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Metamorphose
Den Herbst über hielt sich Viktor Saligmann in einer Hütte in den Bergen auf. Dort wurde er von einem Monster, dessen Kopf aus einem Gänseblümchen bestand, gefoltert. Jeden Tag zu festgelegten Uhrzeiten malträtierte es ihn mit dem Geräusch von Kuhglocken. War dies gerade nicht der Fall, schloss Viktor häufig die Augen und stellte sich vor, das Rauschen des an der Hütte vorbeiführenden Flusses wäre der Lärm eines Flugzeuges, das ihn von diesem Ort und am besten gleich dem ganzen Planeten zu befördern gedachte. Manchmal erschien ihm das sinnlos. Dann setzte er oft dazu an, lange Wanderungen in die umliegenden Täler zu unternehmen, was allerdings stets an seiner Angst vor dem fremdartigen Wesen scheiterte. Nicht, dass ihm der Weg nach draußen nicht freigestanden hätte. Dennoch ahnte Viktor, einem unbestimmten Bauchgefühl folgend, dass ein allzu langes Wegbleiben gravierende Folgen für ihn bergen würde.
Nun könnte natürlich der Eindruck naheliegen, dass Viktor mit seinem Dasein in der Hütte wenig zufrieden war und dieses am liebsten auf der Stelle hinter sich gebracht hätte. Das war aber durchaus nicht der Fall, da das Leben es bereits an anderen Orten nicht gut mit ihm gemeint hatte und er so keine großen Erwartungen mehr für selbiges hegte. Zudem sagte ihm die Gesellschaft von Menschen in der Regel wenig zu und so quälend die Tortur mit den Kuhglocken auch schien, so war das seltsame Wesen Viktor doch mittlerweile ans Herz gewachsen. Oft stellte er sich, sich unruhig auf seinem Bett wälzend, die Frage, woher diese sonderbare Anziehungskraft kommen konnte, die es auf ihn ausübte. Doch zu beantworten war das kaum, denn ein Monster wie dieses wäre selbst für einen erfahreneren Menschen als den jungen Viktor kaum mit gewohnten, menschlichen Maßstäben anzugehen gewesen. So musste er sich mit der Irrationalität der in ihm lungernden Gefühle abfinden. Mit der Zeit wurden diese das Wesen betreffenden Emotionen aber immer verwirrender und begannen ins Absurde abzudriften.
Bald meinte er sogar, Unterschiede in dessen Gemütslage anhand des täglichen Geläutes erkennen zu können. War es gut gelaunt, schien es die Glocken dazu zu bringen, sanfte, helle Klänge von sich zu geben und beendete das Spiel, die reinweißen Blütenblätter fröhlich wogend, deutlich früher als gewohnt. Bei übler Laune hingegen schleuderte es das Instrument in grausamem Stakkato hin und her. Hierbei zitterte die Blüte in krankhafter Manie. Die Ursache für die Stimmung des Wesens konnte Viktor nicht erkennen, wohl aber eine plötzliche Veränderung zu Beginn der dritten Woche seines Aufenthalts. Erst kaum merklich, später aber deutlich zu erkennen, wirkten die Bewegungen seines Peinigers immer träger. Der blühende Kopf hing lethargisch an dem eingefallenen Körper herunter, in den Blättern war kein Glanz mehr zu erkennen und die Folter schien von Tag zu Tag lustloser durchgeführt zu werden. In seiner völligen Ratlosigkeit bezüglich der Situation, gelang es Viktor nicht sich einen Reim auf diese Merkwürdigkeiten zu machen. Es war zum Verzweifeln. „Wenn es in dieser Geschwindigkeit weitergeht“, so dachte er, „dann ist es bald aus mit dem Ganzen!“, und seltsamerweise versetzte in dieser Gedanke in regelrecht panische Stimmung. Außer sich schritt er dann in seinem beengten Zimmer auf und ab, sich die Haare raufend und auf der Suche nach einer Lösung für das Problem. Es schien ihm unmöglich im Todesfall des Monsters weiter in der Hütte zu verweilen, doch bis zu dem Eintritt dieses Szenarios wäre vermutlich bereits der Winter angebrochen und die Wege ins Tal unbegehbar geworden. Die Hütte vor dem Ableben des Wesens zu verlassen, erschien Viktor dagegen einfach falsch. „Man hat ja auch noch moralische Grundlagen“, redete er sich ein, auch wenn er natürlich die Selbstsüchtigkeit erkannte, die sein Verhalten bestimmte.
Am ersten Dezembermorgen war die Hütte bis zum Dach eingeschneit, die Temperaturen befanden sich erstmals in den Minusgraden und das Monster war verschwunden. Viktor, der diesen Umstand schon erahnt hatte, als er um elf ohne das gewohnte Geläute, ausgeschlafen und halb erfroren erwacht war, saß fassungslos an dem massiven Esstisch im zentralen Wohnraum. Mit leeren Augen teilnahmslos an die Decke starrend, fragte er sich, warum ihn der längst offensichtliche Ausgang dieses Dilemmas dennoch so bewegte. So verging die ganze nächste Stunde. Dann sprang er wie vom Blitz getroffen auf. Mit einem Mal war er nicht mehr in der Lage, die gegebene Situation zu akzeptieren, und einem wildgewordenen Tier gleich, dass die Umgebung um sich herum nicht wiedererkennt, begann er fieberhaft und planlos durch die Räume der Hütte zu hetzen. „Irgendetwas muss es doch geben!“, keuchte er über seine wahnwitzige Anstrengung hinweg, „Irgendetwas! Irgendetwas!“. Zu seiner eigenen Überraschung erwies sich die Suche tatsächlich als erfolgreich. Denn auch wenn keine Spur seines Peinigers zu sehen war, so hatte sich zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer ergeben. Dieser offenbarte sich in Form eines etwa handtellergroßen Schmetterlings, welcher wundersamer Weise in der verstaubten, unbenutzten Vitrine im Flur des zweiten Stockwerks aufgetaucht war. Schon bevor er die in viktorianischem Schwung verzierten Flügeltüren zum ersten Mal öffnete, bereits während seiner Zeit als Gefangener, hatte Viktor dieses seltsame Möbelstück gereizt. Von den rankenförmigen Mustern und Maserungen im Holz schien eine ganz eigenartige Versprechung auszugehen. So stark, dass er sich in seiner manischen Suchaktion direkt dem vertrauten Gegenstand zugewandt hatte, den er neben den Glocken am meisten mit der gemeinsam mit dem Monster verbrachten Zeit verband. In dieser Vitrine fand er nun das nächste Puzzlestück im quälenden Spiel um seinen Verstand.
Trotz immer noch angespannter Nervenlage, kam Viktor nicht umhin, die außergewöhnliche Schönheit des schillernden Geschöpfes anzuerkennen, das ohne das geringste Zittern, elegant und farbenprächtig, auf Schulterhöhe vor ihm im obersten Fach die Flügel spreizte. Als er die Hand nach dem Schmetterling ausstreckte, zeigte dieser entgegen Viktors Erwartungen keine Reaktion und so berührten seine Fingerkuppen für einen kurzen Moment die weiche Oberfläche der zierlichen Schwingen. Sie war eiskalt. Erschrocken zuckte Viktor zurück. Nicht allein die Kälte war es, die ihn so schockierte. Es war viel mehr die vollkommene Abwesenheit von Lebendigkeit in diesem äußerlich so leuchtend, eleganten Geschöpf, die sich ihm durch die flüchtige Berührung offenbart hatte. Getrieben von unerklärlicher innerer Abscheu schmetterte er die Vitrinentür hinter sich zu, dass man sie noch Minuten später hektisch vibrieren sah.
Bis zu seiner nächsten Begegnung mit dem seltsamen Schmetterling sollte es nur wenige Tage dauern. Eigentlich hatte sich Viktor vorgenommen, dem grauenhaften Mischwesen aus Leben und Tod nie wieder gegenüberzutreten, doch eine Entdeckung die er am dritten Morgen nach dem Verschwinden des Monsters rein zufällig gemacht hatte, gab seinem verwirrten Selbst neuen Grund, abermals einen Versuch der Kontaktaufnahme zu wagen. Durch die ersten Sonnenstrahlen früh geweckt, war sein Blick auf dem Weg zur Toilette an einer schlichten Tür, in der Rückwand des Hausflures gefallen. Vage meinte er sich zu erinnern, diese schon einmal gesehen zu haben. Doch wirklich wahrgenommen, geschweige denn geöffnet, hatte Viktor das fensterlose, massive Holzkonstrukt noch nie. Neugierig, seine nackten Füße mühselig über den Boden schleifend, schlurfte er also an die Tür heran, um sie näher zu betrachten. Zu spät erst bemerkte er, dass diese gar nicht geschlossen, sondern nur angelehnt war, und so stürzte er, verschlafen wie er war, Hals über Kopf in den sonderbarsten Raum, den er je gesehen hatte. Er war annähernd quadratisch, mit schlampig verlegtem Parkett ausgestattet und von weiß tapezierten Wänden eingeschlossen. Auch das Mobiliar machte mit dem wuchtigen Schreibtisch und den altmodischen, in dunklem Holz gehaltenen Büroschränken keinen absonderlichen Eindruck. Generell hätte das Zimmer als absolut gewöhnlich durchgehen können. Wären da nicht die unzähligen, an abgewetzten Ledergurten von der Decke hängenden Kuhglocken gewesen. Viktor fühlte sich unweigerlich an einen Film zurückerinnert, den er vor einigen Jahren gesehen hatte, in dem der psychopathische Serienkiller all seine Werkzeuge fein säuberlich sortiert, in einer Truhe in seinem Keller gelagert hatte, die nie jemand zu Gesicht bekam außer seine Opfer. Doch im Unterschied dazu war das Zimmer ein absolutes Chaos. Keine zwei Gurte waren gleichlang. Die Glocken hingen ineinander verdreht und verknotet, verbeult und von einer feinen Staubschicht bedeckt, ohne ein erkennbares Konzept der Ordnung von jedem erdenklichen Fleck freier Deckenfläche. Als Viktor sich vorsichtig einen Schritt in den Raum hinein bewegte, entlockte er den Glocken um sich herum ein leises Läuten und es war als ob die Luft im Schall vibrieren würde. Irritiert und von grausamen Erinnerungen geschüttelt, ging er daraufhin zu Boden. Die klingende Luft drückte ihn nieder, während er im Fall immer mehr Glocken anstieß und seine Agonie so bis ins Unermessliche steigerte. Jedes Läuten schien ihm jetzt wie ein Kreischen in den Ohren. Wie kratzende Fingernägel auf einer Schiefertafel. Wie Grauen erregende Explosionen in seinem Gehörgang, ihn immer weiter in seinen Niedergang herabtreibend, bis er sich endgültig zu Boden warf, den Schädel panisch unter seinen Händen versteckt, und schluchzend auf Erlösung wartete. Als die Geräusche verklungen waren und er den Kopf von seinem unfreiwilligen Bett auf dem Holzboden erhob, konnte er das erste Blatt spüren, das an seiner jugendlich glatten Wange zu wachsen begann.
Später, es ging schon wieder auf den Abend zu, stellte Viktor sich erneut dem in der Vitrine versteckten Grauen. Trotz der missglückten ersten Begegnung mit dem Schmetterlingswesen, empfand er keine Angst, als er die Türflügel langsam nach außen drückte. Vorsichtig, mit fast schon chirurgischer Präzision und Ruhe öffnete er sie einen kleinen Spalt, gerade daumenbreit, um einen Blick auf die sich darin befindliche Gestalt zu erhaschen. Der Schmetterling befand sich immer noch an derselben Stelle wie zuvor und ließ seine kalten Flügel sanft auf und ab schwingen. Unbeeindruckt davon, beugte sich Viktor, ohne das Wesen aus den Augen zu lassen, langsam nach vorne und brachte die Kuhglocke zum Vorschein, die er beim Verlassen des Zimmers, früher am Tag, an sich genommen hatte. Sie war ein prächtiges Exemplar. Auffallend wenig beschädigt und von feinen, mit Witz geschliffenen Ornamenten geziert, die rund um die Glocke verschiedenste Gesichter darstellten. Diese zeigten die absurdesten Emotionen. Die Bandbreite reichte von gewöhnlicher Wut und Trauer, über absolute Resignation, bis hin zu einem wahnwitzigen Lachen, welches fast schon einen qualvoll verzerrten Eindruck machte. Diese Glocke, der später noch viele weitere folgen sollten, läutete Viktor nun mit schwungvoller Begeisterung vor der Vitrine hin und her. Es entstanden keine schönen Klänge, aber der Wahnsinn blitzte in seinen Augen und so führte er sein Spiel immer weiter, während die Minuten vergingen. Als nach einer halben Stunde der Anstrengung sein Arm zu schmerzen begann und der Schmetterling immer noch keine Reaktion zeigte, wurde Viktor immer verzweifelter. Seine Bewegungen gestalteten sich kürzer und zuckender, die Glocke ertönte immer leiser und schließlich schlug die Verzweiflung in bodenlose Enttäuschung um, was gleichzeitig das Ende des Spiels bedeutete.
Jeden Tag aufs Neue besuchte Viktor von da an den Schmetterling in seiner Vitrine, jeden Tag aufs Neue versuchte er, ihn mit einer anderen Glocke auf irgendeine Art und Weise zu verändern, jeden Tag aufs Neue scheiterte er kläglich, und jeden Tag aufs Neue wuchs ein weiteres Blatt auf seinem blühenden Schädel. Ehe er sich versah, war der Winter vergangen. Dann der Frühling. Der Sommer. Der Herbst. Bis es schließlich wieder Winter war. Ausgelaugt vollführte er, sein Kopf bedeckt von weißen Blättern, ein weiteres Mal das Ritual vor der Vitrine. Er war bei der letzten Glocke angelangt. Ein altes, verbeultes und verstaubtes Gerät, das von Spinnennetzen behangen seinen Dienst verrichtete. Als er fertig wurde, war es ihm endgültig genug. Quälend langsam holte sein todmüder Arm zum Schlag aus. Das Glas der Vitrinenscheibe erzitterte, gab nach, splitterte. Wie in Zeitlupe sah er seine blutende Hand auf das zierliche Geschöpf vor ihm niedergehen. Er war kein Mörder. Es war bereits tot gewesen. Die ganze Zeit über. Das alles merkte Viktor, als die kleinen Platinen, Steckkarten und Kabel knirschend unter seinen Fingern zu Bruch gingen, die das Leben in dem Wesen vorgegaukelt hatten. Er war erleichtert. Alles würde jetzt besser werden, dachte er sich, als er das erste Mal seit er sich erinnern konnte aus der Hütte heraustrat, den Schal etwas enger zog, und seinen Blick fest auf den Weg in die Welt hinaus richtete. Hinter ihm begann es zu schneien.