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Menschenmasse

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02.10.2011
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Menschenmasse

Morgens ist es am schlimmsten. Da wird gehetzt, gedrängelt, gedrückt, gerempelt, geschoben, geschubst, geschnauft, geschwitzt, verdunstet und vermengt; Aktentaschenkörper hängen zwischen Mantelkragenschultern liegen unter Seitenscheitelhäuptern wachsen über Krawattenhälsen laufen auf Hochglanzlackschuhen; eheringlose Hände an gebräunten Gelenken werden umarmt von schaufenstertauglichen Uhren; Beine verschwinden entblößend züchtig unter Röcken; Zeitungen rascheln dringlichdezent mit Weltgeschehen; Bewegungen sind fahrig, Blicke taxierend; sie schätzen Marktwert und Gewinnabsicht; verkürzte Kommunikationswege erfordern Entscheidungen; der Verkehr getaktet, gestückelt, präzise. Zweckmäßig ist alles. Zwecklos nichts. Minimal in den Kopfhörern der Uniformen. Stumme Gebete summen durch das Abteil: Übergöttlicher Arbeitgeber! Erwähle mich! Stille deinen Bedarf an mir! Führe mich ins verglaste Netzwerk! Trenne mich vom Schwarm! Nimm mich! Mich! Bedeutungsvolle Patina beschlägt am Fenster und verhindert den Blick nach außen.

Wie im Zeitraffer eilt die Menschenmasse am Großmütterchen vorbei, das jeden Tag regungslos am Straßenrand weilt und über die Blumensträuße wacht, die es zu verkaufen gilt. Die Pflanzen scheinen traurig, bedrückt. Sie lassen teilnahmslos die Köpfe hängen und welken still vor sich hin.

Niemand merkt es, nicht einmal das Großmütterchen.

Es hat den runzligen Blick gedankenverloren nach oben gerichtet, zu dem chromstarrenden, tausendstöckigen Ungetüm, in welches sich die Menschenmasse ergießt. Sie weiß: Gleichsam mit ihren Pflanzen wird auch sie verwelken, und wenn sich das letzte Blättchen mühevoll vom dürren Zweig löst und langsam auf den Boden niederschwebt, dann wird ihre Zeit gekommen sein.

Die müden Augen suchen nach Halt auf dem monotonen und glattgeleckten Gebäude. Sie fragt sich, ob jemand aus der Menschenmasse ihr Entschwinden bemerken würde. Die Fassade verharrt regungslos und still und abweisend. Ein leichter Windhauch streicht ihre Pflanzen und lässt die Zweige erzittern. Das reicht ihr als Antwort.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Dekonstruktivator, willkommen auf KG.de!

Schade, daß Deinem Großmütterchen das als Antwort reicht. Denn so reicht mir Dein Text nicht als Geschichte. :D

Das Gute: Die Rechtschreibung ist in Ordnung, und es wird sogar eine kleinere Zusammenschreiborgie gefeiert. Das gefällt mir, weil ich so vieles auseinandergeschrieben sehe, das zusammengehört.

Als Stilmittel könnte mir das vielleicht gefallen, wenn mehr Geschichte dran wäre. Nach der Beschreibung des Rahmens und dem Erstauftritt der Heldin ist es ja schon aus.
Andererseits: Wäre da jetzt eine lange Geschichte dran, deren Handlung und Helden mir gefielen, klänge dieser Stil recht eitel und überspannt. Nach ein paar Seiten wären vielleicht nur noch Adjektivitis und Stagnation davon übrig.

Was ich sah:
Das Vokabular wird geschniegelt, gestriegelt, gebügelt und poliert. Es wird präsentiert, als werde damit zur Geschichte ausgeholt. Mitten im Ausholen verhält es wie am ausgestrecken Arm hochgehalten.
Vielleicht sollte das so sein, damit man es von allen Seiten ansehen kann und besser glänzen sieht.
Leider ist es aber mit Vokabular ähnlich wie mit Licht: Es fehlt ihm an überzeugender Ruhemasse.

Für mich ist das ein Text, der weder dem Leser zugewandt ist noch dem Helden, sondern der aus sich selbst heraus gut sein will. Das empfinde ich als Sackgasse und fühle beim Lesen nichts.

Hier ist ein Fleck auf der Politur:

(...) wachsen über Krawattenhälsen laufen auf Hochglanzlackschuhen
Die Schuhe hänge komisch an dem Hals, wenn man die Reihenfolge vorher bedenkt. Vielleicht hättest Du mit den Füßen anfangen sollen, dann wär am oberen Ende neben dem Klang noch Luft genug für die Logik gewesen. :silly:

Gruß,
Makita.

 

Moin Dekonstruktivator,

Kurzgeschichten dürfen ruhig länger sein. ;) Was ich lese ist ein langer Absatz, der die Menschen im Berufsverkehr beschreibt. Es gibt keine Gedanken, ob das alle so sehen, keine Frage nach Gründen. Das bleibt alles so im Raum stehen.
Völlig unverwoben steht daneben das klassische Bild vom Großmütterchen, das da ist, weil es immer da war und sich fragt, ob ihr Verschwinden auffallen würde. An der gleichen Stelle könnte auch ein Polizist stehen, der jeden Morgen Knöllchen verteilt, immer die gleichen Knöllchen an den gleichen Wagen. Der könnte sich auch fragen, ob es auffallen würde, wenn er verschwinden würde. Siehst Du, was ich meine? Das ist beliebig austauschbar.

Ich würde zeigen, dass es auch in der Menschenmasse Personen gibt, die sich auch die Frage stellen, ob ihr Verschwinden überhaupt auffällt. Vielleicht ist da jemand zwischen, der sich jeden Morgen eine Blume kauft und sie auf seinen Schreibtisch stellt. Dann würde ich aber das Verwelken streichen. Oder gerade drin lassen? :hmm: Das Großmütterchen könnte sich damit konfrontiert sehen, dass jemand eine Blume mit EC-Karte bezahlen will. Was macht sie dann? Oder sie könnte vor dem Problem stehen, einen Zwanziger nicht wechseln zu können, weil noch nicht genug Leute Blumen gekauft haben. Wenn es neben der anfänglichen Koexistenz eine Interaktion der beiden Seiten gibt, dann wird viel deutlicher, dass das Großmütterchen durchaus vermisst wird.
Das ist natürlich nur ein Vorschlag. Wenn Dir eine andere Lösung besser gefällt, nimm sie.

Gruß,
Peter

 

Salü Dekonstruktivator

Trotz des bereits erwähnten Fehlens eines interessanten Hintergrundplots, nahm mich der Text trotzdem gefangen, worauf ich denn ob der Kürze schwer entäuscht war. Warum verschwendest du diesen rasanten Auftakt?

Ich würde mir wünschen, dass du Makitas und Peter Frankes Erweiterungsvorschläge annimmst und lege noch zwei, drei Details nach.

Die stakatoartige Beschreibung der Menschenmasse hat da meiner Meinung nach noch ein paar Kommas verdient.;):

Aktentaschenkörper hängen zwischen Mantelkragenschultern, liegen unter Seitenscheitelhäuptern, wachsen über Krawattenhälsen, laufen auf Hochglanzlackschuhen;

Minimal in den Kopfhörern der Uniformen.
Sind da nicht eher die Kopfhörer der Unifomierten/Uniformträger gemeint?

Bedeutungsvolle Patina beschlägt am Fenster und verhindert den Blick nach außen.
Patina ist meiner Meinung nach eine durch Korrosion, bzw. Oxidation entstandene dünne Schicht an einer metallenen oder auch Gemälde-Oberfläche.
Demnach verschliesst sich mir die Aussage einer "bedeutungsvollen Patina"; warum nicht reale menschliche Ausdünstungen, erzeugt durch gehetztes Vorwärtsdrängen, die die Fenster "beschlagen lassen" und somit - im doppelten Sinn - den Blick nach Draussen verwehren.

Gruss dot/

 

Liebe Freunde des geschriebenen Wortes,

erstmal vielen Dank für die schnelle und vor allem konstruktive Kritik. Mit Freude lese ich da sehr grundsätzliche und den Kern der Sache treffende Anmerkungen. Ich glaube, hier werde ich mich Wohlfühlen.

Nur kurz zu meiner Verteidigung: Ich finde, dass Kurzgeschichten durchaus auch wirklich kurz sein können ;) Ziel meiner Geschichte ist (auch wenn sie in der Tat noch sehr skizzenhaft ist) eine verdichtete Bestandsaufnahme. Die Aussage von Makita bringt es jedoch (leider) gut auf den Punkt:

Als Stilmittel könnte mir das vielleicht gefallen, wenn mehr Geschichte dran wäre.
Dennoch will ich versuchen, dass die Geschichte auch ohne Handlung im eigentlichen, äußeren, realen Sinne auskommt. Aber du hast recht, da habe ich so viel gefeilt, bis nicht mehr viel an Substanz übriggeblieben ist :)

Monsieur Franke hat mich da hinsichtlich des Zusammenhangs beider Personen(gruppen) tatsächlich auf ein paar gute Ideen gebracht. Danke dafür! Aber das die Geschichte von der Intention her gut angelegt ist, kann ich an den Reaktionen erkennen.

Mitten im Ausholen verhält es wie am ausgestrecken Arm hochgehalten.
Vielleicht sollte das so sein, damit man es von allen Seiten ansehen kann und besser glänzen sieht.
Das ist beliebig austauschbar.
Genau dieses Nachdenken über die Austauschbarkeit will ich bezwecken. Da ist auf der einen Seite eine miteinander verwobene Masse an genormten Gleichgesinnten, mit ähnlichen Lebensentwürfen, Tagesabläufen etc. Und auf der anderen Seite befinden sich diejenigen, die nicht mehr in diesen oftmals unreflektiert angenommenen Lebenssinn hineinpassen (wollen, können, müssen).

Nun noch zu Mister Dotslash:

Die stakatoartige Beschreibung der Menschenmasse hat da meiner Meinung nach noch ein paar Kommas verdient.

Stilmittel oida ;)
Sehr gute Anmerkungen, vielen Dank dafür, werde ich direkt ausbessern.

Hoffentlich bald werdet ihr die überarbeitete Geschichte in den virtuellen Händen halten. Bis dahin verbleibe ich mit dekonstruktivierendem Gruß!
Igor

 

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