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Messias-Syndrom
Sie schielt auf den klaffenden Schnitt über meinem rechten Auge und möchte wissen, ob ich mir die Verletzungen in meinem Gesicht selbst zugefügt habe. Dann schiebt sie mir ihren Kugelschreiber in den Mund und sagt, dass neben den beiden Schneidezähnen auch ein Backenzahn fehlt.
„Schon ok“, sage ich und versuche dabei zu lächeln. „Es gibt Schlimmeres.“
Mit jedem Wort tropft etwas Blut auf mein frisch gebügeltes Hemd. Ich wische mit dem Rücken meiner Hand darüber und lächle weiter.
„Irgendwie werde ich aus Ihnen nicht schlau“, sagt sie und macht sich ein paar Notizen auf ihrem Klemmbrett.
Sie ist hübsch. Nicht mehr so hübsch wie die Frauen aus den Magazinen, aber für ihr Alter ist sie erstaunlich gut in Schuss. Vor 10 Jahren hätten sich noch Blätter wie 'Playboy' oder 'Penthouse' um sie gerissen, aber inzwischen ist sie zu alt und der kleine Bauchansatz unter ihrer Bluse ist deutlich zu erkennen.
„Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen“, sagt sie. Und dann: „Schenken Sie mir ein wenig Vertrauen. Reden Sie mit mir.“
„Ich habe Ihnen alles erzählt“, sage ich. „Bei mir ist soweit alles in Ordnung“.
Ich versuche gelangweilt zu seufzen, stattdessen stößt meine Zunge durch die Zahnlücke und zerstäubt frisches Blut in der sengenden Hitze.
Sie beobachtet mich, mit diesen schwarz funkelnden Augen und sie schiebt sich nachdenklich den Kugelschreiber in den Mund. Ich frage mich, ob das, was zwischen uns beiden existiert, die einzig wahre Liebe ist.
Mein Speichel und mein Blut.
Denn ich bin das Heil, das hinwegnimmt die Sünden der Welt.
Folge mir und du wirst ewig leben.
Trinke von mir und du empfängst die Absolution.
Esse von mir und ich werde für immer bei dir sein.
„Sie müssen dringend zum Arzt“, sagt sie.
„In zwei, vielleicht drei Tagen ist alles wieder in Ordnung“, sage ich und zeige auf die kreisförmig violette Verfärbung, die sich wie ein Tintenfisch um mein geschwollenes Auge legt. „Ich muss einfach besser aufpassen, die Augen offen halten. Verstehen Sie?“
„Ich soll Ihnen die Geschichte also glauben“, sagt sie. „Zwei Männer prügeln Sie am helllichten Tag an einer Bushaltestelle zu Boden. Ohne Grund. Und kein Mensch sieht oder hört etwas?“
„So ähnlich ist es gewesen“, sage ich. Und ich nicke und fühle mich schlecht.
Lügner.
Scharlatan.
Folge mir und du zerfällst zu Staub.
Das ist die einzige, die echte Wahrheit.
„Was treiben Sie eigentlich den ganzen Tag?“, sagt sie.
„Sie meinen, wenn ich nicht gerade an Bushaltestellen herumstehe und mich verprügeln lasse?“ Ich warte auf ihr Lächeln, auf diesen kurzen Moment, wenn ihre perfekt weißen Zähne durch die Lippen blitzen wie kleine Diamanten.
„Ich bin Programmierer“, sage ich. „Ich arbeite an der Börse: High Frequenzy Trading. Ich entwerfe Programme, mit denen sich Aktien im Millisekunden-Bereich handeln lassen.“
Ihr hübsches Köpfchen nickt und ich füge verständnisvoll hinzu: „Ziemlich kompliziert das Ganze.“
„Und in Ihrer Freizeit?“, sagt sie. „Sie haben doch Freizeit?“
„Oh ja“, sage ich. „Ich sehe mir gern alte Filme an, oder ich lese.“
Oder ich schneide mir die Pulsadern auf.
Oder ich tacker mir die Eier an den Couchtisch.
„Was lesen Sie?“, sagt sie.
„Hemingway, Ellis, Miller. Die Großen“.
Dabei hatte ich seit zehn Jahren kein Buch mehr in der Hand.
Es gab eine Zeit, in der ich Bücher geradezu verschlungen habe. Jeden Tag ein Buch, manchmal auch zwei oder drei Tage für die dicken Wälzer. Aber je älter ich werde, desto weniger interessieren sie mich. Irgendwie habe ich es satt, ständig darüber zu lesen, wie beschissen und abgründig das Leben sein kann. Oder wie verdammt lustig. Wenn du in der Scheiße sitzt, finde dich damit ab. Hör auf zu jammern und bring deinen Arsch in Bewegung. Und wenn die Sonne nur für dich strahlt und alles happy ist, dann solltest dir ernsthafte Gedanken über deinen Drogenkonsum machen, du verlogenes Stück Scheiße.
„Kennen Sie 'Der alte Mann und das Meer'?“, sagt sie.
„Klar“, sage ich.
„Was halten Sie davon?“
„Hemingway? Ich denke, es ist sein schlechtestes Buch“, sage ich und sie runzelt die Stirn.
„Kommen Sie“, sage ich. „Ein alter Mann segelt übers Wasser und fängt einen Fisch. Und zurück im Hafen haben längst die Haie den verdammten Fisch gefressen. Der alte Idiot hätte sich am besten gleich zu den Viechern ins Meer werfen sollen.“
„Sie meinen, es lohnt sich nicht zu kämpfen?“, sagt sie.
„Das habe ich nicht gesagt.“, sage ich. „Ich meine: was weiß ein sterbender Fischer aus einem Kuhdorf am Arsch der Welt über das Leben. Oder das Kämpfen. Er ist ein Versager. Ich glaube, nicht mal die Haie hätten ihn gefressen.“
„Sie tun mir leid“, sagt sie.
„Ok“, sage ich. „Ich habe verstanden. Na los, tun sie es. Schlagen Sie mich.“
„Was?“, sagt sie und sieht mich an, als hätte ich soeben den letzten Funken Hoffnung an das Gute im Menschen aus ihrer Seele gesaugt.
„Sie sollen mich schlagen“, sage ich und halte ihr den Kopf hin. „Nicht so schüchtern. Ich weiß, dass Sie es gerne tun würden. Geben Sie mir eine.“
Ihr Gesicht hat die Farbe von Wachs und ihre Augen spiegeln sich im Licht wie schwarz polierter Stein. Sie sagt kein Wort.
„Gut“, sage ich. „Wenn Sie eine Chance nicht erkennen, weil Sie zu blöd sind, dann muss ich es selber erledigen.“
Ich trage für solche Notfälle ein Skalpell bei mir. Mit der linken Hand straffe ich die Haut unter meinem geschwollenen Auge und mit der rechten steche ich durch das dünne Fleisch meiner Wange. Ich ziehe das Skalpell an den Zähnen entlang nach vorne, bis die Klinge auf eine Lücke trifft.
„Sehen Sie das?“, sage ich und spucke wieder Blut. „Das hier ist das echte Leben. Kein Gesäusel über elende Fischer und den verzweifelten Kampf mit der Natur. Wenn du den Schmerz noch spüren kannst, weißt du, dass du noch nicht tot bist. Alles andere ist Bullshit.“
Ich fühle mich schlecht .
Ich fühle mich wie das Furunkel am Arsch dieser Welt.
Ich habe längst vergessen, was mir heilig ist.
„Ich denke, Sie sollten jetzt besser gehen“, sagt sie und starrt auf den Boden.
„Ok“, sage ich. „Alles klar. Wie Sie möchten.“
Ich stehe auf und der Teppich knirscht unter meinen Schuhen. Am Türrahmen warte ich und werfe ihr ein letztes groteskes Lächeln zu.
„Nächste Woche zur gleichen Zeit?“, sage ich.
„Wir sollten telefonieren“, sagt sie und sieht mich dabei nicht mal an.
„In Ordnung“, sage ich und schließe die Tür.
Für einen kurzen Moment drücke ich mein Ohr gegen das hell lackierte Holz und meine Wange hinterlässt einen schmatzenden Fleck.
Ich lausche.
Ich lächle.
Irgendwie werde ich aus ihr nicht schlau.