- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Mias Wolf
Mia lag auf dem Bauch, von unten wärmte die Landebahn des stillgelegten Flughafens, von oben brannte die Sonne. Neben ihr schwitzte Melanie im winzigen Bikini. Sie diskutierten, ob Jungs Wölfe waren, für die Süßholzraspeln zur Jagd gehörte, oder Schafe im Wolfspelz oder Schafe, die es nicht mal schafften, einen Wolfspelz zu tragen, weshalb ihre bösen Blicke eher niedlich waren.
„Du hast es doch eh einfach“, sagte Melanie. „Du bist schon ewig mit Robin zusammen. Langsam weißt du doch, woran du bist.“ Sie selbst wechselte ihre Stecher so regelmäßig wie Hygieneartikel.
„Naja. So richtig noch nicht.“
„Habt ihr inzwischen eigentlich …“
„Fang nicht schon wieder damit an.“
„Immer noch nicht? Man, man, man. Du machst dir echt zu sehr nen Kopf darum. So ne große Sache ist das auch nicht. Bisschen Rein-Raus und hat sich. Da musst du eigentlich nur die Beine breitmachen. Und wenn du ihn wirklich beeindrucken willst, bläst du ihm einen. Wobei er am Anfang vermutlich eh nicht lange durchhält.“
„Der Sex an sich ist gar nicht das Problem. Ich will es halt nur mit wem machen, dem ich wirklich vertrauen kann.“ Manchmal beneidete sie Melanie, die so viele erste Male mit einem Kerl gehabt hatte, dass sie Routine besaß im Umgang mit Jungs und Sex. Dafür war sie schlecht in der Schule und wurde selbst im Sommer nicht braun – ihre Haut behielt die kränkliche Blässe der Rothaarigen.
Über Melanies Rücken hinweg beobachtete sie Robin beim Basketball. Mit nacktem Oberkörper wetzte er dem Ball hinterher und imitierte die Profis bei seinen Sprüngen zum Korb. Früher hatten sie diese Nachmittage genervt. Zum Cheerleader verdammt, saß sie am Spielfeldrand und Robin schaute nur bei ihr vorbei, um einen Schluck Wasser zu trinken, sich einen Kuss abzuholen. Aber mit der Zeit lernte sie den weiblichen Anhang der restlichen Spieler kennen, Mädchen um die fünfzehn sechszehn, siebzehn, die sich in Rufweite auf der Landebahn sonnten. Inzwischen kam sie auch allein auf den Flugplatz, wenn Robin sein Vereinstraining hatte.
„Hey Melanie, bring mir mal meine Flasche“, rief Tom, der vor allem cool war, weil er ein Auto besaß. Wenn sie über einsame Landstraßen fuhren, stieg Melanie auf die Mittelkonsole, streckte den Oberkörper durchs Schiebedach und der Wind riss ihre Haare wie eine Fahne nach hinten. Jetzt ging sie mit der Flasche zu Tom, langsam zwar, sie war sich ihres Wertes bewusst, aber sie ging.
„Mia?“, rief Robin.
„Hol dir deine Flasche selbst.“
Die andern Jungs lachten. Leichtfüßig kam Robin angelaufen, seine Brust glänzte wie geölt. „Na, meine kleine Rebellin.“ Für den Kuss musste er sich hinknien, sie wandte ihm nur den Kopf entgegen. Wieder lachten die Jungs und Robin seufzte genervt.
Als sie zum Abendessen nach Hause gingen, Hand in Hand die Startbahn entlang, fragte Robin: „ War das eigentlich nötig?“
„Was?“
„Du hast mich vorhin voll zum Affen gemacht.“
„Selbst schuld. Ich bin nicht deine Laufsklavin.“
„Jaja, wehe es entsteht der Eindruck, dass du nicht die Hosen an hast in unserer Beziehung. Du hättest echt als Junge geboren werden sollen.“
„Das war sexistisch.“
„Ich weiß. Manchmal machst du es mir damit nur ziemlich schwer.“
„Oh, wirklich? Das tut mir aber leid.“
Sie zog eine Schnute, nahm sein Gesicht in beide Hände und schmatze ihm einen Kuss auf die Lippen. Dann lief sie kichernd davon und Robin hinterher, bis er sie fing.
„Warum bist du vor den anderen eigentlich nie so“, fragte Robin, während er Mia an sich zog.
„Weil ich dann ein normales Mädchen wäre.“
„Du bist also keins?“
„Genau, ich bin ein Power-Mädchen.“
Die Landebahn ging nahtlos über in die verkehrsberuhigten Straßen und breiten Gehwege, die niedlich rosa und gelb gestrichenen Häuser eines Neubaugebietes. In den Gärten richteten Mütter das Abendessen an, auf einer heckenumrandeten Grünfläche spielten Väter mit ihren Kindern Fußball. Hier wohnte Robin.
Natürlich war ihre Beziehung kein Geheimnis – sie war zweimal bei Robin zum Essen geblieben – trotzdem positionierte Mia sie beide so vor der Haustür, dass man sie durch die Fenster nicht sehen konnte. Zwar fand sie Robins Eltern furchtbar nett, aber ihre Küche war mit Tropenholz verkleidet, der Fernseher füllte die halbe Wohnzimmerwand und die Tischgespräche verharrten stets auf Bildungsbürgerniveau, kreisten um Theater und Politik und die Errungenschaften der Wissenschaft. Manchmal fühlte Mia sich wie eine Asylbewerberin, die für alles dankbar sein musste.
„Kommst du nachher nochmal zum Flugplatz?“, fragte Robin.
„Heute ist Donnerstag.“
„Ach stimmt, deine Oma.“ Er grinste. „Noch so ein Punkt. Weißt du eigentlich, wie schwer ich es habe, meine Männlichkeit zu wahren, wenn meine Freundin lieber was mit ihrer Oma macht als mit mir?“
Sie gab ihm einen Abschiedskuss. „Bis morgen.“
Während sie durch Straßen ging, die nach Essen rochen, versucht sich Mia ein Leben mit Robin in einem der Reihenhäuser vorzustellen: Er kam mit dem BMW von der Arbeit, trug Anzug und Krawatte; sie stand am Herd, zwei fröhliche Bälger, am Schürzenzipfel; gemeinsam saß die Familie am Ahorntisch; sie half dem Jüngsten beim Essen und im Garten glühte ein Sonnenuntergang aus Photoshop. Die Vorstellung stimme sie fröhlich, blieb aber fremd. Was sie sah, war mehr Robins Zukunft als ihre – die Frau in seinem Leben musste nicht zwangsläufig Mia heißen.
Vom Neubaugebiet kam sie über Nebenstraßen ins Viertel der Mietskasernen, wo die Autos schäbig waren und sich die Alkoholiker vorm einzigen Kiosk versammelten. Als Kind hatte Mia ihre Sprüche gefürchtet, jetzt nahm sie sie kaum wahr. Der Fahrstuhl in den achten Stock funktionierte, stank aber nach Pisse und Bier. Vor der Wohnungstür hielt Mia inne, um Kraft zu sammeln.
Seit er seine Arbeit verloren hatte, verbrachte Vater seine Vormittage auf dem Balkon, seine Nachmittage vorm Fernseher und bekam mit der Zeit die ledrige Haut eines alternden Sonnenbaders. Zwar bewarb er sich pflichtgemäß, doch wollte ihn niemand haben – vielleicht wirkte er zu lustlos, zu ausgebrannt, vielleicht war er tatsächliche unbrauchbar geworden, wie er einmal gesagt hatte. Aber er beklagte sich nie, wurde nur immer stiller und Mia fand diesen Leichnam vorm Fernseher, diesen Leichnam auf dem Balkon schlimmer als jeden Wutausbruch.
Wie in glücklichen Zeiten setzte sich Mia neben Vater aufs Sofa, nur hielt sie jetzt Abstand zu diesem Mann, der nach Zigaretten roch und Schweiß. Er ließ den Fernseher laufen.
„Wie war die Schule?“
„Die Klausur in Englisch lief ganz gut.“
Sie spielten die gleich Farce wie immer, Vater lustlos, Mia resigniert. Aber sie wollte nicht davon lassen, als bestünde noch Hoffnung, dass alles wieder wie zu Grundschulzeiten werden könnte. Damals war Vater stolz auf seine Tochter.
„Was hast du den Nachmittag gemacht?“ Er zündete seine Zigaretten mit Streichhölzern an, obwohl er fast immer mehr als einen Anlauf brauchte – auch diesmal zerbrachen ihm zwei der Hölzer.
„Ich war bei ner Freundin, wir haben uns im Garten gesonnt“
„Hast du dich mit Jungs getroffen?“
„Nein.“
Die Antwort war ihm wichtig, weil er von Tanja wusste, Tanja, die sechzehn war und zwei Stockwerke tiefer wohnte, Tanja mit Zwillingen im Bauch, deren Vater vor der Verantwortung geflohen war.
Mutter rauchte in der Küche. Neben ihr stand eine Weinflasche.
„Hallo Schatz. Bringst du deiner Oma den Wein mit?“
Jede Woche brachte Mia Wein mit, dabei trank Oma keinen Alkohol mehr und die Flaschen füllten die Regale der Speisekammer.
„Geh doch einfach mal selbst hin, statt immer nur Geschenke zu machen.“
Mutters Lächeln wich der Erschöpfung langer Arbeitstage. „Du weißt doch, wir verstehen uns nicht gut.“
„Und ich weiß auch, an wem das liegt.“
„Ach Mia.“
Mia packte den Wein in den Rucksack, schnappte sich Mutters Zigaretten vom Tisch und verließ die Küche.
„Du bist noch viel zu jung zum Rauchen.“
„Und du zu alt.“
In ihrem Zimmer sammelte Mia Klamotten und Schulbücher für den nächsten Tag zusammen. Mutter wartete vor der Wohnungstür.
„Abschiedskuss?“ Sie drückte Mia ihre Lippen auf die Wange, Lippen die bereits alt wurden und traurig.
„Sag Oma einen Gruß von Papa.“
„Das hat er doch gar nicht gesagt.“
„Aber sie freut sich bestimmt.“
Sie sprachen im Flüsterton, damit Vater sie über den Fernseher hinweg nicht hören konnten.
Auf der Straße zündete Mia sich eine Zigarette mit einem Plastikfeuerzeug an. Das Rauchen war ihr noch neu, manchmal stieg ihr der Qualm in die Augen und sie musste die Tränen wegblinzeln. Sie steckte sich Kopfhörer in die Ohren, blendete den Straßenlärm mit Punk-Rock aus. Von der Hauptstraße bog sie ab in einen kleinen Park, wo das Licht grünlich-dunkel war und die Luft überraschend kühl. Laternen brannten wie Glühwürmchen zwischen den Bäumen.
Ein Wolfskopf sprang aus dem Gebüsch. Mia schlug ihm ins Gesicht. Erst am Stöhnen erkannte sie Robin.
„Was machst du hier?“
„Ah, fuck. Du hast mir fast nen Zahn ausgeschlagen.“ Er zog sich die Maske vom Kopf, spuckte rosigen Speichel ins Gras. „Ich hab auf dich gewartet. Ohne dich wollte ich auch nicht mehr zum Flughafen.“
„Und die scheiß Maske?“
Manchmal hatte Robin seltsame Ideen. Dann wurde aus dem Vorortjungen, den sie zu verstehen glaubte, ein Fremder und sie bekam Angst. So trat er auf dem Heimweg von einer Party die Rücklichter eines Mercedes ein, demolierte einen Motorroller und schmiss Mülltonnen durch die Gegend, dabei war er nicht einmal sonderlich betrunken, oder er beschimpfte ein älteres Ehepaar auf einem Parkspaziergang. Vermutlich machte er in diesen Momenten einfach, was ihm gerade in den Sinn kam, ganz ohne Reflexion und Selbstkritik, nur wusste Mia nicht, wie sie damit umgehen sollte.
„Bist du etwa sauer?“
„Verdammt, natürlich. Du hast mich zu Tode erschreckt. Und das ist nicht witzig. Dass du mich überraschen willst, okay. Aber das mit der Maske, das ist doch krank.“
„Reg dich ab.“ Er wedelte mit dem Wolfskopf vor ihrem Gesicht. „Das ist nur Plastik und Kunsthaar.“
Mia gab keine Antwort. Robin zerrte sein Fahrrad aus dem Gebüsch. „Außerdem, was hab ich dir zum Rauchen gesagt?“
„Jaja, dann küsst du mich nicht. Aber ich wusste ja nicht, dass du mir wie ein Irrer auflauerst.“
„Und was noch?“
„Man, das kann dir doch egal sein. Bis ich davon Krebs bekomme, hast du längst ne Andere.“
„Oder vielleicht du?“
„Klar …“
„Warum nicht?“
Sie schwieg, warf aber die Zigarette weg. Der Park ging in einen Vorort über: korrekte Autos vor korrekten Gärten vor korrekten Häusern. Robin befühlte seine Lippe.
„Tut’s noch weh?“, fragte Mia.
„Ach, geht schon.“
„Tut mir leid. War aus Reflex. Ich mein, du hast mich wirklich erschreckt.“
„War ja auch der Sinn der Übung.“
Sie wollte ihn küssen, aber er legte ihr einen Finger auf den Mund.
„Was hab ich dir gesagt?“
„Sei kein Arsch.“
Vor einer sauber gestutzten Hecke blieben sie stehen und küssten sich mit Zunge.
„Ekelhaft“, sagte er.
„Ha. Ha. Du Witzbold.“
Omas Haus war das kleinste der Straße. Mit gedrungenem Dach und Efeu bewachsen, erinnerte es an eine Hexenklause und als Kind war Mia überzeugt gewesen, dass Oma zaubern konnte und ihr Kater, der jetzt unter seinem Stein im Garten lag, manchmal Lieder in fremden Sprachen sang.
„Kann ich mit reinkommen?“, fragte Robin.
„Sorry, geht nicht. Oma weiß nichts von dir.“
„Was?“
„Sie hält mich noch für ein Kind.“
„Meinst du nicht, es wäre an der Zeit das mal zu ändern?“
„Also bis morgen.“
Für den Abschiedskuss vergewisserte sich Mia, dass Oma nicht am Küchenfenster stand. Robin schüttelte den Kopf und schwang sich auf sein Fahrrad.
Oma duftete nach Lavendel und Wolle, ein Geruch, der für Mia wie Urlaub war. Die Donnerstage waren Mias eigentliches Wochenende. Bei der Umarmung schmiegte sich Omas faltige Wange seidenweich an Mias Gesicht.
„Kind, du bist zu spät. Jetzt muss ich dein Essen wieder aufwärmen.“
Während Oma an den Herd wuselte, verstaute Mia den mitgebrachten Wein in der Speisekammer.
„Wie geht es deinem Vater?“
„Ich soll dich von ihm grüßen.“
„Das hat bestimmt deine Mutter gesagt. Die Arme. Sie hat es bestimmt nicht leicht mit meinem Jungen. Hoffentlich findet er bald wieder Arbeit. So, jetzt greif aber mal ordentlich zu.“
Mia konnte sagen, was sie wollte, für das Essen am Donnerstagabend plünderte Oma ihre Haushaltskasse und so gab es diesmal Rouladen mit Kartoffeln und Rosenkohl. Während Mia sich den Teller volllud, erzählte sie ausführlich von der Schule, von Lehrern und Mitschülern und schweren Prüfungen, die sie dennoch gut bestand. Über ihre Freizeit verriet sie wenig, ein paar allgemeine Worte über den Flughafen, die Basketballspiele und Sonnenmädchen.
„Erzähl doch mehr von den Jungs. Gefällt dir einer davon?“
„Oma.“
„Ist doch nichts dabei in deinem Alter. Was ich damals alles so getrieben habe. Eigentlich ein Wunder, dass ich nicht mehr Kinder habe.“ Omas Blick glitt in die Vergangenheit, ihr Lächeln wurde verschmitzt. „Aber lass dir Zeit, mein Kind, das hat keine Eile. Du findest schon noch den Richtigen.“
„Ist gut Oma, ich krieg das hin.“
Mia half beim Abwasch. Zwar besaß Oma eine Spülmaschine, doch misstraute sie der Technik und spülte selbst Teller und Besteck per Hand, um sie praktisch sauber in die Maschine zu stellen. Anschließend kuschelten sie sich vorm Fernseher zurecht, aßen Pralinen – die mit Schnaps waren für Oma – und folgten halbherzig einer Kommissarin bei der Aufklärung von Erbschaftsmorden, während sie über Mias Kindheit sprachen, über Ausflüge in den Harz und an die Nordsee, wo Mia auf einer Wattwanderung hüfttief im Schlick versunken war. Bald wurde Mia müde und die Krimihandlung wirr und unwahrscheinlich wie die Vorläufer eines Traums. Aber sie ließ Oma weiter erzählen. Ihr Bewusstsein trieb auf den alten Geschichten davon.
„Zeit zum Schlafengehen“, sagte Oma. Beim Gute-Nacht-Kuss roch Mia unter der Wolle, unterm Lavendel, auch Omas Alter und Erschöpfung, ein saures Aroma wie Kaffeeatem am Morgen. Schnell floh sie in ihr Zimmer, wo Tisch und Stühle viel zu niedrig waren und Sticker auf allen Möbeln klebten.
Am nächsten Morgen täuschte Mia im Matheunterricht Übelkeit vor. Die Lehrerin hatte längst vor ihren Schülern kapituliert und ließ sie ohne Begleitung ins Krankenzimmer gehen. Am Automaten in der Aula zog sich Mia einen Müsli-Riegel plus Cola und verließ das Schulgelände. Bei den Fahrradständern setzte sie sich auf einer der Stangen und schrieb Robin eine Sms: Hey kannst du kommen?
Ich hab Unterricht?
Ich brauch dich.
Okay, wo bist du?
Sie aß den Müsliriegel und nuckelte an der Cola, bis Robin angelaufen kam.
„Da bin ich. Was ist passiert?“
„Nichts.“
„Wie nichts?“
„Ich wollte schauen, ob du kommst.“
„Ernsthaft? Deswegen holst du mich aus Geschichte.“ Als Historik-Freak kannte er die Reihe der deutschen Kaiser hinunter bis zu Otto dem Ersten. Mia verstand diese Faszination nicht, fand sie albern und sinnlos. Diese Menschen waren seit Jahrhunderten tot.
„Manchmal bist du echt ein Streber“, sagte sie.
„Wer schreibt hier denn die guten Noten?“
„Dann eben ein Spießer.“
Der Begrüßungskuss fiel frostig aus, Robin berührte kaum ihre Lippen. Sie schlugen einen Bogen um die Fahrradständer, hinein in den Schulwald, mit seiner improvisierten BMX-Bahn und dem fauligen Teich, dessen Pflege einst Teil einer AG gewesen war. Ein Krähenschwarm hauste in den Kiefernwipfeln und füllte die Luft mit Krächzen und Flügelschlagen. In den Pausen versteckten sich hier die Pärchen zum Knutschen und manchmal auch für mehr, jedenfalls fanden sich gebrauchte Kondome im Umkreis der wenigen Büsche. Robin stapfte vorneweg.
„Bist du sauer?“
„Natürlich. Was soll das Ganze eigentlich? Du rufst mich aus dem Unterricht, einfach weil dir langweilig ist?“
„Ich wollte schauen, ob ich dir vertrauen kann, ob du auch wirklich kommst, wenn ich dich brauche.“
Er packte sie an der Schulter. Erschrocken wich Mia zurück, hob die Hände vor die Brust. „Findest du das eigentlich okay, dass immer alles nach dir geht? Dass ich springen soll, wenn du rufst? Weil dir gerade danach ist, weil du etwas ausprobieren willst. Aus einer verdammten Laune heraus! Was dabei mit mir ist, ist dir egal. Wenn ich mit dir zum Flughafen gehen will, musst du zu Oma. Wenn ich noch eben mit rein möchte – nicht lange, nur zehn Minuten – hab ich keine Chance. Scheiße du hast ihr nicht mal von mir erzählt. Du willst nicht meine Laufsklavin sein. Fuck, das will ich doch gar nicht. Aber ich will auch nicht der sein, der ständig seiner Freundin hinterher hechelt. Weißt du, wie verdammt anstrengend du sein kannst?“
Mia fühlte sich kläglich. Alles war ihr aus der Hand geglitten und Robin stand vor ihr mit verfremdetem Gesicht. Seine Fäuste zitterten und für einen Moment glaube sie, er würde sie schlagen.
„Es tut mir leid. Ich … Ich, so mein ich das doch gar nicht. Ich dachte, es wäre irgendwie cool. Gemeinsam den Unterricht schwänzen und so. Ich dachte, es macht dir weniger aus. So hab ich das nicht gewollt. Wirklich nicht.“
Robin seufzte. Mit hängenden Schultern und geschwollener Lippe, wirkte er auf einmal sehr müde. Zögernd berührte Mia seinen Arm.
„Entschuldige“, sagte er. „Das war … Natürlich komme ich, wenn du mich brauchst. Ich finde es wunderbar mit dir zusammen zu sein. Und ich bin gerne für dich da. Ich dachte nur, das muss ich nicht mehr beweisen. Es gibt Momente, in denen verstehe ich dich einfach nicht. Und du hilfst mir auch nicht, dir näher zu kommen. Du öffnest dich nicht wirklich und ich laufe gegen eine Wand. Und dabei liebe ich dich und bin immer für dich da.“
„Ich liebe dich auch.“
Mia küsste Robin und diesmal gaben seine Lippen nach und ihre Knie wurden weich wie nach einer Achterbahnfahrt und selbst das Krächzen der Krähen klang richtig und schön. Dann hörte sie Klatschen. Eine Frau um die Siebzig, samt Hut und Hündchen im Rollatorkorb, stand am Straßenrand und applaudierte ihnen zwischen den Baumstämmen hindurch zu. Lachend flohen sie tiefer in den Wald, suchten Zuflucht in einem Gebüsch. Mia pflückte Robin Spinnweben aus dem Haar.
„Ich hab was für dich“, sagte sie. Mit kribbeligen Fingern zog sie ihr T-Shirt hoch, öffnete ihren BH. Robins Gesicht war völlige Verblüffung und sie hätte gelacht, wäre sie nicht so angespannt. Aber sein Blick freute sie auch, diese Begeisterung, wie ein Kind vorm Weihnachtsbaum und dabei die gleiche Unsicherheit, das gleiche Zögern wie bei ihr. „Na los, die sind auch zum Anfassen da.“ Und er berührte ihre Brüste, streichelte über die Rundungen, die ihr manchmal zu klein erschienen und manchmal zu weich, aber jetzt genau richtig.
Letztlich war Robin ungeschickt, aber es waren seine Hände, die sie berührten und so fühlte es sich aufregend an wie das erste Mal Fliegen, nur viel schöner. Sie drängte sich an ihn, suchte seinen Mund. Der Schulgong unterbrach sie. Mia zog sich T-Shirt und BH zurecht. „Nur noch ein Bisschen“, bettelte Robin.
„Keine Chance. Noch mehr Gaffer kann ich nicht verkraften. Erst recht nicht die geilen Spasten aus der siebten Klasse.“ Sie wuschelte ihm durchs Haar. „Außerdem wirst du ja noch eine Weile warten können.“
Abends im Bad betrachtete Mia das Tattoo auf ihrem Bauch – ein Ritual aus den Tagen als die Haut noch schorfig war und sie Angst hatte vor einer Blutvergiftung und eitrigen Infekten. Rotkäppchen schmachtete mit Bambi-Augen, während eine halbherzig versteckte Axt hinter ihrem Rücken hervorragte. Von der blutigen Schneide troff ein Auge herab.
An das Geld war sie als Kellnerin bei Bekannten ihrer Eltern gekommen, schwieriger war es, einen Tätowierer zu finden, der keinen Personalausweis sehen wollte und keine elterliche Erlaubnis. Schließlich entdeckte sie die passende Adresse im Internet. Ganze Nachmittage schlich sie vor dem Studio herum und spähte durch das verschmierte Schaufenster, bis der Besitzer sie abfing.
Er war groß, trug Goldzähne im Mund und sein Griff schnürte ihr den Arm ab, aber der Drache, der sich um seinen Hals schlängelte, war wunderschön. Mia hielt ihm ihren Entwurf entgegen. „Bekommen Sie das hin?“
Der Mann führte sie in ein Hinterzimmer, wo ein verschlissener Liegestuhl auf sie wartete. „Wo willste dein Rotkäppchen denn hinhaben?“ Und weil sie zögerte: „He, wenn de Schiss hast, kannste gleich wieder verschwinden. Sowas kann ich nicht brauchen.“
Mia zog ihr T-Shirt hoch und zeigte neben ihren Bauchnabel. Der Tätowierer desinfizierte ihre Haut und setzte, ohne das Motiv vorzuzeichnen, die Nadel an. Mit Schrecken fiel Mia ein, dass er den Drachen gar nicht selbst tätowiert haben konnte.
Schlimmer als die Schmerzen war die Nähe des Mannes. Mia war gelähmt vor Angst, seine linke Hand, die feist auf ihrem Bauch lag, könnte tiefer wandern, unter ihre Jeans, ihr Höschen. Dazu stank er nach Schweiß, Kippen, billigem Rasierwasser und hinterm Ohr flammte ein Ekzem, schorfige Haut in Rosa und Leichenweiß. Falls er sie vergewaltigte, hätte sie nicht einmal Kraft zum Schreien.
Nach der Sitzung war sie so fertig, dass sie weinend durch die Straßen lief und sich erst nach zwei heißen Schokoladen im Café einer Shopping-Mall beruhigte. Trotzdem kehrte sie zweimal in das Studio zurück, um Rotkäppchens Umrisse mit Farbe füllen zu lassen. Als das Tattoo endlich abgeheilt war, fühlte sie sich befreit – keine schmierigen Männerhände auf ihrem Bauch und keine Albträume von ihrer Haut, die Eiter erbrach. Und das Bild übertraf mit den präzisen Linien und den kräftigen Farben ihre Vorlage um ein Vielfaches. Im Nachhinein wurde ihre Angst zu Stolz – sie hatte es durchgestanden.
Mutter entdeckte das Tattoo, als Mia einmal vergaß die Tür abzuschließen. Natürlich setzte es eine Strafpredigt, natürlich gab es Taschengeldentzug und Hausarrest, aber Vater erzählte sie nichts davon und dieses Geheimnis brachte zwischen Mutter und Mia einen Teil der Vertrautheit aus Kindheitstagen zurück.
Samstags liefen Mia und Melanie durch das Neugebiet zum Rewe. Die Sonne versank hinter den Häusern, doch die Luft blieb stickig. Überall roch es nach Essen.
„Ich glaube, du gibst zu viel auf das mit dem Vertrauen“, sagte Melanie. „Letztlich kannst du nie wissen, ob dich dein Kerl nicht doch verlässt. Und dann ist es ziemlich egal, was er mit dir gemacht hat, weh tut es immer.“
„Sprich ich lege Robin flach und alles ist gut?“, fragte Mia und lachte.
„He, mach dich nicht lustig. Ich meine, man soll einfach so viel Spaß wie möglich haben solange es läuft. Wenn du nach Vertrauen suchst, bist du bei deinen Freunden besser aufgehoben. Ah, da sind die zwei Idioten ja.“
Robin und Tom warteten an einer Kreuzung und die Begrüßungsküsse zogen sich in die Länge, als wäre es ein Wettstreit zwischen den beiden Paaren. Mia war aufgeregt. Sie trug farblich abgestimmte Unterwäsche, hatte sich Beine und Scham rasiert, im Frontfach ihres Rucksacks steckten Kondome, falls Robin keine dabei haben sollte. Ihre Anspannung kam ihr kindlich vor und sie hoffte, dass Robin sie nicht bemerkte. Er dagegen wirkte unbekümmert wie immer.
Hinterm Rewe reihten sich Abfallcontainer, aus denen Mia und Robin manchmal Obstreste klauten. Für Robin war es ein Abenteuer, Mia dagegen bedeutete es viel, wenn sie ihre Mutter nicht um Äpfel oder Kiwis bitten musste. Deshalb wurde sie auch sauer, als er wieder einen Aussetzer bekam und Salatköpfe durch die Gegend kickte. Diesmal kamen sie jedoch nicht für Bananen mit braunen Flecken und Ananas über dem Verfallsdatum, sondern wegen der alten Paletten, die sich an der Rückwand des Kühlhauses stapelten. Mühelos überwanden sie den Zaun, der das Gelände absperrte. Die Halstücher vorm Gesicht waren mehr zum Spaß als zur Sicherheit. Bisher hatte es nie Probleme mit einem Wachmann gegeben, entweder gab es keinen oder er kümmerte sich nicht um einen Hinterhof voller Müll. Also winkten sie der Überwachungskamera wie einem alten Bekannten zu und machten sich daran, die Paletten an Tom und Melanie weiter zureichen, die auf dem Gehweg warteten.
Mit vier Paletten beladen, traten sie den Rückweg zum Flugplatz an. Die wenigen Erwachsenen, denen sie begegneten, warfen ihnen abschätzige Blicke zu, aber niemand sprach sie an.
Auf dem Flugplatz war alles tiefrot. Die Wiesen links und rechts der Landebahn, mit ihren stillgelegten Treibstoffbunkern und leeren Flakstellungen standen in Flammen.
Die Jugendlichen, die am Basketballfeld warteten, begrüßten sie mit Jubelrufen und Bier. Zwei Jungs zertraten die Paletten, während Tom aus den Bruchstücken und Zeitungsresten ein Lagerfeuer aufstellte – als er noch uncool war und weder Auto noch Freundin besaß, hatte er jahrelang an den Treffen der Pfadfinder teilgenommen. Mia und Robin setzten sich in den Kreis um Werners Shisha. Als die Reihe an ihr war, blies sie ihm Rauchringe ins Gesicht. Robin lachte und hielt ihr den Mund zu. Der Qualm sickerte zwischen seinen Fingern hindurch.
Als von der Sonne nur ein Wiederschein am Horizont blieb, zündete Tom das Lagerfeuer an. Bald rückte Mia von den Flammen ab, weil ihr zu warm wurde. Sie saßen jetzt außerhalb des Kreises. Die Rücken ihrer Freunde wurden durch das Gegenlicht des Feuers zu Schemen reduziert. Mia lehnte den Kopf an Robins Schulter.
„Es ist schön mit dir“, sagte sie.
„Was ist denn los mit meiner kleinen Rebellin? Sag bloß sie ist unter die Romantiker gegangen.“
„He, über sowas macht man keine Witze.“
Er küsste sie und Mia schloss die Augen und vergaß für kurze Zeit das Atmen. Ein Kleiner Feigling machte die Runde und trotz des süßlichen Geschmacks der Feige, brannte Mia der Alkohol im Hals. Aber dann wurde ihr warm im Bauch und Nebel stieg in ihren Kopf.
Ohne Licht kam die Polizei über die Landebahn gefahren. Alle sprangen auf und flohen kreischend und johlend über die grasbewachsenen Flanken der Treibstoffbunker. Ganz in der Nähe von Robin und Mia keuchte Werner mit seiner Shisha und von der Kohle sprühten Funken wie ein Kometenschweif.
Mia suchte mit Robin Zuflucht in einer der Flakstellungen. Sie waren allein. Nur in der Ferne hörten sie die Stimmen der anderen und das Rauschen der Autobahn, die unter der Landebahn hindurch fuhr. Mia fühlte sich geborgen vom Erdwall der Stellung, um sie her die warme Dunkelheit, über ihr der Nachthimmel, an dem der Wiederschein der Stadt die Sterne auslöschte. Sie zog Robin mit sich ins Gras, suchte sein Gesicht, streichelte über die vertrauten Wangen. Erst zögerte er noch, dann fuhren seine Hände unter ihr Top und sie bekam dieses Kribbeln im Bauch, diese Achterbahnfreude. Beim BH half sie ihm. Als er mit den Lippen ihre Brüste berührten und zu saugen begannen wie ein Baby, zuckte sie leicht zusammen, stöhnte bei geschlossenen Mund, spürte die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen. Sie wollte sich auf den Rücken legen, aber das Gras kitzelte und kribbelte auf ihrer Haut, also rollte sie sich auf Robin. Sie setzte sich auf und streichelte über seinen Bauch, seine Muskeln spannten sich an, wenn sie weiter nach unten wanderte, zum Saum seiner Hose. Als ihr Mut endlich reichte, öffnete sie seinen Gürtel, zog ihm Jeans und Boxershorts bis in die Kniekehlen. Sein Penis glühte zwischen ihren Fingern wie frisch gebrannte Keramik. Sie bewegte ihre Hand, ganz langsam, weil sie Angst hatte ihm weh zu tun. Dann richtete Robin sich auf, küsste sie auf den Mund und rückte sie doch noch ins Gras. Seine Finger glitten unter ihren Slip.
Mia verkrampfte. Da war der Tätowierer mit schwieligen Händen und Raucheratem, da war Robin mit Wolfskopf. „Nicht.“ Ihre Stimme klang erschrocken und kläglich. Robin ging auf Abstand.
„Was ist denn? Ich dachte, du willst das auch.“
„Nein … Ja … Irgendwie war es nicht richtig … Hat sich nicht so angefühlt …“
„Hab ich was falsch gemacht?“
„Nein, gar nicht. Wirklich nicht. Das ist nicht wegen dir. Das ist in meinem Kopf.“
Mia zog sich wieder an, weil sie sich lächerlich vorkam, halb nackt im Gras, mit feuchtem Slip und Gänsehaut. Am liebsten hätte sie geweint.
„Ich versteh dich nicht. War es nicht schön?“
„Doch total.“
„Was dann? Ich dachte jetzt machen wir es. Und ich war so froh, weil wir endlich nicht mehr warten.“
„Als du mich da angefasst hast … Das war … Da konnte ich nicht loslassen. Dafür vertrau ich dir nicht genug.“ Kaum waren die Worte aus ihrem Mund, wusste Mia, dass sie falsch waren, ein Fehler, die Wahrheit zwar aber ein Fehler und dass sie alles kaputt machten. „Das hab ich nicht so gemeint. Wirklich. Das war anders. Robin, bleib stehen, bitte. Lass es mich erklären. Das ist nicht deine Schuld. Bitte Robin, bleib hier. Lauf nicht weg von mir. Bitte nicht.“ Doch er floh in die Dunkelheit und sie konnte ihm nicht folgen, weil sie in Sport eine Niete war.
Mia fühlte sich unendlich allein. Nur die Grillen zirpten zu ihren Füßen aggressiv wie Stachelrochen. Ihr Handy blendete sie, als sie versuchte Melanie zu erreichen. Aber niemand hob ab. Sie irrte über den Flugplatz, bis sie den Rest der Gruppe unter einer Eiche fand. Manche saßen in den Ästen und die Glut ihrer Zigaretten schwankte zwischen den Blättern.
„Wisst ihr, wo Melanie ist?“
„Das müsstest du dir doch denken können“, rief Werner von oben herab und die anderen lachten. Mia stolperte weiter. Erneut versuchte sie es mit dem Handy und diesmal ging Melanie ran.
„Sorry Mia, grad ist schlecht.“
„Bitte, wir müssen reden. Ich hab einen Fehler gemacht.“
„Ich bin gerade bei Tom.“ Dann wurde ihre Stimme leiser, als hielte sie das Telefon beiseite. „He, warte mal. Weißt du wie schwer es ist, dabei zu telefonieren.“ Wieder lauter: „Ich ruf dich an. Versprochen.“
Auf dem Heimweg weinte Mia. Die Alkoholiker am Kiosk lachten über sie und zeigten mit den Fingern, nur der Ladenbesitzer rief ihr nach, ob alles in Ordnung sei, ob sie Hilfe brauche. Als sie die Wohnungstür aufschloss, vorsichtig, damit Vater nicht aufwachte, brannte noch Licht in der Küche. Mutter saß am Tisch, vor ihr eine halbleere Flasche Wein. Ihre Züge waren unendlich traurig, müde und verbraucht, ihre Augen gerötet. Erst drehte sie sich von der Tür weg, schien sich verstecken zu wollen, aber dann sah sie Mias Gesicht. Sie stand auf, tränkte ein Taschentuch unterm Wasserhahn und wischte Mia Tränen und Schminke von den Wangen.
Dann saßen sie einander gegenüber, tranken Wein und schwiegen. In der Nachbarwohnung lief der Fernseher, ein Stockwerk höher fickte ein Mann seine Frau. Irgendwann ließ der Drang zu weinen nach. Mia fühlte sich erschöpft und ausgebrannt als wäre sie die ganze Nacht gelaufen, aber Mutter saß ihr gegenüber, Mutter mit ihrem Gesicht wie gewässerte Milch, und zwischen ihnen herrschte eine Vertrautheit ohne Worte.
Von der nächsten Woche blieb Mia nur ein Geschmack von Asche im Mund. Sie saß im Unterricht ohne zuzuhören, beobachtete die Krähen bei ihren Rundflügen über dem Schulwald. Den meisten Lehrern war es egal. Nur nach Deutsch musste sie Fragen nach ihrem Familien- und Liebesleben über sich ergehen lassen, weil Herr Wichorski noch jung war und ein Idealist. Sie saßen im leeren Klassenzimmer und Mia schwieg, bis Herr Wichorski seufzte und sagte, falls sie doch noch reden wollte, könnte sie sich jederzeit bei ihm melden. Mia war froh, nach draußen zu kommen.
Wenn sie Robin im Schulgebäude begegnete, glitten ihre Blicke aneinander ab. Mia hasste das Herzklopfen, das sie dann bekam, und die Erinnerungen, die nach oben spülten, Erinnerungen an seine Stimme, sein Lachen, seine Lippen, seinen Mund. Um ihn nicht mehr sehen zu müssen, versteckte sie sich bei den fußballwütigen Fünftklässlern auf dem Sportplatz.
Natürlich bemerkte Vater nichts davon. Aber Mutter fing an, peinlich genau darauf zu achten, ob Mia genügend aß. Und Melanie rief auf ihrem Handy an, erst einmal am Tag, dann alle zwei, drei Stunden, bis Mia das Telefon abschaltete. Schließlich lauerte Melanie morgens vor der Mietskaserne, aber Mia sah sie vom Küchenfenster aus und nahm die Hintertür für den Schulweg. Als der Donnerstag kam, sagte sie sie sei krank und legte sich ins Bett anstatt zu Oma zu gehen.
Am schlimmsten waren die Nachmittage, wenn sie keinen Nerv hatte für Hausaufgaben oder Lernen und es nichts zu tun gab. Dann wanderte sie durch die Einkaufspassagen der Innenstadt, dröhnte sich über Kopfhörer mit Punkrock zu und rauchte Kette, bis sie kein Geld mehr für Zigaretten hatte und sich durchschnorren musste. Kurzer Rock und tiefer Ausschnitt halfen ihr dabei. Nach vier Tagen fing sie an zu husten und der Hals tat ihr weh. Am Samstag lief sie Melanie in die Arme. Mia stieg gerade an der Zentralhaltestelle aus dem Bus und es blieb keine Zeit zur Flucht. Melanie hielt sie am Handgelenk fest. „Hier geblieben. Wir reden jetzt.“
Sie gingen zu Starbucks und bestellten je einen Moccachino mit Karamell- bzw. Vanille-Geschmack. Melanie bezahlte als wäre das Ganze ein Date. Der Gedanke war so abwegig, dass Mia darauf hängen blieb und Melanies Anfang verpasste.
„He, hör mir zu. Diesen ganzen Ich-Ignorier-Dich-Quatsch kannst du dir sparen. Ich weiß, ich hab Scheiße gebaut. Und das tut mir wahnsinnig leid. Und wenn du deswegen nichts mehr mit mir machen willst, okay. Aber darum geht es jetzt nicht.“
Eigentlich wunderte sich Mia, dass sie nicht mehr wütend war, dass sie nicht aufsprang und ging. Sie trank einen Schluck Kaffee mit Karamell.
„Es geht um Robin. Ich mein, manchmal ist er ziemlich nervig, mit seinen Ideen und so. Und ich finde ihn ganz sicher nicht heiß. Aber das Elend jetzt geht gar nicht. Er kommt zum Flugplatz, sitzt rum, säuft Bier, geht wieder. Reden ist nicht, Lachen ist nicht. Keine Ahnung, was bei euch passiert ist, aber redet wieder miteinander. So geht er kaputt. Und du siehst ehrlich gesagt auch scheiße aus.“
Mia schwieg und Melanie ging zwei Muffins holen. Als sie wiederkam, sagte sie: „Weißt du, ich war neidisch auf euch. Dass ihr solange zusammen seid und so. Dass es bei euch auch ohne Sex klappt. Wenn ich Tom nicht mehr ranlasse, ist er in ner Woche weg. Bei euch war es echt süß. Wie ihr euch bei Kleinigkeiten nen Kopf drum gemacht habt, was der andere jetzt von euch denkt. Und euch beim Küssen zuzusehen, das war so das, was sie im Kino unter Liebe verkaufen. Gib das nicht einfach so auf. Ehrlich, ich weiß wie scheiße es mit nem Kerl laufen kann. Dann hilft wirklich nur noch abschießen. Aber bei euch ist das noch nicht so weit.“
„Ich ruf ihn an.“
„Ehrlich?“
„Ja.“
„Und du sagst das nicht, damit ich aufhöre zu nerven?“
„Nein.“
Melanie wirkte so aufrichtig erleichtert, dass es Mia schon komisch vorkam. Sie verließen Starbucks und auf der Straße bekam Mia einen Hustenanfall, dass ihr die Tränen kamen. Als sie vorm Bus standen, zögerte Melanie kurz und schloss Mia dann doch in die Arme, drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Es tut mir so leid. Und versprich, dass du ihn anrufst.“
„Ja, mach ich.“ Aber Mia rief Robin nicht an, dafür schämte sie sich zu sehr.
Auf dem Weg zu Oma wartete diesmal kein Wolf. Mia war enttäuscht. Dabei hätte sie nicht gewusst, was sie Robin sagen sollte, wäre er aus dem Gebüsch gesprungen. Vermutlich hätte sie den Kopf weggedreht und wäre weitergegangen, nur ein Blinzeln entfernt von Tränen und Taschentuch. Sie stellte die Musik lauter und das Denken hörte auf. Wie taub lief sie durch den Park und die Vorortstraßen. Als sie vor Omas Haus die Kopfhörer rausnahm, stürzten die Geräusch des Abends auf sie ein: Im Garten gegenüber hörte sie Menschen beim Grillen, hörte ihre Stimmen, ihr Lachen, das Zischen von Fett auf heißen Kohlen; am Ende der Straße donnerte eine S-Bahn vorbei.
Oma reagierte nicht auf ihr Klingeln. Nach dem zweiten Versuch, schloss sich Mia selbst die Tür auf. „Oma. Ich bin’s.“ Drinnen roch es verbrannt. Mia lief in die Küche.
Oma war am Kühlschrank zusammengesackt. Der Kopf hing ihr auf die Brust, am Mundwinkel klebte Speichel. Ihre Augen waren glasig wie bei einem Fisch. Mia schlich zu ihr, wollte sie anfassen und traute sich nicht. Der Schmerz verstopfte ihre Kehle wie ein Stein, aber Tränen kamen keine. Sie fühlte nach Omas Puls und zuckte wieder zurück, weil sich der schlaffe Hals mit seiner Restwärme künstlich anfühlte und falsch. Mia schmeckte Magensäure.
Erst jetzt bemerkte sie das Zischen der Gasflammen und den Rauch, der unter der Decke hing. Auf dem Herd verkohlten die Reste von Blumenkohl, Kartoffeln und Fleisch. Mia drehte die Flammen aus und öffnete das Fenster. Der Dunst quoll nach draußen, glühte auf im Abendlicht und verschwand. Mia setzte sich mit ihrer mitgebrachten Weinflasche an den Tisch und trank, bis es dunkel wurde.
Auf dem Grillfest wurden Lichter angezündet, die Musik wurde erst lauter, dann leise, als die ersten Kinder in den Armen der Mütter einschliefen, und alles verlief auf diese keimbefreite, durchgeplante, freudlos-tote Art der Vororterwachsenen. Zweimal bekam sie einen Weinkrampf, ein Gefühl als würde sie ihren Schmerz hochwürgen, einen Bandwurm tief aus ihren Eingeweiden. Wenn ihr die Tränen ausgingen, wusch sie ihr Gesicht im Bad. Ihr war schwindelig vom Wein und dem kalten Wasser und sie hatte Schwierigkeiten ihr Spiegelbild scharf zu stellen.
Allein mit Omas Leiche, fühlte Mia sich hilflos wie ein Kind und konnte sich doch nicht zu Hause melden, weil Vater vorm Fernseher saß und Mutter selbst an der Flasche hing und Mia brauchte jetzt niemanden, der sie verstand, sondern einen Felsen zum Festklammern. Sie rief Robin an und er nahm tatsächlich ab, gähnend und mit verschlafener Stimme: „Ja?“
„Leg nicht gleich auf, okay? Ich weiß ich bin furchtbar und gemein und sag Scheiß-Dinge und dann tut es mir furchtbar leid, aber dann ist es zu spät und ich kann mich nicht richtig entschuldigen und alles. Aber komm zu mir. Ich brauch dich. Bitte, bitte komm her und nimm mich in den Arm. Das ist auch kein Test und gar nichts.“
„Was ist denn los?“
„Komm einfach her.“
„Okay, okay. Du bist bei deiner Oma?“
„Ja.“
„Gib mir zehn Minuten.“
Während sie am Küchentisch wartete und den Rest der Weinflasche vernichtete, hatte sie Angst, er würde doch nicht kommen. Schon bei der Vorstellung kam der Schmerz wieder hoch und Tränen traten in ihre Augen. Sie ging ins Bad, wusch sich erneut das Gesicht, versuchte sich halbwegs zurechtzumachen, aber kaum hatte sie angefangen, vibrierte ihr Handy: Steh vor der Tür. So lief sie mit verschmierten Lidern nach unten und warf sich Robin an den Hals, dass sie ihn fast von der Vortreppe stieß – er schwankte und fing sich gerade noch auf. Sie verbarg das Gesicht an seiner Brust und weinte.
„Was hast du denn?“ Er klang erschrocken.
„Halt mich einfach fest.“
Robin nahm sie in den Arm und streichelte ihr Haar und ganz langsam löste sich der Bandwurm auf und alles floss aus Mia heraus, der Schmerz, die Trauer, die Angst, das Gefühl von Einsamkeit, bis sie ganz leer war und nichts mehr machen konnte, nicht mal mehr weinen. Die Nachtluft war kühl geworden. Mia bekam Gänsehaut auf Armen und Rücken. Aber Robins durchweichtes T-Shirt klebte warm an ihrem Gesicht.
„Können wir reingehen?“, fragte er leise.
Sie führte Robin in ihre Zimmer, ließ die Jalousien herunter und schaltete die Nachttischlampe ein. Sie zog ihn mit aufs Bett, das viel zu klein war für zwei, und kuschelte sich an seine Schulter.
„Erzählst du mir, was passiert ist?“, fragte Robin.
„Morgen, okay? Morgen können wir über alles reden. Jetzt bin ich einfach nur froh, dass du wieder da bist.“
„Ich auch.“
Sie schloss die Augen und genoss die Wärme und Vertrautheit und spielte mit den Fingern seiner Hand. Das Bild von Oma, die noch immer am Kühlschrank lehnte, war jetzt weniger erschreckend. Zwar blieb es traurig und schmerzvoll, aber es drohte nicht mehr ihr Leben zu zerbrechen. Daran denken, wollte sie trotzdem nicht. Sie drehte sich auf die Seite und küsste Robins Stirn, seine Wange, seinen Mund. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Brust.
„Was machst du da?“
„Ich will, dass du mit mir schläfst.“
„Bist du sicher?“
„Willst du nicht?“
„Doch, aber… Ich mein, es geht dir offensichtlich schlecht. Du willst mir nicht sagen, was los ist. Aber ich merke das doch. Und du bist betrunken. Wenn ich jetzt mit dir Sex habe, ist das doch …“
Sie biss ihm zärtlich in die Unterlippe. „Na komm schon. Sei mal ein Tier und nimm, was du kriegen kannst.“ Mia rollte sich auf ihn, streifte T-Shirt und BH ab und warf sie beiseite. „Ich will, dass es schön wird. Ich will mit dir schlafen, weil ich dir vertraue. Und weil ich alles wieder gut machen will.“
„Aber …“
Bevor er weiterkam, hielt sie ihm den Mund zu. „Denk dran, Tier sein, nicht so viel reden.“ Endlich bewegte er seine Hände, knetete ihre Brüste, erst zaghaft, dann fester und Mia stöhne leise. Dann begann sie ihn auszuziehen, seine Klamotten sanken zu einem Haufen am Ende des Bettes zusammen.
„Können wir das Licht ausmachen?“, fragte Robin. Seine Arme seitlich neben sich, seine Zehen eingeknickt, wirkte er für Mia leicht verkrampft und unglaublich süß. Sie küsste seine Brust und seinen Bauch, umfasste seinen Penis, streichelte seine Hoden. „Ich würde, dich gerne sehen. Ich finde dich wunderschön.“
Als auch sie nackt war, fragte sie ihn nach Kondomen. Er hatte keine.
„Tut mir leid. Ich …“
„Ssh. Denk an das Tier.“
Sie holte ihren Rucksack von unten und fischte die Kondome aus dem Frontfach. Beim Überziehen flutschte ihr das Gummi aus den Fingern und rollte sich wieder ein. Sie musste lachen. Der zweite Anlauf gelang. Dann senkte sie sich auf seinen Penis, langsam weil es ein bisschen wehtat, bis er sie ausfüllte. Sie schloss die Augen und versuchte sich an das Gefühl zu gewöhnen, dass Robin zwischen ihren Beinen, dass er in ihr war. Es war eher komisch als schön. Sie bewegte sich leicht auf und ab und Robin seufzte und fasste nach ihren Brüsten. Allmählich wurde sie schneller, bis Robin doch noch zum Tier wurde und sich auf sie wälzte und in sie stieß, dass Mia sich auf den Handballen biss, um nicht zu schreien, und sie verstand, was alle am Sex fanden, diese Woge in ihr, die sie mitriss. Kurz darauf kam er und sackte auf ihr zusammen. Sie küsste ihm den Schweiß von der Stirn
Schließlich stand sie auf und ging zum Duschen ins Bad. Erst stellte sie das Wasser so kalt, dass ihr ganzer Körper taub wurde, dann schrittweise wärmer und ihre Haut begann herrlich zu prickeln und ihre Schultern und ihr Rücken entspannten sich. Sie wusch sich lange zwischen den Beinen, weil es sich seltsam anfühlte, ein bisschen wund und gereizt und als ob nun etwas fehlen würde. Nach dem Duschen wischte sie mit der Hand über den beschlagenen Spiegel, bis sie sich sehen konnte. Irgendwie fand sie sich älter, erwachsener. Sie zwinkerte Rotkäppchen zu und zog sich den Bademantel mit der Drachenkapuze über, der ihr inzwischen viel zu klein war.
Robin schlief. Die Decke hing nur notdürftig über seinem Oberkörper. Mia kuschelte sich zu ihm und er blinzelte sie an.
„Deiner kleinen Rebellin hat es sehr gefallen.“
„Hm.“ Er versuchte wieder wach zu werden, aber sie verdeckte seine Augen mit der Hand.
„Schlaf weiter. Es ist wunderschön mit dir.“
Mia wachte auf, weil Robin schrie. Neben sich spürte sie noch seine Wärme, aber sie lag allein im Bett, und die Dämmerung sickerte durchs Rollo. Hastig zog sie sich Unterwäsche und den Bademantel an und rannte nach unten. Robin stand an der Schwelle zur Küche, mit weißem Gesicht, Hand vorm Mund und murmelte: Fuck, Fuck, Fuck, aber so leise, dass sie es kaum verstand. Als sie ihn an der Schulter berührte, zuckte er zusammen.
„Deine Oma … Deine Oma ist tot … Fuck.“
„He.“ Sie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände, drehte es weg von der Küche und Omas Leichnam. Robins Augen zuckten in den Höhlen umher und seine Wangen waren kalt. „Es ist okay. Alles okay. Hörst du.“
Sanft zog sie ihn Richtung Wohnzimmer, doch er machte sich los und hielt sie mit einem Arm auf Abstand. „Sag mir, dass du es nicht schon wusstest. Sag mir, dass du mich nicht deswegen angerufen hast?“
„Weshalb denn sonst?“
„Das ist doch total irre. Deine Oma liegt hier und wir … Das ist doch krank.“
„Es war gestern das richtige für mich. Es hat sich für mich nicht irre angefühlt oder krank oder so. Sondern richtig und sehr, sehr schön. Bis du hier warst, war ich total fertig. Wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Aber als wir oben im Bett lagen … Ich wollte dir einfach was zurückgeben. War es nicht schön für dich?“
Er seufzte und lehnte sich an die Wand. Er wirkte unsagbar erschöpft und Mia hätte ihn gerne in den Arm genommen.
„Doch war es. Aber findest du das denn nicht komisch?“ Seine Hand zeigte unbestimmt zur Küche.
„Ehrlich gesagt ja. Heute Morgen ist es komisch. Aber ich wünsche mir trotzdem nicht, es wäre anders gelaufen, also zwischen uns. Und vielleicht bin ich einfach so komisch. Aber ich bin auch deine Freundin und will das noch ganz lange sein. Und ich hoffe, du bleibst bei mir, auch wenn ich komisch bin.“
Robin ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. Mit hängendem Kopf saß er da, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte und ihre Unsicherheit wuchs. Noch immer wollte sie ihn in den Arm nehmen und traute sich nicht. „Ist alles okay?“, fragte sie.
„Ich brauche ein bisschen Zeit für mich.“
Also ging sie in die Küche, wo Oma noch immer am Kühlschrank lehnte und der Geruch nach verbranntem Essen nicht ganz verschwunden war. Mia kniete sich neben Oma. Ihr Gesicht wirkte jetzt friedlich. Die Traurigkeit kam wieder und Mia weinte, während sie Omas Hand hielt und die Müllabfuhr die Straße entlangkroch.
Als keine Tränen mehr kamen, kochte sie Kaffee. Robin nahm seine Tasse mit einem Lächeln entgegen. Er küsste Mia auf die Wange und nahm sie in den Arm. Und sie war so erleichtert, dass sie wieder weinte und nicht wusste, was sie mit ihrem Kaffee machen sollte, bis er ihn auf den Sofatisch stellte.
„Aber mach das nie wieder, okay?“