel der Küche gereinigt, ob ich Maden dort gefunden hatte oder nicht. Den Rest der Wohnung hatte ich stichprobenartig durchsucht, aber, dem Himmel sei Dank, nichts mehr gefunden.
Jochen stellte sich die hell erleuchtete Wohnung vor. Sah Julika erschöpft und ausgelaugt von Zimmer zu Zimmer gehen. Sah die Erleichterung in ihrem Gesicht, wenn sie etwas anhob und darunter nichts als Schatten fand.
Für die nächsten Zeilen hatte sie mehrere Anläufe gebraucht. Hatte mehrere Worte aufgeschrieben und dann, vielleicht nachdem sie alle laut ausgesprochen hatte, wieder durchgestrichen.
Die Luft prickelte auf meiner Haut wie nach einem Sommergewitter. Ich schwamm so weit oben, dass ich meine Sorgen nicht mehr erkennen konnte; ganz frei, zwischen den Sternen. Mit mir wanden sich andere nackte Köper im leeren Raum. Sie schienen mich nicht zu bemerken. Ich schloss die Augen.
Eine Hand fasste mich am Arm und lenkte meinen schwerelosen Körper zu sich herum. Ich erschrak
nicht, denn ich hatte darauf gewartet. Fühlte den fremden Körper, der sich mir näherte. Ein Knie an meiner Wade, Haar an meiner Schulter, eine zweite Hand an meiner Hüfte. Die Sanftheit der Berührung ließ mich schaudern. Ich gab mich dem Gefühl hin, und meine Aufmerksamkeit folgte der Gänsehaut, die sich von den Stellen der Berührungen über meinen Körper ausbreitete und in den Brustwarzen traf. Alles war straff und heiß.
Die Hände streiften über die aufgestellten Härchen meiner Haut, der fremde Körper passte sich der Form des Meinen an, Arme und Beine umschlangen mich, ich tastete nach dem erigierten Schwanz, der sich mir in den Rücken drückte …
Er sah auf und richtete seinen Blick auf das Fenster. Erwartete fast, Julikas empörten Gesichtsausdruck zu sehen. Es stand ihm nicht zu, das zu lesen. Ihm nicht und keinem anderen. Diese Zeilen waren wie Tagebucheinträge, und er hatte ihr Vertrauen missbraucht, als er sie las. Aber es war inzwischen ohnehin zu spät für derlei Gedanken.
Ich erwachte. Die Konturen sammelten sich im schwachen Licht des Schlafzimmers zu einem bekannten Bild. Verdammt! Was hatte mich geweckt? Ich versuchte, in meinen Traum zurückzukehren. Ich wollte weiter träumen. Ich hatte mir diesen Traum verdient. Doch es war bereits zu spät, ich war wach.
Also ließ ich meine Hände erkunden, was die fremden Hände hätten erkunden sollen. Nur langsam und auf Umwegen näherten sich meine Finger dem Ziel. Ich war überrascht, wie bereit ich schon war, und ärgerte mich erneut darüber, aufgewacht zu sein. Was hatte mich geweckt? Meine Gedanken durchstreiften die Wohnung, dabei fielen mir die Maden wieder ein. Ich ließ die Hände sinken. Das Schöne war dem Ekel gewichen.
Eine Weile lag ich still und folgte der Wut meiner Gedanken in die Nacht hinaus. Ich wartete darauf, wieder einschlafen zu können, doch mein Körper verriet mich, forderte das ein, das ich ihm versprochen hatte. Sollte er es bekommen. Ich fasste hart nach meinen Brüsten und streichelte mich mit der anderen Hand ohne jede Raffinesse.
Er versuchte, das Bild ihrer Hände aus seinem Kopf zu verbannen. „Hör auf damit”, ermahnte er sich. „Reiß dich zusammen, das ist nicht der richtige Moment!” Gerne hätte er sich ein Glas Wein eingeschenkt, doch alleine fühlte er sich wie ein Eindringling in dieser Küche. Wo war sie nur?
Er wollte ohne sie nicht bleiben, also nahm er einen Stift und ein Blatt Papier und schrieb:
Hallo Süße,
ich mache mir schreckliche Sorgen. Wo bist Du? Bitte ruf mich sofort an, wenn Du zurück bist!
Er überlegte lange, dann fuhr er fort:
Ich weiß nicht, ob Du wegen mir weg bist. Ich weiß, ich hätte mir mehr Zeit für uns nehmen müssen. Es tut mir leid. Bitte lass uns darüber reden, aber lass mich nicht eine Minute länger warten!
Jochen
Nach kurzem Zögern fügte er noch hinzu:
Ich hab sogar schon mit der Polizei gesprochen.
Er legte den Zettel gut sichtbar in die Mitte des Tisches und verzog das Gesicht, als er sich an das Bild erinnerte, das sich ihm bot, als er das Haus betreten hatte. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Zeilen ihrer Handschrift.
Der Körper hatte das Sagen, sollte der Geist von ihm aus bleiben, wo er wollte. Und das tat er. In Gedanken lag ich inmitten eines warmen Madenteppichs. Feste Leiber rieben sich an meiner Haut. Trotzig beschwor ich diese Bilder herauf, während mein Fingerspiel noch wütender wurde. Meine Beine umschlossen einen gewaltigen Leib, während sich überall auf mir kleine gierige Wesen räkelten. Stöhnend versank ich unter ihnen, während sie vor Lust vibrierten.
Endlich entlud sich meine gesamte Anspannung in einem kurzen und heftigen Aufbäumen. Befriedigend nur für meinen Körper.
Tatsächlich konnte ich daraufhin wieder einschlafen. Doch in den wenigen Minuten, die ich noch wach lag, schämte ich mich für die absurde Lust und die abnormen Bilder, die ich absichtlich heraufbeschworen hatte. Vor allem aber für den Verrat meines eigenen Körpers.
Den Rest der Nacht schlief ich fest und traumlos.
Jochen war ratlos. Warum stellte sich seine Freundin Sex mit Maden vor? War das tatsächlich nur eine Trotzreaktion auf das sture Bedürfnis ihrer Libido; ausgelöst durch das vorherige Erlebnis? Waren das Seiten eines tierischen Instinktes, die sie sonst vor ihm verbarg?
„Unsinn!”, schalt er sich laut. Er war müde und durcheinander. Mit solchen unsinnigen Fragen käme er nie darauf, wo sich Julika gerade aufhielt und ob es ihr gut ging. Er rieb sich die rot geränderten Augen und las weiter.
Am Wochenende:
Ekel und Scham der Nacht verblassten in den morgendlichen Sonnenstrahlen und verschwanden im Laufe des Samstagvormittages ganz. Da ich keine Maden mehr gefunden hatte, konnte ich das Thema abschließen und mich meinem Wochenende zuwenden. Es war ungewöhnlich warm für den Frühling, und obwohl Jochen nicht bei mir sein konnte, fand ich genug Ablenkung, so dass bis zum Sonntag jede Anspannung der letzten Woche von mir abfiel.
Am Montag:
Ich erwachte kurz vor dem Klingeln des Weckers, war erholt und ausgeruht. Die Woche konnte kommen, ich fühlte mich allen Herausforderungen gewachsen.
Tatsächlich ging mir die Arbeit leicht von der Hand, bis mich, kurz vor Feierabend, ein starker Schwindel erfasste.
„Alles okay mit Dir?”, fragte Clarissa und klang dabei sogar aufrichtig besorgt.
„Geht schon”, erwiderte ich automatisch.
Die Blicke meiner Kollegen folgten mir, als ich den Raum in Richtung Badezimmer verließ, darauf bedacht, meine Schritte sicher wirken zu lassen. Vor dem Spiegel atmete ich mehrmals tief durch, während ich mir kaltes Wasser über die Handgelenke laufen ließ. Mit geschlossenen Augen wartete ich, bis das Gefühl der Schwäche sich legte. Hinter meinen Lidern meinte ich, hunderte, sich windender, blasser Körper zu sehen.
Ich beschloss, früher Schluss zu machen. „Ich gehe etwas essen. Alleine und ganz in Ruhe. Ich brauche nur eine kleine Pause”, sagte ich mir und sah meinem Spiegelbild dabei fest in die Augen. Meine Stimme wurde von den Kacheln der Wände hin und her geworfen und klang, als ob sie aus der Kabine hinter mir käme.
Ich wollte gerade gehen, als meine Augen der Bewegung meiner Hand folgten, mit der ich mich am Dekolleté gekratzt hatte. Überrascht nahm ich die Hand weg und trat näher zum Spiegel. Meine Haut dort war rot und trocken. Auf einer etwa handtellergroßen Fläche nässte die Haut an den Stellen, die ich bereits aufgekratzt hatte. Ich knöpfte meine Bluse bis oben hin zu, dann kehrte ich in den Besprechungsraum zurück. Ich hatte mir in letzter Zeit zu viel zugemutet, wenn sogar mein Körper schon so deutlich reagierte.
Ein paar Stunden später untersuchte ich mich erneut im Spiegel. Natürlich kamen in der Arbeit noch etliche Kleinigkeiten dazwischen, weswegen ich mich doch wieder zu spät auf den Heimweg machte. Da der Schwindel nicht wiederkehrte, vergaß ich darüber auch den Ausschlag. Abends stand ich da, Creme in der Hand, unsicher, ob ich mir damit helfen oder alles verschlimmern würde. Ich hätte unbedingt früher gehen und noch zur Apotheke fahren sollen.
Die Haut war inzwischen so trocken, dass sie stellenweise aufgeplatzt war und rotes, wundes Fleisch zu sehen war. Ich nahm mir erneut vor, meinen Lebenswandel zu verbessern und wollte gleich damit beginnen, indem ich früher zu Bett ging. Eine lange Nacht mit festem Schlaf war oft die beste Medizin. „Morgen, wenn die wunden Stellen nicht besser aussehen, gehe ich zum Arzt”, versprach ich mir selbst.
Vorsichtig schob er seine Fingernägel unter die Meinen. Ein Stück weit nur. Dort, wo die Haut ganz dünn war, konnte er sie so weit hervorziehen, bis er sie zu fassen bekam. Wie er versprochen hatte, tat es nicht weh. Langsam und gleichmäßig zog er so die Haut ab – erst von den Fingern, dann von Händen und Armen. Mein Fleisch darunter war weich und weiß. Deutlich konnte ich das Leben darin pulsieren sehen. Es tat so gut, von der alten Haut erlöst zu werden. Ich stöhnte auf, er lächelte. Dann zog er kräftig an der trockenen Hülle, um mich ganz zu befreien. Sie fiel mir wie ein Mantel von den Schultern und befreite zwei große, blau schimmernde Flügel. Er dreht mich herum, strich über die festen Muskeln, die die Flügel mit meinen Schultern verbanden. Dann drang er hart in mich ein.
Ich schnappte nach Luft. Es war noch dunkel im Zimmer, kein Laut störte die Ruhe der Nacht. Um wieder einzuschlafen, wollte ich mich zur Seite drehen, doch die Bewegung fiel mir schwer. Es schien mir, als hielte etwas meine Schultern umschlossen, also blieb ich am Rücken liegen, und tastete danach.
Ich lief zum Spiegel, machte Licht und starrte auf meinen Hals, zog das Shirt aus und ließ es neben mir zu Boden fallen. Zuerst war ich mehr fasziniert als besorgt, muss ich gestehen. Eine Art Schorf bedeckte fast meinen ganzen Oberkörper. Es schmerzte nicht, wenn ich mich bewegte, doch war dieses Zeug lange nicht so elastisch wie gesunde Haut.
Ich strich mit den Fingerspitzen darüber. Hart und trocken verhinderte es jedes Gefühl. Ich kratzte daran herum, erst vorsichtig, dann heftiger. Versuchte mich davon zu befreien, riss kleine Teile davon ab. Es tat nicht weh, doch das offene Fleisch darunter brannte.
An den Rändern spannte die Haut. Vorsichtig schob ich einen Fingernagel unter den Rand und rechnete mit Schmerz, als ich grob daran zog. Doch war er so fest an mir, ich hätte ebenso versuchen können, mir einen Zehnagel herauszureißen.
Das Gefühl, diesen Panzer am Körper zu haben, war interessant, irritierend und intensiv. Wie konnte das sein? Was konnte das sein? Ich nahm mir vor, die nächsten Tage frei zu nehmen und gleich morgens zum Arzt zu fahren. Ich überlegte noch lange, ob ich schon einmal von etwas ähnlichem gehört hatte. Meine Gedanken gingen in albtraumhafte Visionen über, als ich einschlief. Ich wollte Jochen anrufen, ihn bitten, nach Hause zu kommen, doch diese ungewöhnliche Last hing so schwer an mir, dass mir nichts wichtiger schien, als zu schlafen.
Jochen überlegte. Auf welche Aussagen des Textes konnte er sich verlassen? War Julika verwirrt gewesen, als sie diese Zeilen schrieb? Montag Abend hatten sie doch telefoniert, oder nicht? Suchte er womöglich nach einem Sinn in einer fiktiven Geschichte? Sollte er noch einmal in der Agentur anrufen? Aber sie hatten ihm bereits mehrmals gesagt, dass Julika sich krank gemeldet hatte.
Gestern:
Es kostete mich viel Kraft, die Augen zu öffnen; dauerte so lange, bis ich die Welt der Träume abschütteln konnte. Mein Körper fühlte sich steif an, mein Kopf tat weh, als hätte ich zu viel getrunken. Ich rief kurz in der Agentur an. Etwas stimmte nicht mit mir – ich war mehr als nur müde. Waren all das Fieberträume?
Das Telefon klingelte. Dem Licht nach zu urteilen, war es schon spät, ich musste wieder eingeschlafen sein. Immer noch benebelt, wartete ich ab, bis es verstummte, dann stand ich auf. Ich konnte mich nicht richtig bewegen. Es war, als trüge ich schwere, nasse Kleidung. Was hatte ich geträumt? Von einer Larve?
Nein, kein Traum. Ich stellte mich wieder vor den großen Spiegel. Zu nichts sonst fähig starrte ich mein Spiegelbild an. „Was zum Teufel ist das?” Ich erkannte meine eigene Stimme nicht. Der Ausschlag hatte sich auf Teile des Gesichts, der Oberarme und des Bauches ausgebreitet. An den Stellen, wo er zuerst aufgetaucht war, waren kleine schwarze Pünktchen entstanden, aus denen feine, helle Haare wuchsen, deren Enden in winzige Knospen auszulaufen schienen. Ich empfand Widerwillen gegenüber meinem eigenen Körper.
Ich erinnerte mich an meinen Entschluss, zum Arzt zu gehen, doch wie sollte ich so das Haus verlassen? Welchem Arzt konnte ich mich so zeigen?
Schwach lächelte ich mich an. Ich träumte. Natürlich, ich hatte viele seltsame Träume in letzter Zeit. Das waren meine überspannten Nerven. Ich war schwach und müde, also ging ich zurück zum Bett und legte mich wieder hin. Ein Traum. Nur ein Traum.
Im Bett strich ich über meinen Körper. Über meine weiche, vom Schlaf erhitzte Haut. Über den körnigen Rand des Panzers. Über immer knotigere Flächen, bis zu den feinen Härchen über meiner Brust. Sie waren nicht festgewachsen, hatten keine Wurzeln. Bei der Berührung fielen sie aus und verteilten sich über meine Finger. „Wie Schimmel”, ging es mir durch den Kopf und ich stieß ein krächzendes Lachen aus. Dann weinte ich mich in den Schlaf.
Wieder stand ich vor dem Spiegel, doch dieses Mal war Er bei mir. Er fing meine Tränen auf, benetzte damit meinen gefangenen Körper und flüsterte mir beruhigende Worte zu. Er würde mich holen. Die Kruste knackte und zerbrach, als er sie an meinen Schultern zusammendrückte. Stück für Stück zog er ab, befreite mich, bis der Druck nachließ. Die Haut darunter kribbelte. Pralle kleine Körper brachen sich ihren Weg und fielen mit grässlichen Geräuschen von meinen Schultern zu Boden. Tock. Tock. Ich zerrte am Rest der Hülle, die mich zusammen mit dem Ungeziefer einschloss, doch es schmerzte jetzt so sehr. Er war verschwunden. Ich war wieder alleine; mit hunderten kleiner Monster, die aus meinen Schultern krochen. Ich schrie. Schrie, bis ich das Bewusstsein verlor.
Jetzt:
Ich bin so müde. Fühle mich krank und habe Angst. Es ist mir egal, was die Leute auf der Straße denken könnten. Es ist mir egal, was der Doktor tun könnte, wenn ich ihm gegenübertrete. Ich muss hin, ob ich mich schäme oder nicht. Aber erst schreibe ich das hier noch zu Ende.
Inzwischen erkenne ich meinen Körper nicht wieder. Dunkle, harte Haut mit weißen Härchen, wie feines Fell, das ausfällt, wenn man darüber streicht. Meine Gliedmaßen zu bewegen, ist sehr anstrengend, das Schreiben dauert lange und kostet Kraft. Vielleicht sollte ich den Arzt anrufen? Ja, wenn er käme, müsste ich das Haus nicht verlassen. Das ist gut.
Ich habe angerufen, doch sie wollen mich sehen. Natürlich. Aber erst lege ich mich noch ein wenig hin und ruhe mich aus. Nur kurz. Ich bin so müde.
Er legte die beschriebenen Seiten dorthin zurück, wo er sie gefunden hatte und stützte den Kopf in die Hände. Nach einer Weile stand er auf und sah sich ein letztes Mal um, um sicherzugehen, dass Julika seinen Brief sehen könne, sobald sie den Raum beträte und wandte sich zum Gehen.
Er würde morgen früh wieder herkommen. Unterwegs zur Tür trat er auf etwas. „Ah Scheiße! Doch noch eines von diesen Scheißdingern. Ekelhaft!”
Er nahm die tote Made auf und warf sie draußen in die Mülltonne.