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Mia
„Wie konnte das denn passieren? Dieser Verhütungscomputer soll doch angeblich so sicher sein."
Fassungslos starrte Kai seine Frau Jenny an und ließ sich dann langsam auf dem Stuhl nieder. Jenny liefen ein paar Tränen die Wange hinunter, müde zuckte sie die Achseln.
„Vielleicht hast du das nicht richtig gemacht? Hol doch mal die Beschreibung.“
„Das nützt jetzt auch nichts mehr. War ja klar, dass ich jetzt schuld bin, weil ich technisch zu blöde bin.“ Jenny wurde laut.
„So meinte ich das doch nicht“, versuchte er zu besänftigen.
Zerknirscht stand er auf, wollte sie in den Arm nehmen. Jenny wandte sich ab.
„Lass mich. Ich will jetzt meine Ruhe.“
„Jetzt tu doch nicht so, als hätte ich nichts damit zu tun.“
Jennys Körper schüttelte sich, sie schlug die Hände vors Gesicht und fing laut und hemmungslos an zu weinen.
Kai kannte seine Frau, jeder Tröstungsversuch wäre jetzt ins Leere gelaufen. Also hielt er den Moment aus und wartete. Regungslos stand er vor ihr. Nach einer Weile zog sie kräftig die Nase hoch und schaute ihm fest in die Augen.
„Gleich morgen mache ich einen Termin bei Doktor Lauberbach. Ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen.“
Kai versuchte seine Erleichterung nicht allzu deutlich zu zeigen.
„Soll ich die Kinder abholen?“, fragte er.
Sie nickte und wendete sich dann dem Kochfeld zu, rührte das Gulasch im Topf Runde um Runde.
Etwas unschlüssig stand Kai noch da. Dann strich er ihr kurz und liebevoll über den Rücken.
„Bis gleich. Ich liebe dich“, flüsterte er.
Sie rührte reaktionslos weiter.
Als die Tür ins Schloss gefallen war, ließ sie ihren Tränen wieder freien Lauf, schaltete die Herdplatte auf niedrigste Stufe und schmiss den Kochlöffel in die Spüle. Dann versuchte sie sich zusammen zu reißen und noch schnell ein wenig aufzuräumen, bevor die Kinder nach Hause kamen.
Die Kinderzimmer waren klein und gemütlich. Zu klein für eine weitere Person.
„95 qm, nicht gerade groß, aber für uns drei reicht das alle mal“, hatte Kai damals gesagt, als sie sich für die kleine Doppelhaushälfte am Ortsrand entschieden hatten.
Sie hatte Kai vor zehn Jahren über einen gemeinsamen Freund kennengelernt.
„Das ist Kai“, stellte Rainer ihn damals vor.
Jenny war hin und weg von dem Mann mit den blonden Locken. Klug war er und sein Humor war einzigartig. Das war er. Das wusste sie sofort klar. So musste der Vater ihrer Kinder sein, diese Wärme musste er ausstrahlen, diesen Humor müsste er haben, diese Locken.
„Ich will dich heiraten, Kinder kriegen, ein Haus bauen, mit dir alt werden. Das ganze spießige Programm“, gestand Kai ihr ebenfalls nach ein paar Monaten.
„Ich will einen Hund, vier Katzen und mindestens drei Kinder. Mia, Lilly und Emma, wenn es Mädchen werden. Tim, Jan und Ben, falls es Jungs werden. Aber auf jeden Fall will ich eine Mia. Ich wollte als Kind schon immer ein Mädchen mit diesem Namen haben“, antwortete sie und lachte.
Sie heirateten zwei Jahre nach ihrer ersten Begegnung. Jenny war da bereits im vierten Monat mit ihrer Tochter schwanger. „Lass sie uns Lilly nennen“, bettelte Kai und Jenny gab nach.
„Na gut, aber das nächste Mädchen heißt auf jeden Fall Mia“, forderte sie. Drei Jahre später kam Tim auf die Welt.
Nächstes Jahr würde Jenny sich einen Job suchen, dann könnten Sie die Zwischentilgungen erhöhen und sich zusätzlich noch einen Urlaub mehr im Jahr erlauben. Weihnachten hatten sie den Kindern den Wunsch nach einer Katze erfüllt.
„Jetzt ist unsere Familie komplett“, hatte Jenny gemeint.
„Da seid ihr ja. Wir können sofort essen.“ Der Tisch war bereits gedeckt, als Kai mit den Kindern nach Hause kam.
„Wie war es in der Schule, meine Große?“ Liebevoll strubbelte Jenny ihrem Sohn die Locken und drückte erst ihm und dann Lilly einen Kuss auf den Kopf.
„Ganz okay, ich will jetzt spielen“, sagte Lilly.
„Wenn du mit deinen Hausaufgaben fertig bist“, antwortete Jenny und füllte die Teller. Sie fragte, wie der Sachkundeunterricht gelaufen war und ob Lilly ihr Kakaogeld abgegeben hatte. Sie versuchte aufmerksam zuzuhören, als Tim ihr von seinem neuen besten Freund im Kindergarten erzählte und half ihm zwischendurch die Erbsen mit der Gabel aufzunehmen.
Nach dem Essen spielten die Kinder im Garten, Jenny räumte die Küche auf. Kai zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, um ein paar Telefonate mit dem Büro zu erledigen. Jenny schnappte sich Putzeimer und Schwamm. Akribisch wischte sie die Küchenschränke von außen, räumte den Kühlschrank und letztendlich den Geschirr- und die Gewürzschrank aus und wienerte ohne Pause die ganze Küche. Nach dem Abendessen brachte sie die Kinder ins Bett. Lange saß sie erst an Lillys und dann an Tims Bett, las Bücher und sang beiden etwas vor.
Danach ging sie Duschen und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Kai schaute nach ihr.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, alles okay. Ich bin ja morgen beim Arzt“, beruhigte sie ihn und versuchte ein Lächeln zustande zu bringen.
„Ich kann mitkommen?! Wenn ich meine 10 Uhr Konferenz verschiebe, geht das.“
„Nein, lass mal gut sein. Ich mach das schon. Ich will jetzt nur schlafen.“
„Bist du dir sicher, dass wir nicht doch noch einmal drüber reden sollten?“
„Natürlich, bin ich sicher. Wir waren uns doch einig. Nächstes Jahr gehe ich wieder arbeiten. Die Kinder sind langsam aus dem Gröbsten raus. Meinst du, ich fange jetzt noch mal von vorne an? Außerdem haben wir doch auch gar keinen Platz mehr.“ Sie redet schnell und aggressiv.
„Ich weiß. Ich meine ja nur.“
„Sowas kann passieren. Sie sind in der 9. Woche.“
Bedrückt saß Jenny am nächsten Tag in der Praxis von Frau Doktor Lauberbach.
„Machen Sie sich so bald wie möglich einen Termin in der Klinik, nachdem Sie bei der Beratung waren. Ich mache die Unterlagen fertig. Vieleicht kommt für sie gleichzeitig eine Sterilisation in Frage?“, schlug die Ärztin vor.
Jenny starrte sie an. „Muss das sein?“
„Um Gottes Willen nein. Das ist nur ein Vorschlag. Ich dachte, sie möchten keine Kinder mehr. Das wäre dann ein Abwasch. Aber wir können danach auch über andere Methoden sprechen. Jetzt gehen Sie erst mal zu Pro Familia. Es wird schon alles wieder gut.“
Eine Arzthelferin betrat das Büro und bat Frau Doktor Lauberbach nach einer schwangeren Patientin zu sehen, der bei der Blutabnahme plötzlich übel geworden war.
„Momentchen. Ich bin gleich wieder da.“
„Kein Problem, Frau Doktor. Ich warte.“
Während Jenny wartete, schweifte ihr Blick auf die vielen Karten an der Wand. Geburtsanzeigen mit Babyfotos und Dankeswünschen der stolzen Mütter. Zweimal hatte Jenny ihr auch so eine Karte geschickt. „Wir sind glücklich über die Geburt von Lilly“ und „Lilly ist jetzt eine große Schwester – Tim ist da“. Jenny suchte die Wand nach den Fotos ihrer Kinder ab und fand Lillys als erstes. Mit wachem Blick und riesengroßen blauen Augen schaute sie in die Kamera. „Schon ein richtiges kleines Model“, hatte Kai damals gemeint, als er das Foto schoss.
Ob sie genauso hübsch werden würde? Ob sie die gleichen Locken hätte? Kais lange Finger? Lillys Dickkopf oder Tims verträumtes Wesen? ging Jenny durch den Kopf.
Die Ärztin kam wieder und sie besprachen die Einzelheiten. Mit der Überweisung in der Hand verließ Jenny die Praxis.
Die Beraterin bei Pro Familia war nett und verständnisvoller als gedacht. Jenny erzählte von ihren Kindern, den schwierigen und risikoreichen Schwangerschaften und wie sie die Pille auf einmal nicht mehr vertragen hatte. Seit sie die 40 überschritten hatte, kämpfte sie ständig mit Migräne.
„Lass das ganze Hormonzeugs. Hol dir einen Zykluscomputer, der ist super und total zuverlässig“, hatte ihr eine Mutter aus dem Kindergarten geraten.
Sechs Monate ging es gut, dann war Jennys Regel plötzlich ausgeblieben. „Hormonschwankungen“, dachte sie. „Vielleicht kommst du in die Wechseljahre“, witzelte Kai. Als sie sich zwei Tage hintereinander übergeben musste, bekam sie Angst. Der Schwangerschaftstest brachte Klarheit.
„Sowas kann passieren“, sagte die Beraterin noch zum Abschied.
Der Eingriff fand fünf Tage später in der Uniklinik statt. Morgens brachten Kai und sie die Kinder zum Kindergarten und in die Schule. Nachmittags sollte sich die Oma kümmern. Sie erzählten Kais Mutter etwas von einem kleinen Eingriff an den Eierstöcken, eine Routinesache.
Tapfer und wortlos folgte Jenny den Anweisungen des Anästhesisten, eine Schwester hob ihre Beine in die Schalen, der Arzt begrüßte sie kurz und setzte sich vor sie. Jenny schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken, während man ihr Ungeborenes absaugte. Aber es gelang ihr nicht.
Ob sie etwas merkte? Ob es ihr wehtat?
Jenny dachte daran, wie Lilly letzte Woche gestolpert war und sich das Knie aufgeschürft hatte. Jenny hatte sie in die Arme genommen, getröstet und ihr die Tränen von den Backen geküsst, wie man es als Mutter tut. Mütter beschützen ihre Kinder.
Jenny schluchzte. Eine Schwester streichelte ihren Arm und flüsterte beruhigend auf sie ein.
„Alles gut, ist gleich vorbei.“
Danach schob man sie in einen separaten Raum, in dem sie sich ausruhen sollte. Die Schwester tätschelte noch eine Weile ihre Hand, aber Jenny wollte alleine sein.
Kai hatte die Kinder abgeholt, war mit ihnen im Fastfood Restaurant etwas essen gewesen und brachte sie dann zu seiner Mutter. Er wartete auf Jennys Anruf, damit er sie abholen konnte.
Als Jenny aufstehen durfte, zog sie Trainingshose und Strickjacke über und rief Kai an.
„Ich warte unten am Kaffeeautomat im Foyer auf dich“, sagte sie gefasst.
„Ist gut, Liebes. Ich bin in zehn Minuten bei dir“, meinte er zärtlich.
Jenny verließ die Station und irrte erst etwas orientierungslos durch die unübersichtlichen Flure. Als sie die Tür zum Treppenhaus fand, blieb sie wie angewurzelt stehen. Farbige Pfeile an der Wand wiesen zur Neugeborenen Station. Ohne weiter darüber nachzudenken, machte sie sich auf den Weg dorthin.
Jenny betätigte den automatischen Türöffner und trat ein. Sie hörte Babyweinen, Stimmen, eine Mutter schob ihr Neugeborenes im Babybettchen vor sich her. Die Tür zum Kinderzimmer stand offen. Es waren nicht viele Babys im Zimmer. In der Klinik wurde Rooming In großgeschrieben. Die meisten Mütter versorgten ihre Kinder auf dem Zimmer. Jenny hatte Tim damals nicht eine Nacht ins Kinderzimmer gebracht.
Zögernd trat sie ein. Eine Schwester kehrte ihr den Rücken zu und wickelte eines der Babys. Jenny steuerte das Bettchen eines kleinen Mädchens an. Es machte gerade die Augen auf und bewegte hungrig den kleinen Mund, dabei wimmerte es leise. An dem Bett war von außen ein Schild angebracht. Eingerahmt in rosa, stand der Name, das Geburtsgewicht, Größe, Geburtsdatum und genaue Uhrzeit darauf. Das kleine Mädchen war erst ein paar Stunden alt. Jennys Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie unterdrückte die Tränen und griff nach der Flasche mit dem Sterillium, die neben der Wickelstation stand und rieb sich gründlich die Hände ein. Dann strich sie dem Kind mit zitternder Hand langsam über das Gesicht und versuchte es zu beruhigen, dabei summte sie kaum hörbar die Melodie eines Kinderliedes. So hatte sie Lilly und Tim als Baby immer beruhigen können.
Wie groß sie wohl gewesen wäre? Wie hätte sie sich angefühlt? Wie hätte sie gerochen?
Sie erschrak, als plötzlich eine ältere Schwester hinter ihr auftauchte.
„Wollen Sie die Kleine mit auf ihr Zimmer nehmen?“
Jenny wirbelte herum.
„Ein Mädchen, gell? Wie heißt sie denn?“, fragte die Schwester fröhlich. „Ich bin Schwester Irmgard und habe jetzt Nachmittagsdienst.“
Sie setzte ihre Brille auf und schaute Jenny freundlich an.
„Ich glaube sie hat Hunger“, bemerkte sie, als die Kleine lauter jammerte.
"Wie heißt ihr kleines Mädchen denn nun?“
„Mia“, flüsterte Jenny zögernd. „Sie hieß Mia.“
Dann ließ sie die verdutzte Schwester stehen und rannte Richtung Ausgang.