Mia versteht ...
Mia klemmte die Zunge zwischen die Zähne: So, jetzt nur noch dieses Viereck aus der schwarzen Pappe herausschneiden, dann war diese Seite ihrer Laterne schon mal fertig. Puh, war das kniffelig! In diesen Wochen wurde im Kunstunterricht natürlich für den Martinszug gebastelt und keine freie Minute verging, ohne dass geschnitten, geklebt oder an den bunten, neuen Laternen gemalt und verbessert wurde.
Mia wühlte sich durch ihren wahren Berg an Bastelmaterial: schwarze Pappe in verschiedenen Dicken, Transparentpapier in allen Farben des Regenbogens, Plakatfarbe, bunte Stifte, durch deren Farbe das Licht durchschimmern konnte, kurz – mehr als genug von allem da. Erst gestern hatte ihre Mutter ihr einen Geldschein gegeben, damit sie sich im Schreibwarenladen alles kaufen konnte, was sie zum Basteln brauchte.
Den Rest des Geldes durfte sie auf dem Rückweg noch für ein dickes Eis ausgeben. Denn egal ob November oder Hochsommer, ein Eis schmeckte Mia immer, selbst wenn draußen schon bald die Schneeflocken wirbelten!
Tief versunken in ihre Erinnerung an den leckeren Erdbeergeschmack von gestern schreckte Mia hoch, als ihre Banknachbarin sie anstupste.
„Kannst du mir mal deinen Bleistift geben? Meiner ist abgebrochen und schon so klein, dass ich ihn nicht mehr anspitzen kann“, flüsterte Saskia ihr vom Nachbartisch zu.
Mia runzelte die Stirn. "Ach Mensch, die schon wieder!", dachte sie genervt. Nie hatte Saskia ihre Sachen dabei! Dauernd musste Mia ihr aushelfen, etwas leihen, etwas geben! Widerwillig schob sie einen Bleistift auf die andere Bankseite, nicht ohne dabei die Augen nach oben zu rollen.
Vorne an der Tafel las Frau Baumann, die Kunstlehrerin, gerade eine Geschichte vor, um die Kinder während des Bastelns ein wenig zu unterhalten. Jetzt hatte Mia nicht mal den Anfang der Geschichte mitgekriegt, alles nur wegen dieser blöden Saskia! Frau Baumann hatte irgendwas mit Schnee und einem Bischof vorgelesen ...
Kurz darauf flüsterte Saskia von der rechten Seite in Mias Ohr: „Ich habe nicht genug schwarze Pappe ... hast du noch was?“ Schon wieder! Mia knirschte fast mit den Zähnen vor Wut, nur mit halbem Ohr hörte sie ihre Lehrerin vorlesen: „ ... und St. Martin sah den armen Mann im Schnee knien, der ihm sehr Leid tat ...“ – „Kauf dir doch selber mal ein paar Sachen – oder habt ihr vielleicht kein Geld zu Hause?“, zischte Mia wütend in Saskias Richtung. Die wurde über und über rot und sagte nichts mehr.
„ ... ohne zu zögern nahm Bischof Martin sein Schwert und teilte seinen eigenen, prächtigen Mantel in der Mitte durch. Den legte er dem armen Mann um die Schultern, damit er nicht mehr zittern musste ...“ Die letzten Worte der Geschichte hatte Mia trotz ihres Ärgers mitbekommen. Ach so, klar, die gute alte, langweilige Sankt-Martin-Geschichte, die kannte ja jeder. Der Reiche teilte mit dem Armen, so ging das, öde!
In der plötzlichen Stille einer Vorlesepause, Frau Baumann trank gerade schnell einen Schluck Wasser, hörte Mia einen unterdrückten Schluchzer und sah, wie Saskia neben ihr Tränen aus ihren Augen wischte und, wieder mal vergeblich natürlich, in ihrem Tornister nach einem Taschentuch suchte.
Jetzt war Mia doch erschrocken. Saskia weinte doch nicht etwa wegen dem, was sie gerade zu ihr gesagt hatte? Vielleicht hatte Saskias Familie ja wirklich nicht so viel Geld und sie konnte gar nichts dafür? Viel wusste Mia nicht über ihre stille Banknachbarin, obwohl sie schon so lange zusammensaßen.
Mia senkte den Kopf und dachte kurz nach, dann hielt sie Saskia wortlos eine frische Packung Taschentücher hin und legte einen ganz neuen Bogen schwarzer Pappe dazu. Dazu schenkte sie ihr endlich einmal einen freundlichen Blick. Und wirklich, Saskias Tränen versiegten sofort und sie lächelte erfreut und überrascht zurück.
„Was ist denn da bei euch los?“, fragte Frau Baumann. „Nichts, nichts“, antwortete Saskia schnell mit einem letzten Schniefer.
„Und was ist mit dir, Mia?“ – „Alles okay, Frau Baumann, die Geschichte vom St. Martin habe ich schon so oft gehört ... aber ich glaube, ich hab die jetzt eben erst richtig verstanden ...“