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Metamorphosen
Metamorphosen
Endlich bist du wieder da. Ich habe dich vermisst. Ich stelle mir vor, du hättest mich auch vermisst und würdest mich zur Begrüßung in die Arme nehmen.
Die Vorstellung gefällt mir. Lange halten wir uns fest. Als du mir sagst, ich hätte dir gefehlt, spüre ich deine zarten Hände unter meinem T-Shirt. Als Erwiderung streichle ich dir übers Haar. Ich liebe deine Haare.
Ich liebe es, wenn du neben mir liegst und sie meine Haut kitzeln. Dann spiele ich mit ihnen. Lasse sie durch meine Finger gleiten. Dabei sehe ich dich an; wie du in meinen Armen liegst. Deine Augen sind geschlossen, als würdest du schlafen. Aber ich weiß, dass du wach bist. Du atmest anders, wenn du schläfst. Ruhiger. Jetzt geht dein Atem schnell, wenn ich über deine Haut streichle.
Auch ich genieße die Situation.
Ich bitte dich, mich anzusehen, damit ich in deine Augen sehen kann. Du tust es. Immer vergesse ich ihre Farbe. Auch diesmal werde ich mich nicht erinnern. Aber es spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass du mich ansiehst. Ich sehe so viel mehr in deinen Augen, dass ihre Farbe zu einem bunten tiefen Teich verschwimmt. Wie ein Regenbogen über dem Meer.
Ich sehe deine und meine Geschichte, die zu unserer Geschichte wird. All die früheren Kapitel gehen im Regenbogen-Teich unter. Die Buchstaben werden im Wasser erst undeutlich und verschwinden dann ganz. Wir schreiben die Geschichte neu. Sie wird immer spannender – jeder Absatz aufregender, verwirrender und schöner als der vorherige. Meine unruhige Handschrift vermischt sich mit den klaren Linien der deinen. Wir schaffen etwas völlig Neues. Nie zuvor habe ich ein solches Buch auch nur gelesen. Jetzt bin ich selbst der Autor.
Die Reaktion unserer Leser wird sehr verschieden ausfallen: begeisterte Fans, knallharte Kritiker und verbitterte Neider. Es kümmert mich nicht. Ich habe jetzt schon den Literatur-Nobelpreis dafür bekommen. Und niemand wird ihn mir je wieder weg nehmen können.
Anschließend werden wir ein Musikstück kreieren. Voller weicher Klänge, ruhiger Töne und Disharmonien. Wir werden die Leadstimme singen. Jeder eine Strophe und den Refrain gemeinsam. Das Publikum wird jubeln und uns dann vergessen. Wie jedes One-Hit-Wonder. Auch das ist mir egal. Ich werde unser Lied immer wieder hören und mich daran erinnern, wie wir es uns am Lagerfeuer gegenseitig leise vorgesungen haben.
Wenn die Welt unser Buch und unser Lied vergessen hat, malen wir ein Bild. Bunt wird es sein, wie der Regenbogen aus den vielen Farben deiner Augen. Wir werden einige dunkle Linien darin verstecken, weil unser Leben nicht immer einfach ist. Wer sie findet, wird das wissen. Er wird uns verstehen. Und nicht verurteilen. Er wird unser Bild kaufen und in sein Wohnzimmer hängen. Vielleicht werden wir ihn eines Tages besuchen und unser Bild wieder finden. Vielleicht werden wir dann ein paar dunkle Linien dazu fügen oder ein paar vorhandene mit unseren bunten Farben übermalen. Auch das ist mir egal. Mit dir male ich bunte Kreise und schwarze Linien. Hauptsache, du bist da. In guten wie in schlechten Zeiten.
Zuletzt bauen wir ein Denkmal. Es zeigt uns beide. Eng umschlungen so wie jetzt. Von Weitem wird man kaum erkennen können, wo ich ende und du beginnst. Wir sind eins geworden. Die Menschen werden unser Denkmal erst anstarren und dann achtlos daran vorbei gehen. Irgendwann wird es einstürzen. Es spielt ebenso wenig eine Rolle wie all unsere anderen Werke. Es sind nur Abbilder unserer selbst.
Sie erzählen unsere Geschichte, aber wir kennen sie auswendig. Jedes Wort. Ich muss sie nicht mehr lesen, hören oder sehen. Wir sind die Geschichte.
Noch immer streichle ich dein Haar. Das Leitmotiv des aktuellen Kapitels. Es geht gut voran. Bereits viele Zeilen schmücken mein vorher leeres Blatt. Dort steht schwarz auf weiß, dass du mir gehörst. Du nimmst die Feder und malst einen Schmetterling neben meinen letzten Satz. Du weisst, dass auch ich dir gehöre, deshalb hast du keine Einwände. Wir sind dennoch frei wie der Schmetterling, zu dem wir beide geworden sind, seit unser erstes Treffen die Metamorphose eingeleitet hat. Nichts erinnern mehr an die Raupen, als die wir unser Leben begonnen haben. Auf dem Boden kriechend. Heute können wir fliegen.
Vom Himmel sehen wir auf die Menschen herab, die uns noch auf dem Boden suchen. Sie verstehen nicht, was wir einander bedeuten. Das wir uns gegenseitig das Fliegen schenken. Sie sehen auf unseren Flügeln nur die schönen Muster. Sie bedeuten uns so wenig wie unser Buch, unser Lied, unser Bild und unser Denkmal. Wichtig ist nur das Fliegen. Auch die Disharmonien und dunklen Linien fliegen mit. Sie ertönen beim Schwingen der Flügel und zeichnen sich auf ihnen ab. Auch sie bilden das Muster. Der Rest ist ein Spiegelbild unseres Regenbogens. Zusammen entsteht Grau. Wir mögen Grau. Es fliegt so gut wie jede andere Farbe. Immer höher kreisen wir um die Sonne. Irgendwann werden wir verbrennen. Unsere Asche grau wie die Farbe unserer Flügel. Sie fällt wieder zur Erde. Wir werden daraus auferstehen. Aus Schmetterlingen werden Phönixe. Niemand kann uns aufhalten, wenn wir diesmal direkt in die Sonne hinein fliegen.
© 2012