Messias
Messias
In einer alten Menschenwelt lebte einer unter vielen, der anders war. Während jeder der Menschen um ihn herum irgendwann einmal aus dem Nichts entstanden war und sich eines Tages auch wieder in Luft auflöste und jene Welt verließ, hatte er das Gefühl, schon immer da gewesen zu sein. Seine Erinnerungen waren zwar endlich, wie die der anderen auch, doch reichten sie viel weiter zurück, als das Leben eines normalen Menschen dauerte. In seinem bisherigen Dasein hatte er eine Unzahl von Menschen hervorkommen und verschwinden sehen. Alltäglich beobachtete er die Menschen in seiner Umgebung - ihr Aufkeimen, ihre Entfaltung, ihren Verfall - ohne Einfluss zu nehmen. Und verspürte er einmal den Drang etwas zu verändern, so wusste er nicht wie. Die Menschen schienen ihn nicht wahrzunehmen. Er tat grundsätzlich nichts anderes, als zuzusehen und nahm diesen Umstand bedenkenlos hin, denn sein Schicksal schien allein im Beobachten anderer zu liegen.
Und so beschaute er die Welt und ihre Bewohner über eine Vielzahl von Zeitaltern hinweg und lernte die Menschen auf eine Weise kennen, wie es niemand der in der Geringfügigkeit eines Menschenlebens gefangen war, vermochte. Er kannte ihre Gelüste und ihre Ziele – welche immer dieselben waren – und wusste um ihre seltsame Faszination für Dinge, die höher standen, als sie selbst. Und wenn er auch selbst nicht in der Lage war, wie die anderen zu fühlen, glaubte er dennoch, auch ihre Schmerzen und ihre Ängste zu verstehen. Gab es also Auseinandersetzungen unter den Menschen, so hatte er sie bereits lange vorausgesehen, denn die Menschen an sich veränderten sich wenig und alle Geschehnisse ließen sich mit anderen aus längst vergangenen Tagen gleichsetzten. So hatte der eine, der anders war, die Fähigkeit erlangt, weit in die Zukunft zu blicken. Jedoch gab es eine Frage, die auch er nicht beantworten konnte, deren Antwort er nicht einmal am Horizont erkennen konnte. Die Enthüllung schien vollkommen außerhalb seiner Reichweite zu sein, was ihn den Gedanken nie loswerden ließ, vielleicht doch, zumindest nur in geringem Maße menschlich zu sein. Obwohl er nämlich alles über diese Welt zu wissen schien und ihre Bewohner, diese verglichen mit allen Dingen um sie herum so schwer fassbaren, mannigfaltigen Lebewesen, vollkommen durchschaute, konnte er sich selbst in ihr nicht einordnen. Was war der Ursprung seines eigenen Daseins? Und würde es einmal ein Ende geben? Sollte er auf ewig tatenlos durch die Welt wandeln? Durch die Sinnfrage fühlte er sich den Menschen in gewisser Weise doch verbunden, denn durch diese fühlte er sich zunehmend unvollkommen und schwach.
Der Daseiende sieht auf sein Werk hinab. Unentwegt. Nichts bleibt ihm verborgen. Egal in welcher seiner Welten es geschieht. Und von diesen gibt es viele. Unzählige. Keine gleicht einer anderen. Jede hat ihre Eigenarten, ihre Gesetze. Gemeinsam haben sie nur ihr alter, denn alle entstammen der Zeit, in welcher der Daseiende noch als Weltenschöpfer handelte. Doch diese Zeit ist lange vergangen. Am Anfang von allem war der Daseiende mit Liebe durchdrungen. Und diese Liebe regte ihn zum Erschaffen von Dingen an. Und so begann er verschiedenste, unabhängige Welten zu gestalten, und sah zu, dass jede für sich gut war. Schließlich genügte es ihm. Sein gewaltiges Werk war vollendet und nun ließ er jede Welt für sich gedeihen. Doch immerzu alles zu sehen, was es zu sehen gab, und alles zu wissen, was man wissen konnte, ließ seine Liebe bald Gleichgültigkeit und diese letztlich Unzufriedenheit weichen. Zunehmend wurde er seines Daseins überdrüssig und wünschte sich inständig, in dem Wissen, dass alle Welten für immer weiter bestehen würden, zurück in die Finsternis, der er entstammte, zu kehren. Jedoch gab es diese eine Welt unter vielen, der ein Ende drohte. Die seltsame Welt der Menschen, mit der etwas geschehen war, das er zur Zeit der Schöpfung noch nicht geahnt hatte. Die Menschen hatten begonnen schleichend ihre Heimat zu zerstören. Dieses einmalige, formvollendete Land, dass ihnen der Weltenschöpfer einst geschenkt hatte, welchem er ebenso auch die Menschen geschenkt hatte, damit sie sich daran erfreuen können, wenn er diesen Weltenraum einmal verlassen würde, nahmen sie nicht an, wie es war. Sie knechteten und misshandelten die Welt. Alle, die jene Welt einst mit den Menschen teilten, wurden von ihnen unterworfen oder vernichtet. Der Mensch machte sich zum Herr über die Welt. Überdies schien er sich vor allem was er nicht verstand, vor seinem Ende und vor der Zeit selbst, zu fürchten. Dabei – und das war es, was dem Daseienden missfiel – wendete er sich oftmals an seinen Schöpfer, klagte, flehte um Hilfe. Der Normalität abweichende Geschehnisse verstand er als Zeichen des Herrn. Und so entstand das Bild eines unbeschränkten Schöpfers, der seinem Volk noch etwas schuldig war.
Diese Entwicklung missbilligend sieht der Daseiende auf seine Welten hinab. Mit unermesslicher Sehnsucht nach dem endgültigen Verschwinden, der Stille, der ewigen Schwärze erfüllt, gibt es nur ein letztes handeln, das ihm bevorsteht.
Denn damals, als sich der Wunsch nach der Rückkehr in die Düsternis festigte, erhob sich der Daseiende zum ersten Mal seit der Weltenerschaffung, um ein letztes Mal zum Schöpfer zu werden, und erschuf etwas nie zuvor dagewesenes. Einen menschenartigen Geist, der, ähnlich wie er Daseiende, vollkommen gelöst von Zeit bestehen sollte, und setzte ihn in der Menschenwelt aus.
Bald ist der Moment gekommen, in dem sich der Daseiende seinem letzten Abkommen offenbaren und ihm die Gestalt eines Menschen geben wird. Und als einer von ihnen soll er unter die Menschen treten und sie lehren. Als Hirte soll er sie führen in eine Zeit ohne wachenden Schöpfer. Und so werden sie ihren Frieden finden. Der Daseiende wird, ist dieses letzte Werk vollbracht, Ruhe im ewigen Nichts, dem er entstammt finden. Bald wird sich niemand an ihn erinnern.