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Merlin
Da steh ich nun. Mitten aus dem Schlaf gerissen. Auf einer Lichtung. Irgendwo im Wald. Und da ist noch jemand. Eine Art Merlin-Verschnitt; klein, schmächtig, mit langem, weißen Bart. Er trägt ein verwaschenes Nachthemd unter seinem wunderschönen, mit Sternapplikationen versehenen, blauen Zauberermantel. Meine Augen verweilen auf diesem wunderschönen Blau, während Merlin auf mich zukommt. „Der Schlafanzug ist auch sexy.“ Habe ich richtig gehört? Er spricht leise, aber sehr bestimmt. Außerdem klingt es in meinen Ohren leicht belustigt. Bevor ich antworten kann, muss ich an mir heruntersehen. Ich stehe tatsächlich in meinem Lieblingsschlafanzug auf einer Lichtung in einem Wald. Barfuß. Abwesend gleitet mein Blick wieder zu Merlin und gebe ein verwirrtes „Mmh!?“ von mir. Aber er scheint meine Antwort gar nicht wahrzunehmen, denn er nestelt an seiner Umhängetasche herum, versinkt bis zum Ellbogen in ihr. Er wühlt, verdreht die Augen, scheint nicht zu finden, was er sucht. Dann ein triumphierendes Aufblitzen seiner eismeerblauen Augen. Als er den Arm aus der Tasche zieht, hält er eine Axt in seiner kleinen Hand, der man ihr Alter ansieht. Er streckt die Hand aus und reckt mir die Axt entgegen. „Völlig durchgescheppert“, denke ich noch, während ich gleichzeitig die angebotene Axt ergreife. Sie wiegt viel schwerer als es ihre Größe vermuten lässt.
„Dann wollen wir mal“. Bei diesen Worten strahlt er mich an, dreht sich um und geht zügig auf etwas zu, das ich mit meinen Augen nicht scharf gestellt bekomme. Ich sehe ihm zu, wie er leichtfüßig den Raum durchschneidet. „Erstaunlich für einen so alten Mann“ ist der Gedanke, der in meinem Kopf gerade Gestalt annimmt, als ich Merlin genervt und sehr laut rufen höre „Jetzt steh da nicht so dumm rum. Beweg dich! Wir wollen doch beide wieder ins Bett, oder?“ Da ich immer noch kein Wort begreife, die Stimme in der Lautstärke nichts von ihrer Bestimmtheit einbüßt, bewegen sich meine Beine ganz von selbst. Und sogar schnell. Es dauert nicht lange, bis ich ihn einhole.
Er nickt kurz, sieht dabei zufrieden aus und deutet mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf einen Baumstumpf. Mein Blick folgt seinem Zeigefinger und langsam stellen die Augen scharf. Ein Baumstumpf, wie sie in einem Wald nichts Ungewöhnliches sind. Aber meine Aufmerksamkeit wird von etwas anderem gefesselt. Dort liegt eine Art … Band. Nicht wirklich ein Band, eher ein Breitbandkabel. Oder nein, vielleicht wäre … nein … ich habe keine Ahnung was es ist. Ohne meinen Blick abwenden zu können, frage ich: „Was ist das?“ ohne zu glauben, darauf gäbe es eine Antwort.
Merlin scheint mich nicht gehört zu haben. Er seufzt nur tief und spricht sehr ruhig und bestimmt. „Schlag es mit der Axt durch. Dann ist getan, was getan werden muss.“ Und nach einer Pause setzt er hinzu: „Und dann geht’s endlich wieder ins Bett.“.
„Was ist das?“. Mehr scheint mein Gehirn einfach nicht zu Stande zu bringen. „Warum, warum, warum – könnt ihr nicht einfach tun, was man euch sagt? Jedes Mal, wenn ich aus dem Schlaf gerissen werde und hierher muss, dauert es immer viel zu lang. Blödes warum Gefrage.“ Ich höre seine Worte wie durch Watte. Viel zu sehr fesselt mich der Anblick. Ich wage einen Schritt auf das Band zu – ich nenne es jetzt einfach Band – und es ist zu meinem Erstaunen lebendig. Ja, wirklich. Es pulsiert wie eine Ader im Körper, durch die Blut gepumpt wird. Und es verströmt etwas. Etwas Fühlbares. Schmerz und Trauer und Angst und Freude und Zuneigung - Freundschaft. Es überschwemmt mich, je näher ich ihm komme. Verwirrend und doch so schön und atemberaubend, dass ich mich nicht zurückziehen kann. „Was ist das?“ – mehr kann ich immer noch nicht sagen.
„Du wiederholst dich! Aber ich seh schon, das Ganze lässt sich hier ohnehin nicht abkürzen. Also versuche ich es für dich und in deiner Sprache zu erklären.“ Während der dann einsetzenden Pause schaffe ich es das erste Mal meinen Blick zu lösen und schaue wieder Merlin an. Als er meinen Blick eingefangen hat, fährt er fort. „Menschen sind über Gefühle miteinander verbunden. Über Abneigung und Zuneigung…guck nicht so, ja, auch über Abneigung. Wenn es ein bestimmtes Maß überschreitet, ist es machbar, eine Art Leitung oder wie du es nennst Band daraus zu schaffen.“ Während ich mich noch frage, ob ich das Wort Band ausgesprochen habe oder Merlin Gedanken lesen kann, spricht er schon weiter. „Solche Bänder können sehr lang sein und eine Verbindung aufrecht erhalten, die sonst schon abgebrochen wäre. Sie sind darüber hinaus ungemein flexibel und halten emotionale Umgebungskälte aus, wie nichts anderes auf dieser Erde. Aber sie haben einen großen Nachteil. Sie verwachsen mit dir. Und auch mit dem Menschen, mit dem sie dich verbinden.“ Merlin holt Luft, seufzt und als er weiter spricht, bin ich überzeugt dass er meine Gedanken lesen kann, denn er wiederholt die Frage aus meinem Kopf. „Woran der Nachteil dabei ist, willst du wissen? Sie funktionieren nur, wenn sie beidseitig genutzt werden. Sonst werden sie von einem großen Geschenk zu einer großen Last. Und noch mehr. Sie werden zu einer Art Krankheit, die dich langsam aber stetig zu Grunde richtet.“ „Die beide Seiten zu Grunde richtet?“ platzt es aus mir heraus. Merlin legt den Kopf leicht schräg, schaut mir fest in die Augen und ich sehe darin ein wenig Trauer. Er wendet den Blick zu Boden. „Nein, nur den, der nicht mehr versorgt wird. Den, der immer noch Gefühle hat und sie teilt. Dich. Es wird dich vernichten. Darum sind wir jetzt hier. Um dich zu retten.“ Er hat Tränen in den Augen. Ich auch.
Plötzlich strafft sich der ganze Körper des kleinen Zauberers. Er wirft die Arme in die Luft, klatscht in die Hände und ruft „Auf jetzt. Bring es zu Ende, damit Neues Raum hat.“
„Aber…“ fange ich an, ohne zu wissen, wie der Satz weitergeht. „Papperlapapp. Nicht hadern, machen“ wirft Merlin ein. „Aber“, setze ich noch einmal an, „wird das nicht schmerzen? Wenn es doch mit mir verwachsen ist, ist es ein Teil von mir. Ich käme ja auch nicht auf die Idee mit einen Arm abzuhacken.“ Merlin schaut bekümmert, die Energie, die er vor einer Sekunde noch verströmte, scheint verpufft. „Mmhja“ murmelt er, während er verlegen mit dem Fuß Kreise auf dem Boden malt. Dabei fällt mir auf, dass er wohl recht hektisch zu Hause aufgebrochen sein muss, weil seine Füße mit unterschiedlich farbigen Socken ausgestattet wurden, die in ziemlich ausgetretenen Birkenstocksandalen stecken. „Ich wollte es dir nicht sagen, weil es alles noch viel schwerer macht. Aber wenn du schon fragst. Es ist wie einen Arm abzuhacken.“ Dabei betont er das „ist“ dramatisch. Die Axt, die ich die ganze Zeit in meiner Hand halte, rutscht heraus und fällt zu Boden. „Das kann ich nicht. Ich kann mir doch nicht selbst bewusst Schmerz zufügen. Außerdem merk ich nichts von krank und schlimm und all den Dingen, von denen du sprichst.“ Trotzig will ich mich umdrehen und gehen. Ich fühle mich betrogen. Betrogen von einem Zauberer, der meine Gedanken kennt und dessen blauen Augen mir Vertrauen in seine Worte schenkten. Aber Merlin hält mich am Arm. Fest, sehr fest. Erstaunlich für eine solch kleine Hand. „Aber du weißt, dass es sein muss. Sonst wärst du nicht hierher gelangt. Niemand gelangt hierher, der es nicht erkannt hat. Niemand, der nicht den Wunsch verspürt, es zu tun.“
„Aber“ und wie beim ersten aber, kann ich den Satz nicht weiterführen. Diesmal spricht Merlin nicht. Und so beginne ich noch einmal. Langsam und bedächtig. „Aber, kann man eine defektes Band nicht reparieren? Kann es einfach nur eine Weile auf Eis legen? Vielleicht ist ja alles noch intakt, wird nur gerade nicht genutzt? Und warum soll ich es allein durchtrennen? Wo ist mein Gegenpart? Wird es dort nicht genauso Schmerzen bereiten?“
Merlins Blick schweift über die Lichtung bevor er sich in meinen Augen verfängt. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich bin nicht immer hier. Vielleicht war sie schon hier und hat die Axt genutzt. Vielleicht ist es nur eine Störung. Aber, du lebst im Jahr 2016 wenn ich recht informiert bin. Da wird nichts mehr repariert, da wird neu gemacht, ausgetauscht. Und du bist hier. Ich habe dir gesagt, wodurch du hierher gelangt bist. Es ist einfach zu tun, was zu tun ist. Bring es zu Ende. Jetzt.“ Als er sich nach der Axt bückt, um sie vom Boden aufzuheben stöhnt er auf, hält sich den Rücken und flucht leise über die Gebrechen des Alters vor sich hin. Dann hält er sie mir wieder hin, die Axt. Lächelt aufmunternd und sagt „Danach wird es dir besser gehen.“ Ich mag die Axt nicht nehmen, mag nicht glauben, dass ich einen Teil von mir hergeben muss. „Ich kann das nicht.“ Dabei schüttele ich den Kopf und jede Überzeugung, meine Worte mögen stimmen, schwindet dahin. Merlin lässt Hand und Axt sinken. Wie in Zeitlupe. Ich sehe Mitleid in seinen Augen. Mitleid mit mir. „Du läufst nur weg. Der Schmerz, den das hier auslösen wird, wird riesig sein. Aber nicht von Dauer. Der Schmerz, den du mit dir tragen wirst, wenn du unverrichteter Dinge gehst, ist nicht kleiner, er wird dich nur dauerhaft begleiten. Und du wirst nichts anderes gegen ihn unternehmen können, als hierher zurückzukehren.“
Mein Blick wandert von Merlin zum Band, dann in den Himmel. „Kann sein“, antworte ich ihm und meine Stimme wird von Tränen erstickt. „Aber noch nicht heute. Noch ist da Hoffnung.“ Als mein Blick den Himmel verlässt, findet er keinen Merlin mehr. Auch keine Axt. Das Band liegt da und ich denke „Es quält sich, da hat der alte Mann recht.“. Während ich nachdenklich bei diesen Worten das Band betrachte, schleicht er sich in mein Bewusstsein, der Schmerz. Jener Schmerz, der mich begleitet, den ich mitnehme. Dann drehe ich mich um, gehe einfach drauflos. In meinem Herz weiß ich, dass ich diesen Ort und Merlin wiedersehen werde. Und die Axt. Und beim nächsten Mal, werde ich sie nutzen. Ob mir Merlin dann sagt, wie er heißt? Oder war es tatsächlich der echte Merlin? Müdigkeit überkommt mich.
Ich muss wohl eingeschlafen sein und als ich aufwache, bin ich in meinem eigenen Bett. Das Bild einer Axt erscheint vor meinen noch verschlafenen Augen. Dann stehe ich auf und koche erst einmal Kaffee.
Nicht alles an dieser Geschichte ist wahr. Ich träume nicht. Sonst stimmt alles.