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Menschenmasse
Morgens ist es am schlimmsten. Da wird gehetzt, gedrängelt, gedrückt, gerempelt, geschoben, geschubst, geschnauft, geschwitzt, verdunstet und vermengt; Aktentaschenkörper hängen zwischen Mantelkragenschultern liegen unter Seitenscheitelhäuptern wachsen über Krawattenhälsen laufen auf Hochglanzlackschuhen; eheringlose Hände an gebräunten Gelenken werden umarmt von schaufenstertauglichen Uhren; Beine verschwinden entblößend züchtig unter Röcken; Zeitungen rascheln dringlichdezent mit Weltgeschehen; Bewegungen sind fahrig, Blicke taxierend; sie schätzen Marktwert und Gewinnabsicht; verkürzte Kommunikationswege erfordern Entscheidungen; der Verkehr getaktet, gestückelt, präzise. Zweckmäßig ist alles. Zwecklos nichts. Minimal in den Kopfhörern der Uniformen. Stumme Gebete summen durch das Abteil: Übergöttlicher Arbeitgeber! Erwähle mich! Stille deinen Bedarf an mir! Führe mich ins verglaste Netzwerk! Trenne mich vom Schwarm! Nimm mich! Mich! Bedeutungsvolle Patina beschlägt am Fenster und verhindert den Blick nach außen.
Wie im Zeitraffer eilt die Menschenmasse am Großmütterchen vorbei, das jeden Tag regungslos am Straßenrand weilt und über die Blumensträuße wacht, die es zu verkaufen gilt. Die Pflanzen scheinen traurig, bedrückt. Sie lassen teilnahmslos die Köpfe hängen und welken still vor sich hin.
Niemand merkt es, nicht einmal das Großmütterchen.
Es hat den runzligen Blick gedankenverloren nach oben gerichtet, zu dem chromstarrenden, tausendstöckigen Ungetüm, in welches sich die Menschenmasse ergießt. Sie weiß: Gleichsam mit ihren Pflanzen wird auch sie verwelken, und wenn sich das letzte Blättchen mühevoll vom dürren Zweig löst und langsam auf den Boden niederschwebt, dann wird ihre Zeit gekommen sein.
Die müden Augen suchen nach Halt auf dem monotonen und glattgeleckten Gebäude. Sie fragt sich, ob jemand aus der Menschenmasse ihr Entschwinden bemerken würde. Die Fassade verharrt regungslos und still und abweisend. Ein leichter Windhauch streicht ihre Pflanzen und lässt die Zweige erzittern. Das reicht ihr als Antwort.