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Menschen, Chaos und die Liebe zu einer Stadt

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11.01.2015
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Menschen, Chaos und die Liebe zu einer Stadt

Ich sitze in einem überfüllten Bus mitten in Dhaka. Der Bus schlängelt und schüttelt sich scheinbar willkürlich durch die Menge. Der Fahrer beugt sich tief über das große Lenkrand, hupt hier, bremst dort. Durch das offene Fenster schimpft er den Passanten hinterher, die zwischen den Autos hervorhuschen, um die Straße zu überqueren. Sie stolpern über die ausgelegten Waren der Straßenhändler auf dem Bordstein und geben die Beschimpfungen an diese weiter. Die Straßenhändler wiederum lassen sich an den Bettlern aus, die es sich, zahnlos und in zerschlissene Jutesäcke gehüllt, zwischen den Waren bequem machen, um auch ein bisschen Kleingeld von den potentiellen Kunden zu ergattern. Kinder rennen mit ihren Beuteln durch die Straßen. Sie sammeln Reste ein, hier ein bisschen Gemüse, paniert, frittiert, gekocht, dort ein bisschen Reis. Andere sammeln Altpapier und leere Plastikflaschen. Sie lachen, während sie Hand in Hand davonfliegen mit ihren Schätzen.
Der Busschaffner hängt halb aus der Tür des Busses, lässt sich vom Fahrtwind umwehen, während er mit zusammengekniffenen Augen und mit einem Arm wedelnd die nächsten Haltestellen herausschreit. Eingequetscht in der Menge sitze ich verrenkt in einer Körperhaltung, die einer komplizierten Yogaposition gleicht. Ich habe ein fremdes Kind auf meinem Schoß und die Wärme eines fremden Atems in meinem Nacken. Der kleine Junge, der mir in die Arme geschoben wurde, hält meinen Daumen in seinen Händen, unbesorgt darum, wer ich bin und wieso er auf meinem Schoß sitzt. Er schnalzt beim Atmen mit der Zunge und seine speichelverschmierten Finger spielen mit meinem Daumen, untersuchen ihn von allen Seiten. Seine Haare riechen nach Kokosnussöl. Er trägt sein bestes Hemd und seine beste Hose. Schuhe hat er nicht. Die Mutter des Kindes betrachtet mich mit neugierigen kajalumrandeten Augen. Sie hat noch ein Baby auf dem Arm, das auf ihrer Brust ruht und inmitten all des Chaos und Geschreis friedlich eingeschlafen ist. Ein Huhn pickt an meinem linken großen Zeh.
Der Schaffner streitet mit einem Mann, es ist ein Tauziehen um 5 Taka. Die Fahrt ist erschöpfend, und die Hitze in dem vollgestopften Bus macht sie schier unerträglich. Immer mehr Leute steigen ein, ohne dass der Bus anzuhalten scheint. Sie hängen an den Tür- und Fensterrahmen mit mehr Entschlossenheit als an ihrem eigenen Leben.
Immer wieder zucke ich zusammen, während wir dicht an den anderen Autos und Rikschas vorbeirasen. Ich frage mich, wie ich überhaupt noch einen Sitz ergattert habe und ob ich hier je wieder rauskommen werde.
Der Busfahrer unbekümmert dessen, dass sein Bus unter der Last der vielen Menschen immer schiefer über dem Asphalt hängt, kauft an der nächsten Ampel eine einzelne Kippe von einem kleinen Jungen, der Wasserflaschen, Luftballons und Zigaretten im Angebot hat. Der Fahrer zündet sich die Zigarette an, während er gleichzeitig den ersten Gang einlegt. Gehupt wird im Zweivierteltakt.
Das Kind auf meinem Schoß ist mit meinem Daumen in seinem Mund eingeschlafen. Die Mutter lächelt mich an, und ich lächle zurück, jedoch nicht allein für sie. Ich lächle, weil ich trotz all des Chaos und aller Absurdität verliebt bin in diese Stadt, die ich zehn Jahre zuvor verließ. Meine Stadt, die in meinen Erinnerungen immer blasser wurde, aber nie aufgehört hat zu leben.

 
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Dir ist hier ein schönes Stimmungsbild gelungen, WortSpielkind, bildreich und Bilder vermittelnd, wortgewandt, stilsicher und fehlerfrei geschrieben. Ein wirklich schöner Text.
Allein, eine Geschichte erzählt er mir nicht.
Auf mich wirkt das eher wie die Einleitung zu einer Geschichte, die ich, und fasse das bitte als Kompliment auf, gerne weiterlesen würde.
Auf jeden Fall macht es mich neugierig auf weitere Sachen von dir.

Willkommen hier, WortSpielkind.

offshore


Ein eiziges Komma ist mir abgegangen:

Der Busfahrer [Komma] unbekümmert dessen, dass ...

 

Hallo WortSpielkind!

Auch ich habe deinen Text sehr gerne gelesen. Längere Beschreibungen machen mich oft ungeduldig, aber hier fühlte ich mich Satz für Satz tiefer in die Szene hineingezogen. Die Liebe zu dieser Stadt wird in jedem Satz spürbar. Und wie du das Kind beschreibst ist einfach wunderbar.

Ein Gedanke kam mir noch. Man würde noch unmittelbarer in die Szene hinein geworfen, wenn du auf den ersten Satz verzichten würdest. Vielleicht könnte man den Namen der Stadt in den darauffolgenden Sätzen unterbringen.

Auch von mir ein herzliches Willkommen!

Chutney

 
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Hallo offshore,

Danke vielmals für die positiven Worte und den Komma... ! :) Das freut mich sehr!

Ja, tut mir leid, ich bin noch ziemlich neu hier. Gibt es denn auf dieser Seite eine Rubrik für 'Texte'? Ich hoffe es ist okay, dass ich den Text dennoch hier in der Rubrik 'Kurzgeschichten' gepostet habe...

Ich freue mich auf diese Seite gestoßen zu sein. Ich schreibe derzeit an einem Roman und könnte dabei gut Kritik/Anregungen/Ideen gebrauchen.

Danke Chutney, daran habe ich auch gedacht. Eigentlich wollte ich den ersten Satz ganz weglassen. Meinst du, das ginge?

 

WortSpielkind schrieb:
Gibt es denn auf dieser Seite eine Rubrik für 'Texte'? Ich hoffe es ist okay, dass ich den Text dennoch hier in der Rubrik 'Kurzgeschichten' gepostet habe...

Auch wenn dein Text nicht den Anforderungen einer klassischen Kurzgeschichte entspricht (wobei das natürlich ein sehr weit gefasster Begriff ist, bzw. eine Frage der persönlichen Sichtweise), war er mir allemal ein Lesegenuss. Und ums Lesen geht's ja hier in erster Linie. Insofern ist dein Text nicht völlig fehl am Platz.
Aber dir muss natürlich auch klar sein, dass du hier in einem Kurzgeschichtenforum schreibst und dementsprechend solltest du deine zukünftigen Texte gestalten.

ich wünsche dir dabei viel Vergnügen.

offshore

 

Hallo WortSpielkind

Danke Chutney, daran habe ich auch gedacht. Eigentlich wollte ich den ersten Satz ganz weglassen. Meinst du, das ginge?

Genau das meinte ich. Du müsstest dann halt nur den Namen der Stadt "Dhaka" anders unterbringen, der ist ja wichtig.

Ich bin gespannt auf deinen Roman!

Liebe Grüße von Chutney

 

Hallo WortSpielkind,

und herzlich Willkommen hier!

Spielt dein Roman denn auch in Dhaka? Liest sich nämlich wie ein Prolog. Auf jeden Fall macht er Lust auf mehr. Ist es wirklich nur die Verliebtheit, die deinen Erzähler zurück in diese Stadt führt? Du schreibst das sehr romantisch und unaufgeregt, nimmst dieser aufgeladenen Atmosphäre ein wenig an Spannung, somit würde ich dem Erzähler sogar abkaufen, dass er genau deshalb zurückgekommen ist, um sich in einem überfüllten Bus am Daumen rummachen zu lassen.
Du schreibst aber:

weil ich trotz all des Chaos und aller Absurdität
Welche Erlebnisse also trotzen dem Chaos? Es ist eine tolle Szene, eines scharfsinnigen Beobachters, aber wo liegt der wahre Grund (Gründe) für die erneute Reise nach Dhaka?

hupt hier, bremst dort.
Kinder rennen mit ihren Beuteln durch die Straßen. Sie sammeln Reste ein, hier ein bisschen Gemüse, paniert, frittiert, gekocht, dort ein bisschen Reis.
Das hat diese entschleunigende Wirkung, aber es nutzt sich auch schnell ab, weshalb ich dir empfehle eines zu streichen. Am besten im zweiten Satz, dann kriegst du auch die zwei "bisschen" weg.

Viel Spaß noch hier im Forum und schöne Grüße

Hacke

 

Hallo Chutney ,

ich habe nun folgende Änderungen vorgenommen :

erster Satz : Der überfüllte Bus schlängelt und schüttelt sich scheinbar willkürlich durch die Menge.
letzter Satz : Diese Stadt, Dhaka, die in meinen Erinnerungen immer blasser wurde, aber nie aufgehört hat zu leben.

Mir gefällt dabei, dass nun erst ganz am Ende aufgeklärt wird, wo die Szene spielt. :)

Hallo Hacke ,

Danke für die Willkommenheißung und den Vorschlag!
Ich habe mich aber entschieden, das so zu lassen, weil das zweite 'hier, dort' eine etwas andere Funktion hat; es soll das 'Zusammensammeln' der Essensreste betonen.
Der Text ist tatsächlich ein zusammengefasster und leicht veränderter Auszug aus dem Es-Wäre-Gern-Ein-Roman, an dem ich zur Zeit schreibe... Teil 1 spielt in Dhaka.
Der Grund für die Rückkehr ist in diesem Auszug ja irrelevant, der Erzähler kommt nach langer Zeit zurück und merkt einfach, dass die Stadt ihm gefehlt hat, trotzen tut dabei nichts anderes als die Liebe!
In dem Roman, den ich schreibe, ist es aber genau die Frage (und damit auch die Frage weshalb der Erzähler überhaupt das Land verließ) an der ich zur Zeit knabbere und weshalb der gesamte Verlauf etwas hakt, denn je nach Grund ändert sich eben auch die ganze Dynamik der Geschichte... Wenn ich diese und ein paar andere, entscheidende Fragen geklärt habe, kann ich ein Expose in die Roman-Rubrik hineinstellen ;)

Vielen Dank erstmal für die Zeit und ebenfalls schöne Grüße!!!

 

Hallo WortSpielkind,

es ist schon interessant, was passiert, wenn du diese beiden Sätze änderst. Dass man den Namen der Stadt erst am Ende erfährt finde ich auch reizvoll. Aber erst jetzt, beim nochmaligen Lesen ist mir aufgefallen, dass man dann auch erst sehr spät erfährt, dass es sich um einen Ich-Erzähler handelt und dass er in dem Bus sitzt. In deiner ersten Version sitzt man beim Lesen gleich von Anfang
an drin in diesem Bus und schaut aus dem Fenster. Wenn der erste Satz fehlt, schwebt man irgendwie über der Szene, bis zum zweiten Absatz. Da taucht zum ersten Mal der Ich-Erzähler auf. Vielleicht ist das doch etwas spät.

Entschuldige, dass ich da etwas hin und her eiere. Ich finde immer noch, dass man den ersten Satz weglassen könnte, um unmittelbarer in das Geschehen einzusteigen. Vielleicht könntest du trotzdem den Ich-Erzähler schneller einführen. Von dem ich übrigens erst aus deinen Kommentaren erfuhr, dass es ein Mann ist.
Letztendlich kommt es wahrscheinlich auch darauf an, was du mit dem Text machen willst.

Liebe Grüße von Chutney

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Chutney!

Ach, stimmt, das ist mir gar nicht aufgefallen, wahrscheinlich weil ich den Text zu gut kenne...Das stimmt, das war nicht so gedacht! Hmm! :/ Danke vielmals für den Hinweis!!!!

Der Erzähler ist aber kein Mann, ich verpeil das immer bloß mit dem gendern. Auch wenn ein männlicher Erzähler möglich wäre, ist es doch recht unwahrscheinlich, dass dann die Frau/Mutter des Kindes ihn so lange anschauen und auch anlächeln würde. Das ist kulturell bedingt nicht üblich.

Ich habe den Text mittlerweile schon bei einem Literaturdingsda eingereicht, naja, mal schaun ... !

Danke aufjedenfall sehr für deine Zeit und Gedanken!

 

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