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Metamorphose
„Ich bin doch nicht abergläubisch!“, schnaufend legte Herr Artenschwedt die Zeitung beiseite. Er hatte gerade mit seiner Frau über die Entwicklung der Börsenkurse gesprochen und da hatte sie ihm vorgeschlagen, in den kommenden Wochen etwas risikoreicher zu investieren. Schließlich könne er doch zu seinem bevorstehenden fünfzigsten Geburtstag auf eine Glückssträhne hoffen. Er wusste, dass sie es nur so daher gesagt hatte, da sie sich nie für den Aktienhandel interessierte, doch bei Geld verstand er keinen Spaß. Unnötiges Risiko hat bei den Finanzen nichts zu suchen! Deswegen minimierte Herr Artenschwedt eben dieses durch die Streuung der gekauften Produkte. „Geduld und Disziplin ist für einen erfolgreichen Umgang mit Geld unerlässlich“, predigte er ihr, wie so häufig, wenn er sich am Samstagmittag bei einem Kräutertee mit den Aktien beschäftigte, „Genau, wie gesunde Ernährung und Sport für ein langes Leben unerlässlich sind.“ Herr Artenschwedt blickte auf die Uhr: Zwölf Uhr vierundzwanzig. Jetzt war es höchste Zeit, die Finanzen zu vergessen.
Seine Frau lächelte milde, als er sich erhob und in den Ankleideraum ging, um die Krawatte abzulegen und sorgsam an den dafür vorgesehenen Platz aufzuhängen. Er trug sie gern, wohl, um sich der notwendigen Seriosität bei dem Umgang mit eigenem Geld bewusst zu werden, wenn er den Vormittag über Aktiengeschäfte sinnierte. Doch nun hatte die Krawatte ihren Dienst getan und daher tauschte er sie gegen den rot-weiß gestreiften Schal, der nur eine Stange weiter hing. Schon seit einigen Spieltagen entschied er sich jedes Mal für diesen schlichten Schal, schließlich konnte er ja im Abstiegskampf schlecht mit dem Schriftzug “Nie mehr dritte Liga“ im Stadion aufkreuzen. Es musste alles daran gesetzt werden, die Negativserie aufzuhalten, um den Abstieg in den Amateurfußball zu verhindern! Amateurfußball? Undenkbar! Thomas Artenschwedt spürte die Energie, die ihn bei dem Gedanken an das heutige Spiel durchströmte. Neunzehn Heimspiele im Jahr waren für ihn unverzichtbar. Und heute ging es ausgerechnet zum direkten Konkurrenten im Kampf um den rettenden Platz 17. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel - der Schal war modebewusst gebunden - lief Thomas Artenschwedt die Treppe herunter. Zwölf Uhr sechsundzwanzig. Frau Artenschwedt bekam auf dem Weg zur Garage einen flüchtigen Kuss, worauf sie ihn mit dem Ausruf: „Drei Punkte!“, belohnte. Er öffnete das Garagentor und kramte sein Fahrrad aus der hintersten Ecke hervor. Den alten Drahtesel zog er nur für den Weg zum Fußball seinem BMW vor. Zwölf Uhr dreißig. Zeit zum Abfahren. Als er die schmale Straße, die zu seinem Haus führte, hinab radelte, fing sein hinteres Schutzblech wieder an zu rattern. Er musste schmunzeln. Früher hatte er sich stets als Motorradfahrer gefühlt, wenn es klapperte. Sein Rad hatte er noch aus Studentenzeiten. Die Luft war frühlingshaft kühl und die Sonne strahlte auf den Weg vor ihm. Tante Ingeborg arbeitete im Garten. Wie jedes Wochenende, wenn es nicht regnete oder der Boden gefroren war. Er klingelte, sie grüßte. Wie jedes Heimspiel. Ein gutes Zeichen!
Auf dem Hinweg konnte er sich den größten Teil des Weges nur rollen lassen, der Rückweg war dafür - besonders nach Niederlagen – anstrengender. Doch heute nicht! Thomas Artenschwedt hatte ein gutes Gefühl. Heute wird die Trendwende eingeleitet! Mit einer Hand kontrollierte er den Sitz seines Schals, bevor er um die Ecke zu Juppi's Imbiss bog. Juppi stand schon vor dem Eingang, wie immer mit dem alten Trikot aus den 80ern und rot-weißem Schal. Etwas verwundert kontrollierte Thomas Artenschwedt die Uhrzeit: Zwölf Uhr fünfundvierzig. Er hatte sich nicht verspätet. Klingelnd begrüßte er Juppi.
„Thommy, du alter Raudi!“, schallte es ihm entgegen, als er abstieg um sein Fahrrad an den Laternenpfahl anzuschließen. Thomas lachte: „Juppi, wie lange wartest du schon?“
„Ich habe heute etwas früher Schluss gemacht. Es ist grad nicht so viel los und außerdem kann ich es nicht erwarten, den Grottenkick heute zu sehen.“ Juppi war stets der Pessimist in der Gruppe. Egal, auf welchem Tabellenplatz der FC stand, Juppi beschwerte sich über grottenschlechten Fußball. Aber in dieser Saison lag er damit ja auch gar nicht so falsch.
„Ich hab ein gutes Gefühl“, hielt Thomas dagegen, „heute wird gekämpft, das sag ich dir. Viele gelbe Karten und ein 2:1. Merk es dir!“ Juppi schüttelte den Kopf: „Wenn die Gurken heute nicht demontiert werden, dann bin ich wirklich überrascht.“ Zu Fuß machten sich die beiden auf den Weg. Im Vorbeigehen blickte Thomas noch in die leere Imbissbude. Bei Auswärtsspielen war hier immer etwas los und auch Thomas war früher häufiger dabei. Damals, als der FC noch in der zweiten Liga gespielt hatte. Doch seit dem Abstieg hatte Juppi das Sky-Abo gekündigt und schaltete nur noch das Fan-Radio ein. Trotzdem kamen die Alteingesessenen noch gerne vorbei. Bei Heimspielen verirrte sich dagegen kaum einer in Juppi's Imbissbude. Dann ging es für alle ins Stadion.
Thomas blickte auf die Uhr. Zwölf Uhr zweiundfünfzig. Juppi und er trafen sich vor jedem Heimspiel einige Straßen von der Imbissbude entfernt mit Robby, der eigentlich Robert hieß und mit Anfang vierzig der jüngste aus ihrer Gruppe war, und dem siebzigjährigen Rentner Volker Arnolds, den sie stets nur „Fanne“ nannten. Die vier hatten sich alle in Juppi's Imbissbude kennengelernt und standen jedes Heimspiel gemeinsam in der Südkurve. Es gab kaum Spiele, an denen sie nicht vollzählig waren. Das Ritual hat sich über viele Jahre entwickelt und war bei den Drittligaspielen am Samstagnachmittag immer dasselbe: Ein Uhr, Kiosk.
Juppi erzählte von seiner Frau, die ihm immer auf die Nerven ging. Alles was er wollte, war sein Kiosk. Und Fußball. In Juppis Erzählungen wirkte es fast immer so, als hätte er sie nur geheiratet, damit sie nicht länger darum betteln würde. Juppi war einfach ein Miesepeter, wie er im Buche stand.
„Schön, euch zu sehen!“ Robby und Fanne begrüßten sie mit festen Umarmungen. Robby trug weder Schal noch Trikot. Fanne hatte sich über das Trikot aus der letzten Saison seine Jeansjacke gestreift, welche von zahllosen Anhängern unterschiedlichster Fußballvereine übersät war. Er trug sie jedes Spiel.
„Blödes Fußballwetter“, lachte Fanne und blinzelte in die Frühlingssonne, „Fritz Walter würde sich im Grabe umdrehen.“ Robby klopfte Thomas auf die Schulter. „Ich glaube, du bist heute dran“, sagte er und nickte Richtung Kiosk. Thomas beschwerte sich: „Ich war beim vorletzten Heimspiel erst dran!“
„Aber rundet sich dein Alter nicht am Dienstag?“ Thomas gab grinsend nach: „Ich geh ja schon.“
„Und glaub ja nicht, dass du in zwei Wochen nicht nochmal ausgeben müsstest“, rief Juppi ihm hinterher.
Lachend und kopfschüttelnd betrat Thomas den Kiosk. Der Verkäufer erwiderte seinen Gruß. Thomas öffnete die Kühlbox und griff zielstrebig nach den 0,5 Liter Dosen “Furtländer“. Er hatte schon die erste kühle Blechdose in der Hand, als er es sich anders überlegte. 'Verdammt, ich werde fünfzig', dachte er, 'da darf es schon was richtiges sein'. Also suchte er die Dosen mit dem nächsthöheren Preis. Statt 45 Cent, zahlte er nun 60 Cent pro Dose. Nicht nennenswert, aber die Geste war es wert.
„Wattsteiner?!“, rief Fanne ablehnend aus, „was ist denn jetzt passiert?“ „Ich dachte, zum fünfzigsten seid ihr mir etwas mehr wert“, konterte Thomas. Robby lachte nur und klopfte dreimal auf den Deckel seiner Dose, bevor er sie öffnete, wobei sie, vom Druck befreit, zischte. „Das mit den Farben hast du dir aber auch nicht richtig überlegt“, murrte Juppi und schwenkte seine Dose vor Thomas Augen.
„Oh Mist!“, entschuldige sich Thomas, als er realisierte, dass die Gäste heute in der selben grün-weißen Farbkombination auflaufen würden, wie das Design der Dose Wattsteiner, „das ist mir gar nicht aufgefallen!“ Ein Kardinalfehler! Juppi blinzelte ihn belustigt an und hob die Dose zu einem stummen 'Prost'. Die vier Fußballfans ließen das kühle Gebräu die Kehle herunterrinnen.
„Schmecken tut's nicht schlecht“, meinte Robby und Fanne widersprach: „Kommt niemals an Furtländer ran.“
Auf dem Weg zum Stadion erzählte Fanne ausgiebig die Geschichten, die zu den Ansteckern auf seiner verblichenen Jeansjacke gehörten. Es gab wohl keine Mannschaft in den ersten vier Ligen, zu denen Fanne keinen Anstecker hatte. Als er noch einige Jahre jünger war, hatte er kein Auswärtsspiel des FC verpasst. „Kennen wir schon!“ und „Is' klar!“, murrte Juppi in Fannes kurzen Atempausen. Sie kannten jedes Wort der Erzählungen, doch Fanne ließ sich nicht beirren. Thomas schmunzelte. Mit größter Verlässlichkeit verlief die Vorbereitung auf jedes Heimspiel nach dem immer selben Muster ab. Wenn man mal von dem neuen Dosenbier in den Händen der Männer absah, boten sie jedes Heimspiel den gleichen Anblick.
Fanne, Juppi, Robby und er selbst.
Munter schwätzend, missmutig grummelnd, lachend nachhakend und genüsslich schweigend.
Jedes Heimspiel.
Ohne Ausnahme.
Fanne endete erst, als sie das Stadion erreichten. Er war wieder mit dem Trinken seines Dosenbieres nicht hinterher gekommen. Also warteten sie, bis er seine Dose geleert hatte und im Mülheimer entsorgte. Mit ihren Dauerkarten war der Eintritt eine Sache von wenigen Minuten.
Vor dem Spiel stellten sich die vier an die Bratwurstbude. Juppi verweigerte sich der „überteuerten Wurst“, während die anderen drei zuschlugen. Es war keine Frage, dass Thomas auch dieses Mal seine Kumpanen einlud. Man wird ja nur einmal fünfzig. Robby erzählte von seiner Arbeit. Er war Lehrer an der Berufsschule und konnte jedes Heimspiel mit einer skurrilen Geschichte aufwarten. Es war lustig, doch mehr als ein Lächeln war aus den alten Herren nicht herauszubekommen. Nur Thomas lachte herzlich.
Schließlich ging es auf den üblichen Platz. Nicht zu nah an die Ultra-Gruppierungen, die - wie Juppi es ausdrückte - mit „jugendlichem Schwachsinn“ zu oft vom Spielgeschehen ablenkten, indem sie Pyrotechnik zündeten. Vor dem Anpfiff klärte Robby noch alle über den Schiedsrichter auf: „Der Schiri kommt aus der Nähe von München. Du kannst mir nicht erzählen, dass der heute unparteiisch bleiben wird. Der hat uns letzte Saison schon zweimal verpfiffen! Was denken die sich beim DFB dabei?“
„Fußballmafia“, kommentierte Fanne nur.
Der Senf lief aus Thomas Stadionwurstbrötchen heraus und gutmütig fluchend wischte er die Hand an der Hose ab.
„Was tippste?“, fragte Fanne in die Runde und wartete keine Antwort ab: „Ich sag, dass wir heut' 3:0 gewinnen. Thommy hat schließlich bald Geburtstag, also wenn das nicht hilft...“ Thomas nickte: „Jau, ich habe auch ein gutes Gefühl. Das wird heut' was!“ Für seinen bevorstehenden Ehrentag gab es heute drei Punkte, da war sich Thomas sicher.
Das Spiel zog sich dahin, wie ein zähes Kaugummi. Es gab so wenige Torraumszenen, dass selbst Thomas sich beschweren musste. „Ein Fehlpass nach dem anderen“, grummelte Juppi und verschüttete etwas von seinem „überteuerten“ Stadionbier, auf dass er doch nie verzichten konnte. Thomas ließ sich von Fanne eine Zigarette geben, um sich von dem schwachen Aufbauspiel abzulenken. Keiner konnte dem FC heute eine gute Leistung konstatieren. Nach den regulären neunzig Minuten blieb den Fans immer noch ein Tor verwehrt. Nur noch die Nachspielzeit blieb, um das Abstiegsgespenst aus dem Stadion zu vertreiben.
„Geh rauf da!“, schrie Fanne, doch der Verteidiger hörte ihn nicht und so konnte dessen Gegenspieler nahezu ungehindert in den Strafraum flanken. Der grün-weiße Stürmer stieg zum Kopfball hoch.
Die Männer schwiegen.
Auf der anderen Seite des Stadions brandete leise der Jubel von den hundert mitgereisten Auswärtsfans auf.
Fassungslos starrten die vier Freunde auf das Spielfeld.
„Scheiße!“, schrie Thommy seinen Frust heraus, der sich in einem einzigen Gedanken manifestierte:
'Hätte ich doch nicht dieses beschissene Wattsteiner gekauft!'