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Messerklingen
Die Frauen umringen den Kinderwagen in einem engen Kreis, drängen sich an ihn, als wollten sie den Säugling darin mit ihrer Bewunderung ersticken. Alle reden gleichzeitig. Sie wippen mit ihren Oberkörpern wie aufgeregte Krähen. Die Mutter strotzt vor Selbstbewusstsein.
Ich beobachte die Straßenszene mit Interesse, fühle mich gleichzeitig angezogen und abgestoßen.
Hastig biege ich in das Seitengässchen ab, damit die Höflichkeit mich nicht zwingt, einen Blick in den Kinderwagen zu werfen. Ein kurzes Ziehen im Unterleib. Reflexartig fasse ich hin. Kein Grund zur Sorge, nur die Narbe.
Heute ist einer dieser Tage, an denen ich mich mit Leidenschaft banalen Dingen hingeben kann. Ich ziehe den Pullover in Form, falte ihn zusammen. Akribisch, nach einer technischen Zeichnung, die nur in meinem Kopf existiert. Das Gestrick unter meinen Handflächen ist weich und geschmeidig. Streicheleinheiten für tote Dinge. Ich verliere mich.
Die Türglocke kündigt Kundschaft an. Als ich hochsehe, setzt mein Herz einen Schlag aus.
Frank. Bisher hat er mich noch nie im Geschäft besucht. Grinsend kommt er näher. Sehr nah. Küsschen rechts, Küsschen links. Er zieht mich fester an sich als nötig. Ich kann nur ahnen, er genießt diese Umarmung genau so wie ich. Ja, ich mag ihn, weil wir den gleichen Humor haben und er nie müde wird, mit mir zu streiten. Ich mag ihn sogar sehr. Aber wir haben nichts miteinander. Und da wird auch nie etwas sein.
„Ich brauche ein Geburtstagsgeschenk für Babs. Weiß, bin spät dran.“
Ich lächle verständnisvoll. “Woran hast du gedacht?“
„Keine Ahnung.“ Schulterzucken. “Ich verlass mich da ganz auf dich, Carla. Kennst doch ihren Geschmack.“
Wir bewegen uns auf sicherem Terrain. Fachfragen für die Fachfrau. Mein Metier, immerhin, darin kenne ich mich aus.
„Ich such’ was Passendes aus, kein Problem. Wie viel willst du ausgeben?“
„Egal. Was es kostet, kostet es. Packst du’s mir noch schön ein?“ Er sieht mich mit diesem Blick an, der mir durch Mark und Bein fährt. Das muss an den dunklen Augen liegen. „Dir geht es doch gut, oder?“
„Na klar, alles okay.“ Meine Stimme versagt.
„Komm mal her!", sagt er und zieht mich in seine Arme. Er hält mich fest, kein Entkommen.
Ganz steif werde ich. Brauche kein Mitleid. Werde nicht heulen. Ich bin stark.
„Du bist eine tolle Frau, klug und stark“, murmelt er in mein Ohr.
Kann er Gedanken lesen? Es sind nur leere Worte, aber ich lasse zu, dass sie mich wärmen.
Dann gibt er mich frei und greift in seinen Hemdkragen. Verlegen, jungenhaft. Ich kenne diese Geste.
„Muss dann los, hab’ noch ’nen Termin. Ich hol’ das Päckchen heute Abend ab.“
Laub tanzt im fahlen Laternenlicht. Ein letztes Aufbäumen vor dem Vergehen, dem Verfall. Keine Ahnung, wie lange ich mich schon von dem Auf und Ab der Blätter hypnotisieren lasse. Nicht denken, nicht reden, nichts fühlen, nur Zuschauer sein.
Mit einem Mal steht Frank im Raum. Ich zucke zusammen, ich habe ihn nicht kommen hören.
„Ach, hier steckst du. Sie haben schon nach dir gefragt.“
Sie. Eine diskutierfreudige, angetrunkene Meute. Ihr ausgelassenes Lachen dringt durch die angelehnte Tür wie giftiger Qualm. Es geht wie so oft um Kinder. Erziehung, Aufzucht. Ein nie enden wollendes Thema, wieder und wieder neu beleuchtet, durchgekaut. Jeder fühlt sich berufen, seine Meinung einzubringen. Nur ich nicht.
Ich spreche zum Fenster. „Bin heute keine gute Gesellschaft. Kopfschmerzen.“
Frank steht dicht hinter mir, sein Atem heiß in meinem Haar. „Da kenne ich ein Mittel, hilft garantiert“, flüstert er. Schon küsst er meinen Nacken. Fremde Hände wandern über meine Oberarme zu meinen Hüften, zu meinem Bauch. Ich bin verwundert, mein Körper antwortet sofort. Ein heißes Prickeln. Dort wo die Narbe ist. Ich will mich fallen lassen, ich will mich von dem Strudel in die Tiefe reißen lassen. Nur noch Frau sein. Seine Zunge kitzelt. Ich kichere. Romanticus interruptus.
„Wir sollten nicht so viel trinken“, sage ich trocken und erhebe mein Glas. Es hinterlässt auf der Fensterbank einen feuchten Ring, der die Symmetrie bricht. Mit einem Wisch könnte ich ihn entfernen. Ich lasse es sein.
„Was hat Barbara zum Shirt gesagt?“ Ich bin interessiert, aber ich stelle die falschen Fragen.
„Fand sie prima, war ganz aus dem Häuschen. Hast du echt gut getroffen.“
„Na, dann ist ja alles bestens, gibt’s bestimmt ’ne heiße Danksagung.“ Ich habe einen bitteren Geschmack im Mund. Die Erdbeerbowle kann es nicht sein. „Macht übrigens achtzig Euro“, sage ich, „das T-Shirt.“
Frank grinst. „Logisch. Was sonst? Geht klar.“
„Komm, lass uns zurück zu den anderen gehen!“ Ich finde, die Rolle der Vernünftigen steht mir gut. Hat die Bowle mir doch nicht völlig das Hirn verklebt.
Wir verlassen unsere Insel der Heimlichkeit.
Ein langer Tag liegt hinter mir. Fühle mich ausgelaugt und kraftlos, das Lächeln im Laden strengt mich an. Die Küche gleicht einem Schlachtfeld, wie immer, wenn Joachim gekocht hat. Spaghetti mit Tomatensauce, mehr lässt seine Kochkunst nicht zu.
Wir essen schweigend, dann sein Einsatz: „Wie war dein Tag?“
„Wie soll er gewesen sein?“ Ich stochere in den matschigen Nudeln herum. Klug von ihm, mich nicht zu fragen, ob es mir schmeckt.
„Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“
„Hab ’nen schönen Umsatz heute, zufriedene Kunden. Was will ich mehr?“ Unser Abendprogramm heißt Wiederholung der Inszenierung.
"Carla, Schatz, sei doch nicht so verbiestert. Was is’n los mit dir?"
„Ach, du hast es schon vergessen.“ Ich werde laut: „ Man hat mir mein Kind aus dem Leib geschnitten.“
„Unser Kind, Carla, unser Kind. Aber du lebst.“
„Stimmt.“ Fasziniert schaue ich auf seinen Mund, der mit Tomatensauce verschmiert ist. Der traurige Clown weiß nicht, dass ich funktioniere, um zu essen, um zu atmen und um zu täuschen. Ihn und mich.
„Wir haben es doch gut miteinander, wir zwei.“ Er legt die Gabel weg und drückt meine Hand. Fürsorge, die mir die Luft zum Atmen nimmt.
„Ach ja? Leihst du mir deine rosarote Brille?“ Ich muss hier raus. Soll er doch sehen, wie er das Chaos in der Küche in den Griff bekommt. Mir reicht mein eigenes.
Ich spüre seinen Hundeblick im Nacken. Spüre ihn wie vor wenigen Tagen Franks Kuss, nur, dass er nicht so kitzelt.
Farbige Bilder mit Worthülsen geschmückt, formvollendete Sinnlosigkeit. Ich starre, ertrage, begreife nichts.
„Carla, wir haben Besuch.“ Joachim, das Geschirrtuch über die Schulter geworfen, führt die beiden zu mir ins Wohnzimmer. Ich fühle mich überfahren. Benommen erhebe ich mich vom Sofa, um Babs und Frank die Hand zu reichen, viel zu distanziert. Ein höflicher Eiszapfen. Babs trägt den neuen Fummel, steht ihr gut. Kein Wort kommt über meine Lippen.
Das Gemurmel aus dem Fernseher stört, ich schalte das Gerät aus. Schade, gerade heute hatte ich Lust auf Berieselung.
„Auch ein Bier?“, fragt Joachim in Franks Richtung. „Und die Damen?“
„Sekt“, schlage ich vor.
„Wasser, ein stilles bitte“, sagt Babs.
Joachim drückt mich sanft in den Sessel. „Lass mal Schatz, ich mach das schon!“
Ich sitze unnatürlich aufrecht, wie jemand, der ein Lineal verschluckt hat. Gewappnet für Neuigkeiten aller Art, aber ich ahne nichts Gutes.
Babs und Frank haben nebeneinander auf dem Sofa Platz genommen. Sie sind ein schönes Paar und dieses kultivierte Einvernehmen, einstudiert, glaubhaft, bewundernswert. Brüderchen und Schwesterchen. Sie lächeln schief.
Wir fischen nach Gesprächsstoff, der uns verbinden kann. Joachim rettet uns, als er die Getränke bringt. „Na, was treibt euch so spät durch Nacht und Wind?“
„Ach, nur’n bisschen quatschen. Und ’ne Neuigkeit.“ Frank schaut mir in die Augen. Ich sehe etwas darin, das ich nicht deuten kann. „Ja, also, …“, er räuspert sich. „Ja, also, Carla, wir denken, wir meinen, du solltest es von uns erfahren.“
Alle Blicke sind auf mich gerichtet. So muss sich eine Laborratte im Experiment fühlen.
Babs übernimmt und holt zum finalen Schlag aus. „Carla, wir dachten, es könnte schwierig für dich sein. Ich bin nämlich wieder schwanger.“ Sie wartet auf eine Regung von mir. „Wir wollen es behalten.“
„Das wollte ich auch“, meine Stimme ist leise.
„War nicht geplant“, sagt Frank, „ich hab’s auch heut’ erst erfahren.“ Dann lächelt er unsicher in die Runde, als wundere er sich über den ausbleibenden Beifall. Er tätschelt ihren Arm, er weicht meinem Blick aus, er greift sich in den Hemdkragen.
Mir wird heiß. Unerträglich. Feuer im Gesicht, notdürftig unter einer Schicht Make-up verborgen. Ein Flammenmeer rast über mich hinweg, dann erstarre ich wieder zu Eis. Ich ergreife mein Sektglas, bisher unangetastet. Perlen sprudeln zur Oberfläche, so fröhlich und unbeschwert, als würden sie sich amüsieren über mich. Ich höre mich sagen: „Auf das Leben und seine Überraschungen!“
Ich weiß nicht, wie ich diesen Abend überstehen soll. Ich sitze nur da, taub und betäubt und warte. Warte darauf, dass mir endlich jemand das Messer aus der Brust zieht.