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Mensch: ein Tier
Herr Richter war kein Kollege, der sich leicht für etwas begeisterte. Und erst recht billigte er es in keinster Weise, wenn man seine Prinzipien missachtete. Er war ein ordentlicher Mensch und ließ sich nichts zuschulden kommen. Er setzte klare Verhältnisse im Umgang mit anderen, indem er immer denselben Grad an Respekt vor seinen Mitarbeitern hegte, den sie auch ihm gegenüber aufbrachten. Schließlich lebte man in einer Gesellschaft, der Konfliktlösung mit Worten nicht ganz fremd waren, oder? Und ja, er gab doch sogar zu, ein Spießer zu sein. Die anderen jedoch gaben sich damit nicht zufrieden.
Der letzte Arbeitstag des aktuellen Quartals gipfelte in seinem missmutig hervorgepressten Bericht beim Abendessen. Umständlich von ihm herausgebrachte Worte über eine anstehende Betriebsreise nach Spanien versetzten Luise, seine Frau, augenblicklich in Hochstimmung: „He, das ist doch super! Paul, du wirst das mögen! Du spannst eine Weile aus, unternimmst was mit deinen Kollegen. Und gleich bist du wieder da. Du merkst gar nicht, wie sehr dir sowas fehlt.“
Beinahe Wort für Wort hatte Herr Richter solch eine Reaktion erwartet. Er schob den kaum angerührten Teller mit gebackenem Blumenkohl, auf den er sich schon den ganzen Tag gefreut hatte, von sich und schob seinen Stuhl nach hinten. Sorgsam achtete er darauf, mit den Stuhlbeinen nicht über den Teppichboden zu schleifen. Die Einrichtung hatte schließlich nicht unter seiner Laune zu leiden. Seinem 15-jährigen Sohn, der selten mehr als zwei Worte pro Mahlzeit mit ihm wechselte, signalisierte er:
„Du kannst meinen Blumenkohl haben, wenn du noch Hunger hast, ja?“
„Ich bin satt und du weißt doch, ich mag keinen Blumenkohl.“
„Natürlich, natürlich.“
Auf halbem Weg zur Treppe hielt Herr Richter inne, die Hand auf dem Geländer schaute er zurück. „Mit ist schon klar, dass du deine Meinung nicht wirst ändern wollen! Ich geh packen!“
Und das hatten sie jetzt davon! Anstatt pünktlich um achtzehn Uhr mit Luise zu skypen, um sich nach dem Wetter und Stand der Dinge erkundigen zu können, bezog Herr Richter nun schon seit einigen Stunden ausgerechnet Stellung in einer Stierkampfarena! Nach der einen oder anderen Cerveza saßen er und seine Kollegen nun hier. Alejandro, ihr Fremdenführer, hockte zu seiner Linken und fummelte in einer Tüte Erdnüsse herum. „Jetzt kommt der wichtigste Teil von allen, die Faena, das Finale des Stierkampfes“ erläuterte er in grobem Englisch. Das Schauspiel war schon eine ganze Weile vorangeschritten. „Hier sind nur noch Stier und Torero allein in der Arena. Mann gegen Tier. Damit kann der Stiertöter seinen edlen Mut und seine Überlegenheit unter Beweis stellen.“
Der Stier weiter unten in der Arena taumelte. Der schwarze Leib, schon grau vom Staub, war aufgeschunden von zahlreichen Stürzen. Aus den Seiten und Waden ragten abgebrochene Griffe von Speeren und Rinnsale aus Blut und Schweiß verkrusteten an manchen Stellen. Die Beine gaben ständig nach, die Sehnen der aufgeplatzten Schenkel pulsierten und zeichneten sich ab, als wollten sie die Beine von innen sprengen. Das Tier schnaubte, Blut und Geifer spritzten hervor. Ein weiteres Mal nahm es Anlauf und setzte, impulsiv brüllend, auf den Matador zu. Es war nicht mehr als ein Stürzen nach vorne.
„Aber das ist doch ethisch nicht vertretbar, oder?“ vergewisserte sich Herr Richter. Sein Hals war trocken geworden, nicht nur von den salzigen Nüssen oder den hohen Temperaturen. Dafür durchnässte seine Kleidung zusehends mehr und sein Deodorant versagte. Erst jetzt rief er sich ins Gedächtnis, zu atmen. „Ach, von der Fraktion stammen sie, wie?“ Alejandro hob vielsagend eine struppige Augenbraue. „Machen sie sich da mal keinen Kopf, die Tiere werden ihr ganzes Leben vor dem Kampf massiert, kriegen bestes Futter, sind rund um verwöhnt und“, ein dümmliches Grinsen saß auf seinen gelben Zähnen auf, „sie bekommen so viele hübsche Kühe zum Vergnügen, wie sie nur wollen. Wenn ich zwischen dem Tod als Mensch, der sich manchmal Jahre hinzieht, und dem dreiviertelstündigen Tod eines Stieres wählen könnte, ich wäre liebend gern Stier.“ Der Fremdenführer wandte sich wieder seinen Erdnüssen zu. „Außerdem ist der Stierkampf und der Beruf des Stiertöters Kultur, es unterhält das Volk, die Massen. Das nimmt uns keine Regierung einfach so weg, wie sie es seit ein paar Jahren versucht!“
Das Tier bewegte sich kaum noch. Es war zu einem großen Haufen von Fell, Schwärze und diversen anderen biologischen Ingredienzien zusammengesunken, der langsam auslief. Eine schmierige Lache vergrößerte sich um den Stier, doch nach wie vor hob und senkte sich sein Torso, noch immer strömte Leben durch seinen Körper. Und es kochte, es brannte. Andere Sinneseindrücke verdrängend, schien seine Wut die Arena zum Schwelen zu bringen. Die im Sonnenschein gleißend hin und her schwenkende Degenspitze auf Augenhöhe erhoben, näherte sich der Matador dem Stier. Theatralisch ließ er das rote Tuch vom gestreckten Arm zu Boden fallen, dann ruckte sein Arm nach hinten, um die Klinge zwischen des Stieres Schulterblättern dessen Herz zu durchstoßen. Just in diesem Moment baute sich das Tier in einem Satz wieder auf. In einer letzten Kraftanstrengung wirbelte es ringsum Staub auf, dann rammte es grollend sein Horn in den Oberschenkel des Matadors. Dieser knickte um und umfasste kreischend sein Bein. Blut schoss in einem prallen Strahl hervor, tropfte in den Staub. Noch bevor einige Helfer am Rande der Arena herbeieilen konnten, raffte sich der Matador an der Flanke des Stiers auf dessen Rücken hinauf. Den Hut hatte er verloren, seine Kleidung war von Schmutz bedeckt, die rechte Wange überzog ein klaffender Schnitt.
Herr Richter sah, dass der Matador lachte. Ein grimmiges, bitteres Lachen aus tiefstem Inneren wallte über dessen Gesichtszüge, die Muskulatur zuckte krampfhaft, während seine Augen jedoch ungebrochen strahlten. Dem ganzen Publikum zeigte er die Zähne und reif mehrmals aus: „Sí, sí!“
Mann gegen Tier. Leben gegen Leben.
Buhrufe aus dem ganzen Rund der Tribüne wurden laut. Es wurde mit Snacks, anderen Gegenständen und Beleidigungen geworfen. Auch Alejandro war aufgesprungen. „Das ist vollkommen unehrenhaft! Was denkt dieser Torero, wer er ist? Das hier ist keine Schlachtbank, es geht hier um die hohe Kunst des Tötens eines Stieres, es geht um eine glanzvolle Tat!“ Herr Richter saß nur umso stiller und regungsloser da. Er war an den vordersten Rand seines Sitzplatzes gerutscht, beugte sich noch weiter vor und hatte den Kopf mit beiden Händen umgriffen, als blicke er sonst instinktiv weg. Gedanken wurden von dem Gesehenen in sein Hirn gestochen: Das ist doch furchtbar, es ist brutal, es ist barbarisch! Diese beiden Lebewesen dort unten bekämpfen sich bis auf den letzten Blutstropfen, sie zerfetzen sich! Wie kann so etwas von Menschen gebilligt werden? Warum findet ein Mensch daran Gefallen? Was legt es in ihm frei?
Mit animalisch spitzem Schrei rammte der Matador triumphierend seinen Degen an der Wirbelsäule des Stiers vorbei, durch sämtliche Organe hindurch. Tief in dessen Körper eingegraben blieb er bis zum Heftansatz stecken. Wie eine Marionette, die von ihren Fäden gekappt wurde, sackte der Stier zusammen, die Beine knickten in verschiedene Richtungen ein. Mit einem dumpfen Schlag kam der tote Rest zum Liegen.
Herr Richter unterdrückte ein aufkommendes Würgen und schaffte sich Platz. Mit groben Stößen drang er durch die Sitzreihen, dann hastete er los. Blut troff sein Kinn herab, er hatte sich die Oberlippe aufgebissen. Wieder und wieder zog er an dem schweißdurchtränkten Hemd, das an seinem Oberkörper haftete. Vor seinen Augen huschten glänzende Schlieren, wie in Trance durchschritt er das Tor.
Tief erschüttert stolperte Herr Richter aus der Arena und die steinernen Stufen hinab. Sein Ziel war das Vereinshaus, um sich als Torero einzuschreiben.