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Menschwerdung
Gewaltmenschen - Gewaltleben
Seine Geburt, die in Folge eines Autounfalls acht Wochen zu früh ausfiel, führte zum Tod seiner Mutter. Sein Vater, der den Unfall verschuldete und dem aufgrund seines alkoholisierten Zustands die volle Schuld zugewiesen wurde, konnte nicht auf Bewährung hoffen, da er bereits vorbestraft gewesen war. Als Jahre später seine Adoptiveltern ihm davon berichteten, war sein bis dato blindes Weltvertrauen dauerhaft gebrochen.
Zum Gewaltmenschen war er allerdings schon vorher geworden. Vielleicht begründet sich dies in seinem Wuchs: alle Glieder bis in die Finger für heutige Jugendliche zu kurz geraten, sein Kopf zu klein. Lediglich sein Mannesfleisch war mustergültig ausgeprägt. So ließ er schon in frühester Pubertät keine Gelegenheit aus, um unter Beweis zu stellen, dass seine Talente nahezu unbegrenzt seien, lägen sie auch im Verborgenen. So zog er sein Glied hervor, wann immer ihm danach war, vorausgesetzt, er fühlte sich sicher oder anonym. Zwischen den Geschlechtern machte er dabei keinen Unterschied, und so war der Seinige nicht selten der Erste für manches Mädchen und manchen Jungen. Alle diese Dinge geschahen nicht aus Liebe oder aus einer größeren Sympathie heraus, sondern einfach deshalb, da er diesbezüglich für fast jede verfügbar war, die von einem spontanen Lustgefühl heimgesucht wurde. Man begab sich einfach ins Jugendhaus, wo man ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich antreffen konnte und brauchte nur abzuwarten, bis er ihn hervorzog und mit ihm den Umhersitzenden vor der Nase herumwedelte. Nicht wenige langten mit ihrem Munde zu.
Warum diese Sache nie Stadtgespräch wurde und Ordnungshüter tätig werden ließ? Nun, es waren die Neunziger. Wer als Erwachsener davon hörte, machte nicht viel Aufhebens davon und tat es als pubertäres Geplänkel ab. Die Jugendlichen selbst hingegen hüteten sich, darüber zu quatschen. Zu verlockend war das tägliche Schauspiel, als dass man es gefährden wollte und zu verrucht, um beispielsweise vor den Eltern preiszugeben, dass es einen beinahe täglich dort hinzieht. Am Anfang war ja auch alles noch unproblematisch und fern jeder Kriminalität.
All dies vollzog sich über Monate bis sich eine Clique bildete, in deren Mitte wie selbstverständlich er stand. Den Widerspruch, der sich auftat zwischen seinen öffentlich vorgelebten sexuellen Anfängen und Unzulänglichkeiten, die nicht selten zu allgemeinem Gelächter führten und seinen sadistischen Zügen gekoppelt mit einem Führungsanspruch, den er mehr und mehr durchzudrücken versuchte, schienen die wenigsten zu bemerken. Vielleicht nicht mal er. Dennoch empfand man alles als unerhört anziehend. Natürlich waren andere ihm anfangs an Erfahrungen voraus, besonders die Mädchen, die bis dahin vornehmlich mit älteren Jungs die Zeit verbrachten. Diesen Mangel glich er aus, indem er früh, als er noch kaum die Geheimnisse der gewöhnlichen Liebe verstand, experimentell wurde. Die ersten Male wurden die Opfer noch per Los ermittelt, nachdem alle ihr Einverständnis gaben, daran teilzunehmen. Es begann mit harmlosen Fesselspielen und immer war er es, der der Ausführende sein durfte, anderen billigte er nur die Zuschauer- oder Opfer-, später auch die Handlangerrolle zu. Nichts geschah ohne seine Anweisungen. So waren die Regeln. Und alle hielten sich daran. Nicht aus Respekt vor seiner Person, namentlich die Jungs fühlten sich ihm insgeheim und im Besonderen körperlich überlegen. Doch nie wagte es einer, ihn seine Überlegenheit spüren zu lassen. Man sprach sie sich nur untereinander zu. War es aber an ihnen Opfer zu spielen, so taten sie es, da sie wussten, die Sympathie der anderen lag eher bei ihm als bei sich selbst, vor allem wenn man Opfer war und zum Vergnügen der anderen herhalten musste. Jeder würde mal Opfer sein, doch waren die Starken nie so ganz Opfer wie es sich die Schwachen gefallen lassen mussten. Alle hielten es für gerechtfertigt. Keiner hinterfragte. Es entstanden unausgesprochene Ranglisten, über deren Platzverteilung allein er entschied. Wem es nicht passe, sagte er einmal, dürfe gehen. Es ging aber keiner. Nicht mal die Schwachen, die er in solchen Momenten besser als gewöhnlich behandelte. Denn mit ihnen – und darüber war er sich sehr wohl im Klaren - stand oder fiel das ganze System.
Solange ein jeder nach unten treten kann, tritt keiner nach oben. Deshalb brauchte man hin und wieder Opfer, die nicht zur Gruppe gehörten und an denen sich die Schwachen ausleben durften. Über harmlose Streiche und Ideen war es eines Tages der Schwächste, der die Idee hatte, die Schulschönste zu entführen und zwar so, dass sie die Gruppe nicht erkenne, um sie dann für einige Tage gefangen zu halten und sich an ihr zu vergehen. So was müsse geplant sein, warf er nur ein und ließ sie machen, im Glauben, dass den Worten keine Taten folgen würden. Sobald sie sich sicher seien, die Gruppe mit ihrer Aktion nicht zu gefährden, hätten sie in dieser Sache freie Hand. Nie im Leben glaubte er, dass diese Sache Realität werden könnte. Er sprach ihnen nur zu, um sie noch mehr an die Gruppe zu binden, die sich längst mit anderen Dingen beschäftigte. Er selbst nahm an den Orgien kaum noch teil. Stattdessen machte sich die Führungscrew zunehmend Gedanken, um ans große Geld zu kommen, wie sie es nannten und unternahmen erste zaghafte Schritte in diese Richtung. Außerdem hatte er sich eine feste Freundin zugelegt, eine Medizinstudentin von 22 Jahren, die er im Schwimmbad kennen gelernt hatte, bei der er nun öfter übernachtete und mit der er viel über Psychologisches und Philosophisches sprach. Denn in diese Zeit fiel es, dass seine Eltern ihm offenbarten, wer seine leiblichen Eltern waren. Sein Vater hatte eine gerichtliche Verfügung bewirkt, die ihm erlaube seinen Sohn zu sehen.
Die Nachricht zog ihm die Füße weg. Sein Vater ein Krimineller. Es machte ihn fertig, dass er nicht aus freiem Willen geworden ist, was er war, sondern dass es seine Gene bestimmten. Zumindest dachte er so. Er war nicht mehr stolz auf seine Gang, verachtete sie nun, wie er alles verachtete, was mit seinem bisherigen Leben zusammenhing. Lieber wäre er im Heim aufgewachsen als so, wuchtete er seinen Adoptiveltern entgegen. All die Geborgenheit und Sicherheit, die er zeitlebens fühlte, schien ihm nun nicht mehr echt zu sein. Er fühlte sich verraten. Mit seinen sechzehn Jahren zog er aus und lebte fortan gänzlich bei seiner Freundin. Die einzige, von der er sich nicht verraten fühlte, weil sie nichts mit dem Leben zu tun hatte, das er bis dahin geführt hatte und mit dem auch er nun nichts mehr zu tun haben wollte.
Tags drauf ging die Mitteilung durch die Medien, dass die 15-jährige Jana S. spurlos verschwunden sei und die Polizei mit dem Schlimmsten rechne, da keine Lösegeldforderung aufgetaucht sei. Er hatte gar keinen Verdacht, worum es sich da handelte, bis seine Freundin aufschrie, da sie auf den Bildern ihre Cousine erkannte. Sie griff zum Hörer, rief ihre Eltern an, warum man ihr denn nicht Bescheid gesagt habe. Die Eltern der Entführten haben die Sache erst geheim halten wollen, da sie aufgrund der Stellung des Vaters mit einer Erpressung rechneten und in solchen Fällen sei es besser, meinte die Polizei, die Sache nicht öffentlich zu machen. Da der Sachverhalt nun offenbar ein anderer sei, habe man umentschieden.
Großer Gott, dachte er und begann hemmungslos zu weinen. So schlimm sei das nun auch wieder nicht, besänftigte ihn seine Freundin, Jana sei ein widerliches Aas und irgendwie sei es zwar schrecklich, doch fasziniere sie daran der Gedanke, dass es doch immer die trifft, die es verdient hätten. Er sah auf, wusste nicht, was er denken sollte, doch fühlte er sich widerlich. Denn damit sprach die Freundin aus, was er selbst seit Wochen dachte: „Es gibt keinen Zufall, alles ist vorherbestimmt“. Er wusste nicht, was ihn mehr anwiderte in dem Moment, seine Freundin, oder die Erkenntnis, die ihn seit Wochen plagte. Wie aus Instinkt berichtete er ihr, dass er vermutlich wisse, wer Jana entführt habe und herausfinden könne, wo sie jetzt sei.
Ein Anruf, eine Auskunft, eine Anfahrt. Die beiden fanden Jana angekettet und mit verbundenen Augen vor, wie sie in Erbrochenem und Kot lag, was unmöglich alles ihr eigener sein konnte. Er hatte den Wunsch sie zu befreien, sie mit sich zu nehmen. Allerdings kam es zuvor bereits zu Aufruhr, da nicht vereinbart war, eine fremde Person mit in das Versteck zu bringen und dadurch nicht nur das Projekt selber, sondern die Sicherheit aller Beteiligten zu gefährden. Man machte Anstalten, an seine Freundin, die in Todesangst geriet, Hand an zu legen, worauf er ganz ohne Gedanken brüllte, „Was soll das hier werden? Ein Aufstand oder was? Nehmt Haltung an und macht gefälligst, was ich euch sage!“. „Tschuldigung“, entgegneten sie, „wir hatten nur Sorge um die Situation“. Und wieder aus Instinkt richtete er an seine Freundin das Wort, ob sie einen Vorschlag habe, wie sie in dieser Sache das Vertrauen der Gruppenmitglieder gewinnen könne. Sie antwortete, dass sie bereits in der Gerichtsmedizin ein Praktikum absolviert habe und auf Wunsch das Verschwinden der Leiche übernehmen werde. „Gerne auch, wenn sie vorher noch lebt. Auf jeden Fall sollte man aber noch versuchen, Geld aus der Sache zu ziehen.“ Die Jungs waren begeistert und trauten ihr, weil sie in ihren Augen sahen, was auch er bemerkte: dass sie ihre Worte aus Lust, nicht aus Angst oder Selbstschutz wählte.
Vor Wochen hätte er vielleicht noch genauso gedacht oder zu einem Menschen werden können, der in dieser Situation so gedacht hätte. Damit hätte er auch noch leben können. Warum er nun aber unter all den vielen Mädchen, die er im Schwimmbad hätte ansprechen können, ausgerechnet sie ansprach, verwand er nicht. Er hatte nur noch ein Ziel: ein für alle Mal alle Vorherbestimmtheit zu durchbrechen. Zwar noch nicht als er Jana unter Waffengewalt aus dem Versteck in die Freiheit führte, aber noch während er mit ihr auf dem Polizeirevier eintraf, ihr dort die Augenbinde abnahm und ein Geständnis ablegte, das ihn allein beschuldigte und lange bevor er den Pistolenlauf in seinen Mund nahm, ahnte er, dass auch das vorherbestimmt war.