Mensch 2.0
Es war ein warmer Sommerabend als Gregor starb. Es war 23:02, als der geliebte Familienvater, Großvater, Bruder und Ehemann seinen letzten rasselnden Atemzug tat.
Töchter, Söhne, Neffen, Nichten und Enkelkinder versammelten sich um sein Bett im Krankenhaus, um sich von ihm zu verabschieden. Manche der Besucher waren gefasst, andere ließen sich von der Trauer überrumpeln und drückten Taschentücher auf ihre feuchten Wangen, als sie Gregors kühle Hand drückten – in dem Wissen, dass es das letzte Mal sein würde. Auch wenn man es nicht als „plötzlich“ oder „vollkommen unerwartet“ bezeichnen konnte, wenn ein Mann im Alter von 83 Jahren stirbt, so ist der Tod eines Familienmitglieds für den Rest der Familie trotzdem ein erschütterndes Ereignis.
Söhne spenden schluchzenden Töchtern Trost, Brüder und Neffen liegen sich in den Armen, Schwestern reichen Nichten Taschentücher.
„Ergreifend, nicht wahr?“, ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Schwarz.
Gerade eben hatte Gregor seinen letzten Atemzug getan und es wurde dunkel. Jetzt, nur einen ewigen Augenblick später, blickte er hinab auf sich, wie er dort mit geschlossenen Augen weit geöffnetem Mund in seinem Krankenhausbett lag.
Er hörte diese vertraute, doch fremde Stimme neben sich.
„Sorry, ich weiß die Vogelperspektive auf den eigenen Tod ist ein wenig... oldschool“, fuhr die Stimme fort, „aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Neuen so am besten schnallen, was gerade abläuft.“
Gregor, beziehungsweise Gregors Nachtod-Ich drehte sich herum. Neben ihm stand ein junger Mann, der Anteil nehmend auf die Familientragödie herabblickte.
Gregor versuchte sein Bestes, sich einen Reim auf das zu machen, was sich gerade abspielte. Gerade eben hatte er noch im Bett gelegen und nach Luft gejapst, als ihm seine Kinder unter Tränen sagten, dass sie ihn liebten. War der Mann neben ihm eine Halluzination? Vielleicht eine Nebenwirkung der Medikamente, mit denen er seit seiner gestrigen Einlieferung vollgepumpt wurde?
Gregors Grübelei wurde unterbrochen, als der Mann ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter gab.
„Ey Mann, du bist tot“, sagte der Mann und schenkte Gregor ein herzliches Lächeln.
Dieser sah ihn nur ungläubig mit großen Augen an.
„Ich... Ich bin tot?“, stammelte Gregor schließlich leise und wusste dabei nicht, was ihn mehr verwundern sollte: Die Nachricht seines Ablebens oder die Tatsache, dass er nach seinem Tod noch überhaupt stammeln konnte.
Der Mann lachte auf. „Naja, du hast seit 40 Jahren gequalmt wie ein Schlot. Dafür ist 83 echt ein stolzes Alter, mein Lieber.“
Gregor blickte wieder hinab auf seinen jetzt leblosen Körper als ein Arzt in das Krankenhauszimmer trat und mit seiner Familie sprach. „Wo bin ich? Und wer sind Sie?“
„Ich glaube das hier ist nicht der richtige Ort, um das zu besprechen.“
Der Mann schnippte mit den Fingern und die Abschiedsszene im Krankenhaus verschwand vor Gregors großen Augen.
Stattdessen fand er sich unter einem stahlblauen Himmel auf einem weißen Wolkenteppich wieder.
„Ich dachte die Kulisse hier passt besser. Das hier“, erklärte der Mann feierlich, „das ist der Himmel.“
Er breitete seine Arme aus und schritt voller Erhabenheit über den Wolkenteppich, wie ein stolzer König durch sein Königreich. Bis zum Horizont türmten sich weiße Wolken majestätisch auf und wurden von dem klaren Sonnenlicht in ein sanftes Lila getaucht.
Als Gregor prüfend über die weiche Pracht schritt, fiel ihm auf, dass ihm dies vollkommen unbeschwert gelang. Das letzte Mal, dass er ohne Anstrengung, Hilfe oder Schmerzen laufen konnte, war schon Monate – vielleicht Jahre her. Als er erstaunt an sich heruntersah, war die Wampe, die er sich in den letzten Jahrzehnten angefuttert hatte, verschwunden. Er trug auch nicht mehr das für Patienten obligatorische geblümte Nachthemd, das den Blick auf seinen verschrumpelten Allerwertesten freigab. Es war dem kurzärmligen Hawaiihemd gewichen, das er 1974 während seines Urlaubs in Florida gekauft hatte. Auch wenn seine Frau es schon immer hasste – für Gregor war es sein absolutes Lieblingskleidungsstück, da es einfach so verdammt bequem war. Zumindest war es das, bis seine Frau es „aus Versehen“ - wie sie immer beteuerte - zu heiß wusch und es so auf ein Drittel seiner Größe zusammenschrumpfen ließ. Das war jetzt ungefähr 25 Jahre her. Jetzt strahlten die gelb-blauen Blumenornamente wie am ersten Tag und das Hemd saß wieder wie angegossen.
„Ich bin wirklich tot. Mein Gott“, murmelte Gregor überwältigt.
„Ach, nenn' mich Freddie. Gott klingt immer so...“ Der Mann rümpfte die Nase und wippte den Kopf leicht hin und her.
„Du bist Gott?“
„Jap.“
„Ich dachte Gott...“
„Hätte einen weißen Bart und ein weißes Gewand. Stimmt's?“, unterbrach ihn Freddie mit einem fetten Grinsen. „Oh, und natürlich eine tiefe, sonore Stimme, mit der ich solche krassen Sachen sage, wie 'baue eine Arche, Noah' oder ähm 'spüre meinen Zorn!'“
Freddie setzte dabei eine strenge Grimasse auf und erhob drohend seine Faust, als er mit übertrieben tiefer Stimme sprach. Seine spöttische Nachahmung eines strengen Gottes endete aber in einem Glucksen, da er sich über seine eigene Imitation sehr zu amüsieren schien.
Wie Gott sah Freddie wirklich nicht aus. Er hatte kinnlanges, straßenköterblondes Haar und einen Fünftagebart, was weit weniger ehrwürdig wirkte als die weißgraue Mähne und der lange Bart, die Gregor für glaubwürdiger gehalten hätte. Auch war Freddie jünger als er sich Gott vorstellte. Wäre ihm Freddie zu Lebzeiten begegnet, hätte er ihn vielleicht auf Mitte 30 geschätzt. Tiefe Lachfalten gruben sich neben seinen grünen Augen in die leicht gebräunte Haut. Surflehrer oder Leadsänger einer Rockband - das hätte man Freddie sofort abgenommen. Aber Gott? Das passte so gar nicht. Auch seine Ausdrucksweise wollte nicht so recht ins Bild passen. Von dem allmächtigen Schöpfer der Welt hätte Gregor eine weitaus würdevollere Art zu sprechen erwartet. Ausdrücke wie „krass“ waren eindeutig nicht Teil dieser Erwartungshaltung. Und dann war da noch seine Kleidung. Dass Freddie nichts von weißen Gewändern hält, hatte Gregor bereits erfahren. Aber dass an deren Stelle ein aschgrauer Kapuzenpulli, Cargoshorts und und ausgelatschte Flip Flops traten, grenzte für seine Begriffe schon an Pietätlosigkeit.
Gregor sagte nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, diese neuen Eindrücke und Informationen zu verarbeiten. War er wirklich gestorben, um von einem Gott empfangen zu werden, der wie ein Barkeeper einer exotischen Strandbar wirkte? Hätte sich Gregor gerade nicht gerade beim Sterben zugesehen, um kurz darauf völlig unbeschwert und schmerzfrei durch eine weiche Wolkenwüste zu laufen, hätte er Freddie für einen übergeschnappten Spaßvogel gehalten. Herzlich und sympathisch, aber auf jeden Fall übergeschnappt.
Gregors musternde Blicke und sein skeptisches Schweigen blieben Freddie nicht verborgen.
Freddie rollte die Augen. „Na gut, pass auf...“ er kramte mit seiner linken Hand in einer der ausgebeulten Seitentaschen seiner Shorts. „Irgendwo hier muss doch... Ah, da ist es ja.“
Er zog ein zerknittertes Stück Papier, nicht größer als ein Taschentuch, hervor und reichte es Gregor.
„Ich habe darauf notiert, was der Sinn des Lebens ist. Die meisten sind danach überzeugt“, erklärte Freddie.
Er begann zu grinsen, als Gregors Augen über das Papier huschten und sich mit jeder Zeile erstaunt weiteten. Gregor senkte schließlich das Stück Papier ab und blickte Freddie tief bewegt mit großen Augen an.
„Na, überzeugt?“ schmunzelte Freddie rechthaberisch.
Das war Gregor allerdings.
„Ja...Du bist Gott.“, brachte er voller Demut hervor. Er war überwältigt von dieser einfachen, universellen Wahrheit, die allen Religionen, allen Problemen, allen Wünschen und Hoffnungen der gesamten Menschheit in der Vergangenheit, Gegenwart und in der Zukunft einen allumfassenden Sinn gab.
„Komm, wir gehen ein Stück“, schlug Freddie vor und legte seinen Arm auf Gregors Schulter.
Während ihres Spaziergangs durch die weißen Felder unterhielten sich die beiden über das Leben, den Tod und Freddie beantwortete alle Fragen, die Gregor hatte.
„Und ich komme also in den Himmel?“, fragte Gregor.
„Ja klar, Mann! Warum denn nicht? Warst doch 'n cooler Typ mit gutem Karma.“
Gregor lächelte erleichtert.
„Da wäre nur eine kleine Sache“, ergänzte Freddie mit zusammengekniffenen Augen und formte mit Zeigefinger und Daumen einen kleinen Kreis, wobei sich die Fingerkuppen noch nicht ganz berührten.
„Was denn?“
„Du bist doch Ingenieur, richtig?“
Gregor wunderte sich. Gott ist schließlich allwissend und sollte eigentlich wissen, was Gregor von Beruf war. Vermutlich war die Frage aber nur rhetorischer Natur.
„Naja, das war ich zumindest mal“, antwortete Gregor etwas wehleidig und versuchte dabei zu lächeln.
Freddie grinste und schnaubte durch die Nase. Scheinbar hatte er etwas übrig für diese Art von Galgenhumor.
„Ich war für die Wartung von Maschinen zuständig, habe Fehlerdiagnosen gestellt, Fehlerberichte erstellt und die Maschinen dann repariert“, ergänzte Gregor, während er einen kleinen Wolkenball mit den Füßen vor sich herkickte. „Was genau ist das denn für eine kleine Sache, für die du mich brauchst?“, fragte Gregor etwas verunsichert.
„Also es ist so. Ich habe den Menschen erschaffen und ich habe wirklich mein Bestes gegeben. Hab mich voll reingehängt, verstehst du? Aber ich bekomme ständig Gebete geschickt, in denen sich Menschen darüber beschweren, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt. Ich habe schon versucht, mich darum zu kümmern, aber so richtig krieg ich das einfach nicht hin. Gott ist halt auch nur ein Mensch.“
„Und wofür brauchst du mich dann?“, fragte Gregor.
„Ich weiß, dass du in deinem Job echt gut warst. Also so richtig gut! Und ich dachte mir, naja, ein Mensch ist einer Maschine ja nicht unähnlich. Du kennst dich mit Maschinen gut aus und kennst dich mit dem Menschsein aus! Du könntest mir mit ein paar Fehlerdiagnosen echt helfen, den Menschen zu verbessern“, erklärte Freddie und sah Gregor erwartungsvoll an.
„Also ich weiß nicht...“ murmelte Gregor etwas verlegen und trat den Wolkenball weiterhin vor sich her.
„Dein Ernst? Du stirbst, stehst Gott höchstpersönlich gegenüber, der dich um einen Gefallen bittet und du lässt dich bitten? Also echt, Mann...“
Gregor spürte einen Kloß in seiner Kehle, als er bemerkte, dass er wohl für einen Augenblick vergessen hatte, mit wem er hier entlangspazierte und stotterte sogleich eine hastige Entschuldigung.
„Oh Ja - nein. Tut mir leid, natürlich würde ich dir gerne helfen. Nur weiß ich wirklich nicht, wie ich das machen sollte“, ergänzte Gregor und versuchte sich zu erklären. „Ich habe zuletzt vor zig Jahren als Ingenieur gearbeitet und auch nur mit Maschinen und Geräten, die ich gut kannte. Ich wüsste gar nicht wie wo ich anfangen soll.“
Freddie schenkte Gregor ein beruhigendes Lächeln.
„Ich zeig's dir.“
Freddie hob seine linke Hand und schnippte abermals.
Gregor zuckte zurück, denn das letzte Mal wurde er mit dem Fingerschnippen in eine vollkommen andere Umgebung teleportiert.
Doch es geschah gar nichts.
Eine Mischung aus Verwunderung und Erleichterung schlich sich in Gregors Gesicht. Offensichtlich hatte dieser Trick nicht funktioniert. Andererseits wäre doch ziemlich töricht, anzunehmen, dass auch Gott nicht vom „Vorführeffekt“ verschont blieb.
„Ich verstehe nicht so recht“, murmelte Gregor. „Was genau möchtest -hick- du mir zeigen?“
Freddie blickte Gregor mit einem breiten Grinsen wortlos an und zeigte sich in keinster Weise davon beirrt, dass sein Fingerschnippen nicht zu funktionieren schien. Das Grinsen wurde nur noch breiter, als Gregor ihn verwirrt ansah.
Man konnte es förmlich in den sich erhellenden Augen Gregors sehen, als der Groschen nur kurz darauf fiel.
„Du hast mir -hick- einen Schluckauf verpasst!“
„Jep.“
„Und warum, wenn ich fragen -hick- darf?“ Die Erkenntnis in Gregors Stimme wich einem zunehmend genervten Unterton.
„Also, das war so“, holte Freddie aus. „Als ich den Prototyp des Menschen in meiner Werkstatt entworfen und zusammengebastelt habe, ist mir ein kleines Malheur passiert.“ Freddie kniff wieder die Augen zusammen und machte erneut die Geste mit Daumen und Zeigefinger. „Es ist vielleicht möglich, dass mir das Zwerchfell heruntergefallen ist. Es kann sein, dass es jetzt eine kleine Macke hat. Ich bin nur bis jetzt nicht so richtig dazu gekommen, das zu reparieren.“
„Und deshalb habe ich Schluckauf?“ Gregor war einigermaßen froh, einen Satz herausgebracht zu haben, der nicht durch das unfreiwillige Glucksen unterbrochen wurde.
„Deswegen haben alle Menschen Schluckauf. Der Fehler steckt ja schon im Prototypen.“
„Verstehe ich dich richtig? Du möchtest, dass ich -hick- solche Fehler wie den Schluckauf finde?“
„Jawoll! Du bist total clever, Mann! Wusste doch, dass ich mir mit dir den richtigen herhole“, lachte Freddie herzlich und legte den Arm um Gregors Schulter. Geschmeichelt sah Gregor auf seine Fußspitzen, die sich mühelos durch die weiche Wolkenmasse schoben und dabei Flocken aufwirbelten, die daraufhin davonstoben.
Die beiden gingen noch einige Zeit nebeneinander her und besprachen noch einige Details über Gregors zukünftige Aufgabe als „Fehlerfinder“, wie Freddie es salopp formulierte. Im Verlauf des Gesprächs erklärte Freddie, dass grundlegende Dinge, die zum Menschsein gehören, nicht verändert werden können: Unsterblichkeit, Immunität gegen Krankheiten, übernatürliche Fähigkeiten und Ähnliches waren damit vom Tisch. Nur allzu gern hätte Gregor die Menschheit von Krebs, AIDS, Kriegen und Hungersnot befreit. Freddies Aussage nach sei das dann aber eine vollkommen neue Spezies: „Ich müsste so viele Dinge ändern, da kann ich ja gleich ganz von vorne anfangen.“
Vielmehr waren es die kleinen Dinge, die relativ unkompliziert zu beheben sind. Dinge, die jeder Mensch kennt. Dinge, die jeder Mensch hasst. Dinge, die aber so belanglos sind, dass niemand sie als großes Problem wahrnimmt. Oder wie Freddie es zusammenfasste „Halt der ganze Kram der dich so nervt.“
Freddie reichte Gregor die Hand.
„Abgemacht?“
„Abgemacht.“
Die malerische Wolkenwüste, durch die Gregor und Freddie gerade noch wanderten, verschwand. Stattdessen fand sich Gregor in einer Küche wieder, in der er sich nun überrascht umsah. Der Raum erinnerte ihn an die Art Küche, wie man sie in Wohngemeinschaften angesagter Großstadtviertel oder womöglich auch in Künstlerateliers fand. Alles wirkte etwas zusammengewürfelt, leicht verwohnt, zweckmäßig und trotzdem sehr herzlich und sympathisch. Die Schränke versprühten mit ihren senfgelben Fronten den Charme der 70er. Der PVC-Fußboden in Schachbrettoptik stützte diese machte auch nicht gerade den Eindruck, als sei die Idee vom Cover der letzten „Schöner wohnen“. Vor Gregor stand ein Esstisch aus massivem Holz, an dem eine bunte Mischung aus verschiedenen Stühlen und Hockern standen, die so aussahen, als hätte man sie im Laufe der Jahre auf diversen Flohmärkten erstanden. Das Fenster gab zwischen den karierten Gardinen den Blick auf einen wild wuchernden Garten frei, in dem sich Tomaten und Sonnenblumen der Sonne entgegenstreckten. Der Raum war gespickt mit allerlei dekorativem Beiwerk wie goldenen Winkekatzen, einer Sammlung kleiner Kakteen auf dem Fensterbrett, einer Kuckucksuhr und etlichen Fotos. Gregor bevorzugte einen gesetzteren Einrichtungsstil mit klaren Linien. Trotzdem versprühte dieser Raum eine einladende Wärme, die ihn sofort in seinen Bann zog.
„Setz dich schon mal, ich mache dir einen Tee.“
Freddie stand an dem alten Herd und setzte einen mintgrünen Teekessel auf die Herdplatte.
„Das ist deine Küche, nicht wahr?“ Gregor war selbst erstaunt darüber, dass er diese Schlussfolgerung so schnell zog. Aber als er Freddie dort am Herd stehen sah, bestand für Gregor kein Zweifel mehr, dass dieser Mann hier wohnt. Es passte einfach.
Gregor setzte sich an den Tisch und ließ den Blick über die Fotos schweifen, die an der Wand hingen. Jetzt bemerkte er, dass ihn Freddie von jedem einzelnen Bild fröhlich angrinste. Auf einigen davon war er zusammen mit Personen zu sehen, die Gregor bekannt vorkamen. Ja, auf diesem zum Beispiel sah es so aus – nein, es war wirklich John Lennon, der neben Freddie stand. Auf dem nächsten hatte Freddie seinen Arm über die von Mutter Theresa gelegt. Auf einem anderen schüttelte er die Hand eines etwas verdutzt dreinblickenden Charles Darwin.
Freddie stellte den Teekessel mit dampfendem Earl Grey und eine Tasse vor Gregor auf den Tisch.
„Du wirst sehen, in meiner Küche lässt es sich super arbeiten. Falls du mich brauchst, ich bin draußen im Garten.“ sagte Freddie und schob Gregor ein paar leere Blätter und einen Stift hin.
„Alles, was mich so nervt...“, wiederholte Gregor murmelnd. Dann machte er sich an die Arbeit.
Es fing bereits an zu dämmern, als Freddie wieder in die Küche kam. Erwartungsvoll lehnte er am Türrahmen, warf seine Gartenarbeitshandschuhe auf die Küchenzeile und fragte mit einem Grinsen: „Und? Wie läuft's?“
„Ich schätze ich bin fertig.“
Der Zettel auf dem Tisch war nun vollgeschrieben, der Teekessel leer. Wie sich rausstellte, ließ es sich in Freddies Küche wirklich wunderbar arbeiten. Gregor hatte zunächst befürchtet, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein oder einfach keine Ideen für Verbesserungsvorschläge zu finden. Doch die Ideen sprudelten nur so. Es war, als ob dieser Raum – so einfach er auch war – die Kreativität und Konzentration bündelte.
„Na dann zeig mal her!“ forderte Freddie und setzte sich auf einen freien Stuhl neben Gregor.
Die Liste, die Gregor verfasst hatte, umfasste 24 Punkte. Gregor las einen Punkt vor, Freddie dachte kurz nach und entschied dann darüber, ob der jeweilige Vorschlag umsetzbar war oder nicht. Letzteres traf auf die meisten Punkte zu. „Wow, super Idee! Geht aber nicht, weil...“ bekam Gregor dann meistens zu hören. Mit den Begründungen konnte Gregor meist nicht viel anfangen. Mal müsse das „Seelengewicht“ grundlegend verändert werden. Ein andermal fehle der nötige „Moralkompass“, der noch nicht verfügbar sei. Oder aber die Gensequenz müsse geändert werden. „Und auf diese Tüddelarbeit kann ich gerne verzichten“, scherzte Freddie dann und strich den Punkt, der Allergien betraf, durch. Schade.
Was blieb, waren sieben Verbesserungsvorschläge.
„Also, dann wollen wir mal sehen“, fasste Freddie zusammen und las dabei die Textzeilen ab, die er nicht durchgestrichen hatte. „Erstens: Der Gedächtnisfehler, der eintritt, wenn man einen Raum betritt und vergessen hat, warum. Ja, das ist machbar. Zweitens: Gliedmaßen schlafen ein, sobald man ungünstig sitzt oder liegt. Auch kein Problem. Drittens: Gelegentliches Auf-die-Zunge-beißen kann auch repariert werden – ist nur ein kleiner Eingriff. Viertens: Ständiges Stoßen des kleinen Zehs an Tisch- und Stuhlbeinen. Das kriege ich bestimmt auch hin. Fünftens: häufig mangelnde Motivation oder Selbstdisziplin insbesondere bei Sport oder Diät. Ich schätze, dass ich da die ein oder andere Stellschraube noch finde. Sechstens: Ohrwürmer setzen sich im Gehirn fest und stören das Einschlafen. Siebtens: das ist natürlich der Schluckauf.“
Freddie trommelte mit den flachen Händen auf den Tisch und lehnte sich zufrieden zurück.
„Echt genial, lieber Gregor.“ Er nickte Gregor anerkennend zu.
„Das war's?“ Fragte dieser erstaunt. Er hatte nicht das Gefühl, hier wirklich hart gearbeitet zu haben, oder der einzige zu sein, der diese überschaubare Aufgabe hätte bewältigen können. Trotzdem war es natürlich ein schönes Gefühl, von Gott gelobt zu werden.
„Das war's. Also zumindest bis hierhin. Jetzt ist da nur noch eine winzige Kleinigkeit, bis ich die Änderungen auch wirklich umsetzen kann.“ Und da waren sie wieder – die zusammengekniffenen Augen. So wie Freddie es sagte, ließ Gregor vermuten, dass es sich nicht nur um eine Kleinigkeit handelte.
„Ich muss die Änderungen noch Satan vorlegen, bevor ich damit starte. Nach Paragraph Was-weiß-ich des Nirwana-Gesetzbuchs muss ich ihr auch noch das Recht für Änderungsvorschläge geben.“
Damit hatte Gregor nicht gerechnet. Der Gedanke, dass Gott und Satan offensichtlich zusammenarbeiten, wollte ihm so gar nicht gefallen. Was ihn jedoch noch mehr durcheinanderbrachte, war wie Freddie es sagte: Er musste IHR auch das Recht für Änderungsvorschläge geben. War Satan etwa weiblich?
Gregor hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gebrachte, da hörte er, wie die Haustür ins Schloss fiel. Schlüssel klapperten im Flur und das Klacken von hochhackigen Schuhen näherte sich der Küche.
Aufgeschreckt drehte Gregor den Kopf herum. In der Tür stand eine junge, attraktive Frau. Ihre dunklen, glänzenden Haare waren streng zu einem Pferdeschwanz gebunden. Zwischen den hohen Wangenknochen saß eine zierliche, spitze Nase. Grüne Augen blitzten ihn durch eine Brille mit dickem schwarzen Rahmen an. Die knitterfreie weiße Bluse und der schwarze Bleistiftrock ließen die Fremde wie ein hohes Tier aus der Finanzbranche wirken, das nervöse Praktikanten zum Frühstück frisst. Obwohl die junge Dame zweifellos sehr hübsch war, wirkte sie ebenso kühl. Für Gregor bestand kein Zweifel. Dieses absolute Gegenteil von Freddie - beziehungsweise Gott - musste Satan sein.
„Wenn man vom Teufel spricht!“ stieß Freddie aus, stand auf und reichte der jungen Frau die Hand. Gregor fragte sich, ob das Wortspiel beabsichtigt war.
„Das ist ist er also“, entgegnete die Fremde und lies Gregor nicht aus den Augen, als sie Freddies Hand schüttelte.
„Darf ich vorstellen? Vanessa, Gregor, Gregor, Vanessa.“
Freddie verzichtete auf den förmlichen Titel „Satan“. Offenbar ging er bereits davon aus, dass Gregor genau wusste, wer ihm hier gegenüberstand.
Unsicher darüber, wie er den Teufel zu begrüßen hatte, stand Gregor langsam von seinem Stuhl auf, hob grüßend seine Hand und stammelte ein zurückhaltendes „Hallo.“
Genervt von Gregors Unsicherheit rollte Vanessa die Augen. Sie schien ohnehin kein großes Interesse an ihm zu haben, denn sie schritt nun selbstbewusst zum Küchentisch, wo die Liste mit Gregors Verbesserungsvorschlägen lag. Wortlos begann sie die etwas durcheinander geratenen Aufzeichnungen zu lesen, schüttelte zwischendurch sachte den Kopf oder lachte herablassend auf.
„So so“, beendete Vanessa ihre Lektüre. „Sieht so aus als wäre dein Freund Gregor recht fleißig gewesen.“ Sie zwinkerte Gregor zu, der Vanessas bohrenden Blicken nur schlecht auszuweichen vermochte.
„Dann würde ich jetzt gerne auch ein paar Änderungswünsche zu Protokoll geben.“ Vanessa setzte sich auf den Stuhl neben Gregor, zog das Stück Papier zu sich heran und nahm den Stift in die Hand, ohne auf eine Antwort von Freddie zu warten.
„Ihr habt sieben Vorschläge aufgeschrieben, dann wäre es ja nur fair, wenn ich auch sieben Vorschläge einreiche, nicht wahr?“ Vanessa runzelte die Stirn und sah Freddie entwaffnend an.
„Ja klar, schätze schon“, antwortete dieser mit einem Schulterzucken und setzte sich mit einem Schwung auf die Küchenzeile neben den Herd.
Es folgte eine Verhandlung zwischen Vanessa und Freddie, die an das Feilschen auf einem Bazar erinnerte: Vanessa stellte eine Forderung, Freddie machte einen Gegenvorschlag, man traf sich in der Mitte und Vanessa hielt das Ergebnis schriftlich fest. Gregor kam sich unterdessen vor wie das fünfte Rad am Wagen. Er verfolgte lediglich die Verhandlung und wagte es in Vanessas Gegenwart nicht, sich in irgendeiner Weise bemerkbar zu machen. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen und wartete geduldig ab.
Nach einer Weile hatten sich die beiden geeinigt.
„Ich bekomme also Folgendes“, begann Vanessa, holte tief Luft und las vor.
„Eine Erhöhung des Niesreizes, ohne wirklich zu niesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Stück Essen zwischen den Zähnen verfängt, wird um 10 Prozent erhöht. Jeder Mensch vergisst den Namen einer neuen Bekanntschaft mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent. Das Durchschnittsalter für beginnenden Haarausfall wird um ein Jahr verringert. Jeder Mensch hat mindestens ein Mal im Quartal einen Alptraum. Der Hexenschuss tritt ab jetzt häufiger auf. Und zu guter Letzt wird es ab sofort schwieriger, sich das Rauchen abzugewöhnen.“
Damit war die Verhandlung beendet. Vanessa stand auf, bedankte sich bei einem etwas missmutig dreinblickenden Freddie für die Gastfreundschaft, verabschiedete sich von Gregor mit einem unheilvollen Lächeln und stöckelte zur Tür hinaus.
„Sorry, ich weiß es ist echt frustrierend, aber so läuft es leider“, entschuldigte sich Freddie bei Gregor, der noch immer auf seinem Stuhl saß.
„Ach du wirst schon wissen, was du tust“, antwortete Gregor und brachte dabei ein leicht gequältes Lachen hervor. „Wie geht es jetzt weiter?“, fügte er hinzu und sah Freddie erwartungsvoll an.
„Gregor, ich bin dir echt dankbar für deine Hilfe. Ich möchte mich gerne bei dir revanchieren.“
„Ach, das habe ich doch gern -“ unterbrach ihn Gregor, aber Freddie winkte ab und fuhr fort.
„Nein, im Ernst, ich möchte mich revanchieren. Du hast die Wahl: entweder kommst du jetzt sofort in den Himmel und kannst hier oben chillen oder du wirst wiedergeboren und kannst auch ausprobieren, wie es sich mit den Veränderungen so lebt. Was meinst du?“
„Ich glaube meine Antwort kennst du bereits“, lächelte Gregor.