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Menschlich
Eine Vorbemerkung sei mir gestattet: Nachfolgende Geschichte wurde bei einem Bewerb geschrieben wo es darum ging, aus den Worten "Staubsauger, Zeitungsjunge, Verschwiegenheit, Mumie, Poststempel" innerhalb von anderthalb Stunden eine Geschichte zu verfassen. Das war mein Ergebnis und ich hoffe, es unterhält trotz alledem.
Zum bereits dritten Mal las Holland den Brief seines Freundes und war sich unschlüssiger denn je, was er von den phantastischen Ausführungen halten sollte, die das in krakeliger Schrift verfasste Büttenpapier enthielt. Richards Panik war schier greifbar in den nur mühsam lesbaren Worten. Der Poststempel trug das Datum 12. Juli 1966. Holland schluckte und las:
„Treuer Freund!
Verzeih, dass ich dir erneut einen Brief schicke, nachdem ich dich in den vergangenen Wochen mit jenen anderen gewisslich belästigte und bestenfalls belustigte. Doch glaube mir, bester Brian, was ich dir schrieb und was ich dir in diesem Brief enthüllen werde, entspricht der Wahrheit! Ich leide nicht am Fieberwahn, noch hege ich Interesse daran, dir einen dummen Streich zu spielen. Bitte lies diese Zeilen und ziehe für dich selber einen Schluss, egal, mit welcher Konsequenz. Doch hiezu später mehr.
Wie ich dir bereits vor etwa einem Monat darlegte, machte ich auf dem Grundstück meines Vaters, das er mir, Gott habe ihn selig und erbarme sich seiner Seele, bei seinem Tode vererbte, einen merkwürdigen Fund, über dessen Tragweite ich mir natürlich nicht im Klaren gewesen war.
Es handelte sich um jene höchst seltsame Mumie, die ich mit meiner Polaroid ablichtete und behelfs derer ich dir einige Abzüge zukommen ließ. Ich hoffe, du hast sie gut aufbewahrt, denn möglicherweise sind sie in diesem Augenblick der einzige Beweis für meine Entdeckung.
Leichtfertig, wie es meiner Art entspricht, über die du oft zu scherzen pflegtest, entnahm ich die Kreatur der Höhle, in der ich sie gefunden hatte, hob sie auf die Schubkarre und bewahrte sie im leeren Kellerraum auf, wo mein Vater dereinst jene Kohle gelagert hatte, mit der die Heizung befeuert worden war, ehe ein Öltank die Lagerung von Kohle überflüssig machte. Bitte nimm nun die Bilder zur Hand, so du sie noch besitzt, und beschaue die grausige Abscheulichkeit dieses mumifizierten Wesens! Wie eine rasche Überprüfung meinerseits ergab, maß sie von der Schnauze bis zu jenem seltsamen Stummel, der möglicherweise ein verkümmerter Schwanz war, einen Meter Fünfzig. Vermutlich handelte es sich um ein vegetarisch lebendes Wesen, denn die Zähne sind typisch für die Mahlzähne eines Herbivoren. Die Nasenhöhle erinnerte mich an jene eines Schweins. Du weißt, dass mein Großvater Schweine züchtete und ich deshalb über die Anatomie eines Schweins besser Bescheid weiß als ein Stadtmensch. Die Augen dieses Wesens müssen riesig gewesen sein. In die Augenhöhle passte eine Dollarmünze mühelos hinein. Die Schädelform war, wie du erkennen kannst, elliptisch. Ich versuche, dir möglichst anschaulich zu vermitteln, wie bizarr diese Kreatur wirkte, vergleicht man sie mit heute bekannten Tieren. Der fast unversehrte Leib des Wesens schien fragil, fast, als wäre es kaum in der Lage, den monströsen Schädel zu tragen, zumal es mit Sicherheit auf den Hinterbeinen ging oder lief. Schließlich waren die Vorderbeine mit menschlichen Armen zu vergleichen, mit dem Unterschiede, dass diese viel kürzer waren und in acht statt fünf Fingern endeten, welche Furcht einflößende Krallen besaßen. Ich vermute, dass sich die Kreatur mit diesen Waffen gegen Feinde verteidigte. Wie du mit Sicherheit weißt, lebten noch zu Zeiten der ersten Siedler Bären hier, die auf ihrer Wanderschaft selbst Menschen zur Gefahr werden konnten.
Bestimmt fragst du dich nunmehr, weshalb ich von der Kreatur in der Vergangenheitsform spreche. So ungeheuerlich meine Schilderungen in den Briefen dir erschienen sein müssen: Sie sind wahr, und sie stehen in Zusammenhang mit dem Fund.
Wie ich dir schrieb, war ich anfangs weniger entsetzt, denn vielmehr begeistert über dieses mumifizierte Wesen, das erst vor wenigen Jahrzehnten gestorben sein konnte und in der kalten Höhle, auf die ich nur durch Zufall stieß, all die Zeit ihrer Entdeckung geharrt hatte.
Gleich am Morgen nach dem Fund fuhr ich mit meinem Wagen in die Stadt, um einen Sachverständigen vom Naturhistorischen Museum in Providence anzurufen (die Telefongesellschaft hatte es ja nie für nötig erachtet, ihre Leitungen außerhalb der Stadt zu legen) und von dem Fund zu unterrichten in der Hoffnung, er würde ihn persönlich in Augenschein nehmen. Ich muss gestehen, dass ich in gottloser Eitelkeit handelte. Während der Fahrt sah ich mein Gesicht auf dem Titelblatt des Science Magazines, welche ich abonniert habe. Ich fuhr zum Postamt, wo man mich seltsam beäugte. Damals verwunderte mich das Verhalten der Leute nicht, da ich selbst nach mehr als einem Jahr in ihrer Nachbarschaft als „der Neue“ galt. In der Provinz scheint man nur dann ein wertvolles Mitglied der Gemeinschaft sein zu können, wenn man von Geburt an sein ganzes Leben dort verbracht hatte und auf einen Stammbaum bis zurück zu Sir Walter Raleigh verweisen konnte.
Mein Gespräch war von Erfolg gekrönt. Nachdem ich auf meine Veröffentlichungen im Science sowie meinen untadeligen Ruf hingewiesen hatte, erklärte sich ein gewisser Mister Walter Jenkins bereit, mich am Mittwoch – also zwei Tage später – auf meinem Landgut aufzusuchen und sich den Fund in Ruhe anzusehen. Er war ziemlich angetan von meinen Beschreibungen, wie ich hinzufügen möchte. Zufrieden fuhr ich nach Hause, aß eine Kleinigkeit und widmete mich wieder meiner Abhandlung über den Ursprung des Donnervogel-Mythos der Ureinwohner.
In jener Nacht fiel es mir schwer, Schlaf zu finden, denn ein Alptraum reihte sich wie Perlen einer Kette an den nächsten. Die Nachtmahre reichten von Szenen, in welchen ich verletzt in die Höhle kroch und dort starb bis zu beunruhigenden Blicken in den Spiegel, die allesamt darin endeten, dass ich schreiend wie ein kleines Kind hochfuhr und am ganzen Körper von einem Schweißfilm überzogen war. Gegen fünf Uhr schließlich gab ich es auf, mich dem Schlafe hingeben zu wollen, und stand auf um zu frühstücken. Der Schinken, den ich erst am Vortage in der Stadt gekauft hatte, roch verdorben, weshalb ich ausschließlich Toastbrote aß, die ich dick mit Käse und Tomaten belegte. Später ging ich nach draußen und besah mir die Morgendämmerung, die im Juni ein atemberaubendes Schauspiel bildet. In solchen Momenten fühle ich mich stets eins mit der Natur und werde von einer unnatürlichen Liebe zu allen Kreaturen dieses Planeten überwältigt.
Es muss wohl gegen sechs Uhr gewesen sein, als der Zeitungsjunge mit seinem Fahrrad über der Hügelkuppe auftauchte. Der kleine Bobby trägt die Zeitung unter der Woche aus, ehe er in die Schule geht. Er ist ein guter, freundlicher Junge, anders als diese Rabauken, die laute Musik hören und widerwärtige Kleidung und Frisuren tragen. Wie bei jeder dieser Gelegenheiten grüßte ich Bobby freundlich und lächelte. Natürlich erwartete ich, dass er diese Begrüßung erwidern würde. Anstatt dessen starrte er mich mit seinen großen, dunklen Augen an und sprach kein Wort, bis ich ihn scherzhaft fragte, ob mir denn eine zweite Nase gewachsen sei. Er schüttelte seinen kleinen Kopf, entnahm der Tasche meine Zeitung und überreichte sie mir mit zitternden Händen, gar so, als wäre ich sein Vater und würde sein schlechtes Jahreszeugnis erhalten. Kaum hielt ich die Zeitung in Händen, trat Bobby in die Pedale und raste wie von Furien gehetzt von dannen. Ich sah ihm verwundert nach, zuckte mit den Achseln und ging ins Haus, um noch eine Tasse Kaffee zu trinken.
In dieser Nacht schlief ich noch unerquicklicher als in jener zuvor und ich hatte Angst, ich wäre möglicherweise krank. Und das an jenem Tage, an welchem mich Mister Jenkins besuchen würde! Ich schluckte ein paar Aspirin, wiewohl ich für gewöhnlich Pharmazeutika ablehne, wie du bestimmt weißt, und trank Kamillentee, den ich mit Honig versüßte.
Ich erwartete Mr. Jenkins für acht Uhr und bereitete ein Mittagessen zu, das aus Nudeln in Pilzrahmsauce bestand. Tatsächlich vernahm ich fast Punkt acht Uhr ein energisches Klopfen an der Tür und öffnete .
Oh Brian! Wie könnte ich dir jemals beschreiben, welches Grauen ich im Gesicht des Mannes sah? Mr. Jenkins war groß gewachsen, mindestens einen Kopf größer als ich, und ich bin alles andere denn klein. Doch er sah mich mit offenem Munde an und taumelte ein paar Schritte zurück, ganz so, als wäre er dem Tod persönlich begegnet. Ich war natürlich darob verwundert und taxierte ihn verständnislos. Auf meine Frage, weshalb er ein derart seltsames Verhalten an den Tag lege, vermochte er einige Sekunden lang nicht zu antworten. Erst allmählich rang er sich zu einer solchen durch, indem er sagte: „Mein Gott! Was ist mit Ihnen geschehen? Grundgütiger, Ihr Gesicht, Ihr Gesicht!“
Du wirst verstehen, welche Panik mich nun ergriff. Sofort tastete ich mein Gesicht ab, konnte aber nichts ungewöhnliches feststellen. Hatte ich Flecken im Gesicht, die auf eine Krankheit hin deuteten? Rasch lief ich ins Badezimmer und besah mich im Spiegel. Erst fiel mir nicht seltsames ein und ich atmete durch. Der Spiegel beschlug sich mit meinem Odem, und zwar der gesamte Spiegel, Brian! Mit einem Handtuch wischte ich den feinen Nebel weg … Und erst jetzt erfasste mich die Woge der Erkenntnis. Ich war nicht länger Mensch – ich war… Dieses Ding! Dieses unbeschreiblich hässliche Ding! Und noch während diese Gedanken mein armes Gehirn marterten, konnte ich im Spiegel erkennen, wie mein Schädel sich grotesk verformte… Ich fiel in Ohnmacht, aus der ich erst Stunden später erwachte.
Ich hoffe, du hältst mir auch weiter deine Treue, wie lächerlich sich meine Geschichte auch für dich anhören mag. Und jetzt verrate ich dir, weshalb ich von der Mumie nicht im Präsens sprach: Ich dachte, indem ich sie vernichtete könnte ich vielleicht meine menschliche Gestalt zurückgewinnen. Mühsam zog ich den Leib mit meinen Klauenfingern nach draußen, atmete schwer und sonderte dabei eine ekelhafte, grünliche Flüssigkeit ab, die zu Boden tropfte. Im Vorhof verbrannte ich die Mumie, und seither warte ich auf das Wunder, das nicht und nicht eintreffen will.
Ich bete zu Gott, dass ich mit meinen grausig entstellten Fingern diese Zeilen noch zu Papier bringen, das Blatt Papier kuvertieren und mit einer Briefmarke versehen und dir schicken kann.
Dein Freund Richard.“
Holland runzelte die Stirn. Dann bemerkte er, dass der Staubsauger verstummt war und seine Frau ins Zimmer trat. Ihre Blicke trafen sich.
„Wieder ein Brief von Richard?“
Holland nickte. „Ich muss zu ihm. Vielleicht kann ich ihm helfen. Er scheint den Verstand völlig verloren zu haben.“
Cynthia legte eine Hand auf seine Schultern und strich mit der anderen durch sein schütteres Hand. „Du bist ein guter Mensch, Brian. Er baut auf deine Freundschaft und Verschwiegenheit. Geh zu ihm, hilf ihm! Wenn du es nicht kannst, kann es niemand.“
„Ja“, pflichtete Holland bei. „Er scheint mit sich selber gerungen zu haben, diesen Hilfeschrei zu senden. Ich packe meine Tasche und nehme den nächsten Zug.“
Mit diesen Worten küsste er Cynthia.
***
„Richard?“
Hollands Stimme rollte über den Hof und erzeugte ein schauderliches Echo. Das Anwesen war völlig verwahrlost und schien seit Jahren unbewohnt. Am Boden lagen verfaulte Früchte, auf denen sich Schmeißfliegen tummelten. Holland wurde ungemach zumute. Dennoch musste er seinem Freund beistehen. Er klopfte an die Eingangstür, die unter seinen Fäusten nachgab und knarrend nach innen aufging. Langsam trat Holland ein. Auf dem Holzboden waren seltsame Pfützen zu erkennen. Er ging in die Knie und streckte die Hand aus, um die Flüssigkeit zu berühren.
„Nicht“, zischte eine Travestie einer menschlichen Stimme aus dem Halbdunkel. Holland fuhr erschrocken in die Höhe. „Richard? Bist du das?“
„Nicht“, schlug es ihm erneut entgegen und er kniff die Augen zu, um die Gestalt in der Ecke zumindest ihren Konturen nach ausnehmen zu können. „Richard, ich will dir nur helfen.“
„Nicht.“
„Was meinst du?“
„Nicht … Richard…“
Holland spürte die Schweißperlen auf der Stirn. Er tastete nach dem Lichtschalter. „Ich werde dich nicht im Stich lassen, Richard, niemals!“
Er fand den Schalter. Der Raum wurde von Licht durchflutet. Nach Sekunden der atemlosen Stille stieß Holland einen schier endlosen Schrei aus.