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Merkwürdighausen – Voll das Leben
Ich sitze auf dem Barhocker und halte mich noch gerade so am Tresen fest. Der Boden schwankt unter mir. Das Bier ist schon wieder leer. Gerade als ich meinen Arm heben will um ein weiteres kühles wohlschmeckendes Bier zu bestellen fängt der Barhocker an zu wackeln. Ich verliere die Kontrolle und der Stuhl kippt samt meiner Wenigkeit um.
Unsanft lande ich auf dem Boden. Ich tue so als wollte ich da eh liegen und mache keine Anstalten aufzustehen. „Eine interessante Perspektive“, denke ich, und beginne schon fast mich hier unten wohl zu fühlen. Wären da nur nicht die ausgelatschten Käsemauken meines Tischnachbars.
Mir wird schlecht. Ich würde es gerne dezenter ausdrücken, aber kurz und knapp umschrieben: Ich kotze in einem riesigen Schwall neben diese riesigen Stinkefüße.
„Ey sach ma, hast du ne Meise, Alte? Das sind verdammt noch mal neue Sneakers, und du bestückst diese edlen Schuhe mit stinkenden Bröckchen?“
Erschrocken schaue ich nach oben. Ein kleiner Spuckefaden klebt mir noch am Kinn.
„Äh, tut mir echt leid, du. Aber bist du dir sicher, dass die neu sind? Die stinken als hätten sie mindestens 2 Jahre in einer Käserei gereift, die besten Harzer herstellt!“
Ich finde mich besonders originell und muss über meinen mal wieder herausragenden Humor grinsen. Ein doppeltes grünes Plus erscheint über meinem Kopf. Der Harzer-Käsefuß-Typ scheint jedoch nicht denselben Humor zu haben. Sein Gesicht verzieht sich zu einer fiesen Grimasse.
„Mädel, pass auf wat du sachst, klar?“
Er springt von seinem Stuhl auf und stürmt in Richtung Klo. Langsam wird es selbst mir hier zu ekelig auf dem Boden. Ich ziehe mich am Tresen hoch und blicke an mir herab. Ach, das schöne Mittagessen – Hähnchenbrust mit Pfefferrahmsauce – schade drum. Darauf muss ich erst mal wieder einen trinken.
Der Taxifahrer versucht angestrengt mich nicht anzustarren, aber seine Neugier gewinnt. Kopfschüttelnd blickt er wieder auf die Strasse.
„So, junge Frau, da wären wir. Dat macht 12, 50€. Legen Sie dat Geld einfach da hin.“
Irgendwie schaffe ich es noch in mein Bett. Die Einschlafphase überspringe ich und gehe direkt in den Tiefschlaf über.
„Morgeeen, Anke! Kommst du dann auch gleich frühstücken?“ Meine Zimmernachbarin Berta, Mann, wie ich sie in diesem Moment hasse. Diese ekelige gute Laune – und ich hab eine Schädel der mindestens den Umfang eines Heißluftballons hat.
„Schrei doch nicht so, Berta! Und, nein, ich will nicht frühstücken, ich will schlafen!“
„Ist ja gut, wollte nur mal nett sein, schlaf du mal deinen Rausch aus. Ist ja ganz schön oft in letzter Zeit, dass du einen Saufen gehst“ Den letzten Satz überhöre ich geflissentlich.
„Aufsteheeeeeeeeeeeheeen! Frau Schneider! Gleich ist Morgengymnastik!!!!“, brüllt dieses seelenlose Geschöpf, diese Ausgeburt Satans in meine empfindlichen Ohren.
„So geht dat aber nun nich, Frau Schneider! Sie müssen sich schon ein bisschen integrieren und mitmachen! Die Schonphase ist langsam vorbei!“ Das Wesen mit dieser grausigen Stimme und der Pferdefresse wird hier auch Schwester Agnes genannt. Ich persönlich nenne sie aber Schwester Rabiata. Wie wohlklingend Bertas Stimme dagegen in meinen Ohren. Doch das Leben ist kein Spielplatz – oder so ähnlich.
„Jaja, ich komme ja schon, Schwester Rabi…äh… Schwester Agnes.“
„Nun sagen Sie mal, Frollein: Haben Sie gestern einen über den Durst getrunken? Hier riecht es ja wie inner Kneipe!“
„Äh, nö. Dat is Klosterfrau Melissengeist, dat hat mir hier eine Mitpatientin empfohlen.“
„Ne, ne, ne, ich weiß wohl, dass Sie gestern aus waren und ich kann 2 und 2 zusammenzählen. Also dat wird Folgen haben, Frollein.“
Drohend lässt sie ihren dicken Zeigefinger vor ihrer Nase schweben. Dadurch lenkt sie meine Aufmerksamkeit auf die Warze unterhalb ihres rechten Nasenlochs. Wieder steigt Übelkeit in mir auf.
Die Morgenfolter hat schon begonnen. Durch die Glastür sehe ich circa 20 unterschiedlich breite Ärsche, die sich mir entgegenstrecken. Den einen mit der ausgeprägten Birnenform und den tiefen Dellen unter dem rosa glänzenden Stoff identifiziere ich als meine Zimmernachbarin Berta. Ich stelle mich neben sie.
„So, und nun stellen Sie sich vor, Sie würden einen Spiegel reinigen.“ Ich sehe wie alle ihre Arme in die Höhe reißen und wie wild imaginäre Spiegel putzen. Mann, ist das blöd. Wieso wird die Morgengymnastik nicht direkt in den Waschräumen durchgeführt? Ach, quatsch, für so was gibt es doch Hausmädchen! Also wozu diese Übung? Hier stellt sich echt die Frage: Wer ist eigentlich verrückt: Wir oder das Psychiatrie-Personal? Ich meine, imaginäre Spiegel putzen? Wenn das nicht mal verrückt ist… Wie dem auch sei, ich mache mit, will ja nicht noch mehr negativ auffallen.
Doch als ich gerade dabei bin einen imaginären Waschlappen auszuwringen wird mir plötzlich wieder schummrig durch den Restalkohol in meinem zarten Körper und mir wird verdammt übel.
Berta nimmt das persönlich. Ist ja auch verständlich – ich wäre auch sauer wenn mir jemand in den Schoß kotzt. Aber die Partner-Bauchübung war einfach zu viel für mich. Heulend rennt, nein, rollt Berta aus der Halle. Ihr Stampfen lässt den Raum noch Sekunden später erbeben.
„Frollein Schneider, ist Ihnen übel?“ Was für eine blöde Frage! Der Rest meines Mageninhalts sollte doch wohl als Antwort genügen.
Aber ich antworte ganz artig:“ Ja, Frau Bollermann.“ Frau Bollermann, das ist die Ergotherapeutin hier in der Klapse – die Waschlappentante.
„Jo, dann würde ich mal sagen gehen Sie doch mal zu Schwester Agnes.“
„Jo, mach ich, Frau Bollermann, ist vielleicht besser so.“
Natürlich gehe ich nicht zur Pferdefresse. Erst mal wird geraucht – und zwar der gute alte Rancho-Tabak – selbst gedreht, versteht sich. Ich bleibe mal wieder nicht lange allein. Mein Therapeut gesellt sich zu mir, gibt mir Feuer, und entzündet dann seine eigene Kippe, natürlich mit Filter.
„Na, Anke? Schlechten Tag heute?“
„Könnte nicht besser sein, Doc. Aber ist das denn echt nötig, das Ganze? Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir imaginäres Spiegelputzen dabei hilft, von der ganzen Sache loszukommen. Und dieses prämenstruelle, äh...nein, diese progressive Muskelentspannung, und überhaupt alles. Ich hab doch kapiert, dass ich kein SIM bin.“
„Jo, Frollein Anke, im Moment erscheint Ihnen das alles völlig sinnlos. Aber es geht doch darum, dass Sie wieder lernen, ihre eigene Identität wieder richtig wahrzunehmen. Übrigens, Schwester Anke hat mich vorhin angesprochen, dass Sie stark nach Alkohol gerochen haben, beziehungsweise noch riechen. Sie wissen, dass wir Ihnen gerne Ausgang gewähren und dass Sie Ihre Freiheit auch nutzen sollen, aber passen Sie auf, dass Sie nicht von der einen in die nächste Sucht tappen.“
„Ja, stimmt ja, Doc. Sie haben mal wieder absolut Recht. Bin voll Ihrer Meinung, und was den Alkohol angeht – also das war gar nicht ich, das war der Hans Hübsch. Der hat ne Party gemacht und ne Bar gekauft und nen Barkeeper gemietet. Und klar, dass ich da auch mal probieren musste. Und dann hab ich noch Abendessen servieren müssen, da bin ich auf dem Küchenboden eingeschlafen, mein Energiebalken war schon auf Rot, wissen Sie?“
„Aha, klar, das verstehe ich natürlich.“
„Na dann ist ja gut, Doc, Sie verstehen einen wirklich, Sie haben bestimmt Laufbahn Karriere eingeschlagen`“.
„Im gewissen Sinne schon, aber das spielt jetzt auch keine Rolle“ Schulte zieht an seiner Zigarette und sieht nachdenklich in den Garten, sofern man es so nennen kann. Also das Unkraut könnte wirklich mal gejätet und die Hecken geschnitten werden. Haben die hier denn keinen Gärtner?
„Ich muss dann mal wieder“, sagt Schulte, und hebt kurz die Hand zum Abschied. Kaum ist er aus meinem Blickfeld verschwunden steht auch schon Berta vor mir. Vorwurfsvoll und mit vorgestülpten Lippen schaut sie mich an.
„Sorry, Berta, wegen vorhin. Hab einfach noch nicht so viele Punkte im Kochen. Bist Du noch böse?“
„Neee, ist schon okay, Anke, mach Dir keine Sorgen. Ach ja, übrigens, morgen bin ich nicht mehr hier, darf endlich nach Hause.“
„Mensch, super!“ Auch wenn ich mich insgeheim frage, wie ihr Therapeut auf diese wahnwitzige Idee gekommen ist freue ich mich für sie.
„Ja, Anke, dann muss ich mich wohl langsam nach ner neuen Mitbewohnerin umsehen, was?“ Obwohl, vielleicht adoptiere ich auch ein Kind oder werde von Aliens entführt und geschwängert, dann könnte ich natürlich schon etwas mehr Platz gebrauchen.
„Ja, das musst Du wohl“, reißt Berta mich aus meinen Gedanken. „Auf jeden Fall bin ich einerseits froh, hier raus zu kommen, aber andererseits ist es schon komisch. Ich mein, ich muss mein ganzes Leben umkrempeln, beziehungsweise ich hab ja gar keins mehr – hab ja gar keine Freunde mehr. Weil, Schönsichtingen…..“ Anke schluchzt. „…Da komm ich ja nie wieder hin.“ Plötzlich liegt Berta in meinen Armen, oder besser gesagt, ich liege auf dem Boden und Berta auf mir. Sie hat eindeutig ihr Gewicht unterschätzt. Ich versuche Luft zu holen
„Berta“, röchle ich.
„Jaaa“, schluchzt Berta.
„Geh runter, ich krieg keine Luft mehr.“ Ich habe plötzlich das Gefühl, Berta umgarnt mich. Sie umarmt mich und versucht doch tatsächlich, zumindest glaube ich das, ein Techtelmechtel mit mir anzufangen. Ich bin schockiert! Ich rolle sie von mir runter und bin echt sauer. Ich kann die beiden Minuspunkte über meinem Kopf förmlich sehen.
Berta verlässt mein Grundstück. Mist, seit ich hier bin sind meine sozialen Beziehungen sehr unbefriedigend. Für meine berufliche Laufbahn ist das Gift. Ich muss unbedingt mit meinem Therapeuten darüber sprechen. Aber zuerst muss ich noch meinen Harndrang stillen. Ich renne zur Toilette. Hach, wie das gut tut! Der Balken wandert von Rot auf Grün. Mein Harndrang ist wieder in Ordnung.
So, jetzt aber auf zum Essen, es wird Zeit. Schwester Agnes ruft schon und ich eile. Denn ich habe ja mittlerweile meinen gesamten Mageninhalt auf sämtlichen Böden, Schuhen und auf Berta verteilt.
Nach dem Essen ist Kognitives Training mit Schwester Edeltraut angesagt. Es geht darum, so „schwierige“ Fragen, wie „Welche Farben hat ein Zebra? Zu beantworten. Ist ja klar, das Gedächtnis muss geschult sein, sonst klappt es auch nicht mit der Karriere.
„Yeah! Dieser Logikpunkt hat mir noch gefehlt! Zufrieden und gelöst kann ich jetzt endlich mal den Abend genießen und ein wenig malen oder fernsehen. Auf dem Weg zu meinem Zimmer begegne ich Doktor Schulte.
„Na, Anke? Alles im grünen Bereich?“
„Sicher, Doc. Morgen werde ich befördert, soviel ist sicher. Und dann seht ihr mich nicht so bald wieder!“ rufe ich ihm hinterher. Er zuckt mit den Schultern und kehrt mir den Rücken zu.
Ich lege mich im Schlafanzug ins Bett und genieße den Komfort. Diese Nacht ist anders. Meine Träume sind sehr lebhaft. Da, plötzlich bewegt sich ein kleiner weißer Mauszeiger auf mich zu. Es klickt einmal, noch einmal. Etwas in mir bewegt, verändert sich.
Och menno, ich bin doch voll müde, und jetzt soll ich auch noch tanzen, och glaub es hakt. Dennoch, ich befolge den Befehl und tanze ohne Musik – tanze und tanze- bin wie ferngesteuert. Ach klar, ich bin ja ferngesteuert!!!
Tanzen, tanzen, tanzen, tanzen. Ich kippe gleich um vor Müdigkeit und Hunger.
Ich wache auf. Wo bin ich? Ich liege in einem weißen Zimmer. Ein Mann mit weißem Kittel beugt sich über mich. Wo bin ich? Kann mich nicht mehr erinnern.
Ich weiß, ich bin die Anke. Aber sonst…nichts.
Merkwürdig…sehr merkwürdig…..