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Memoiren eines Neurochirurgen 03 - Die Psychiatrie
Ich habe eine sehr vielfältige Laufbahn hinter mir, was wohl auch damit zusammenhängt, daß es mich nie länger als 2 Jahre an ein und dem selben Arbeitsplatz gehalten hat.
Meine allererste bezahlte Stelle hielt sogar nur 3 Monate.
Sie war in einem kleinen Ort am Rhein, direkt gegenüber Duisburg. Dieser Bauernhof mit Fußgängerzone ist – wenn überhaupt jemandem – vorwiegend als Geburtsstätte von Claudia Schiffer bekannt, aber es gibt da auch jene Institution, wo ich gearbeitet habe, und das ist eine Psychiatrie.
Auf der geschlossenen Abteilung gab es zwei Patiententypen: Die Alkoholiker, die zum Entzug mehr oder freiwillig da waren, und die Schizophrenen. Letztere waren definitiv die interessanteren Leute.
Man sagt ja häufiger mal über Menschen, die einem im Alltag begegnen, daß sie verrückt seien. Nun, ich hatte das Vergnügen, echte Verrückte kennenzulernen und gehe seitdem mit dieser Bezeichnung vorsichtig um.
Schizophrenie, oder auch endogene Psychose, wird im Volksglauben oft gleichgesetzt mit der gespaltenen bzw. multiplen Persönlichkeit, es handelt sich hierbei jedoch um nicht mehr und nicht weniger als eine Störung des Dopaminstoffwechsels im Gehirn, durch welche die betroffenen Patienten sich und ihre Umgebung verändert wahrnehmen und selbst die absurdesten Ideen als real erleben. Solche sogenannten Wahnideen reichen von der Vorstellung, vom Nachbarn durch die Glühbirne beobachtet zu werden bis zur Überzeugung, Jesus zu sein.
Da war zum Beispiel Frau Jevers, die meinte, sie sei hier nur zur Kur, und in mir sah sie ihren seit drei Jahren verstorbenen Bruder, weshalb sie mich duzte. Außerdem gab es da eine Verschwörung, über die ich allerdings nie irgendwelche Details erfuhr. Eine harmlose kleine Frau Mitte Vierzig. Als ich gerade drei Wochen da war, nahm sie im Speisesaal eine Mineralwasserflasche und sagte: „Ach, da ist ja mein kleines Baby.“
Dann schlug sie mit der Flasche einer Schwester von hinten auf den Kopf.
Wir haben nie erfahren, was Frau Jevers gemeint hat, aber die Schwester war danach für sechs Wochen nicht im Dienst. Platzwunde und Gehinerschütterung. Als sie wiederkam, meinte Frau Jevers nur: „Na, auch wieder da?“
Herr Diebald war groß und hager, trug eine blaue Baseballmütze und beidseitig Ohrringe. Er war von der Polizei hergebracht worden, nachdem er merkwürdige Schriftzüge auf Häuser gesprüht hatte. Er erläuterte mir die Sache bereitwillig:
„Im Schaufenster waren Fernseher, und die berichteten über mich, wie tüchtig ich sei. Da bekam ich plötzlich eine Riesenangst, daß die mich zum Bundeskanzler machen wollen. Aber das wollte ich nicht, deshalb hab ich an die Wand gesprüht: Es lebe Helmut Kohl!“
Frau van Husch. Sie war gerade mal achtzehn und sehr hübsch. Ihr Vater kontrollierte sie auf telepathischem Wege, und ihre schulischen Leistungen waren stark abgesackt. Während des Aufnahmegesprächs in meinem Zimmer lief sie unruhig auf und ab. Um sie besser im Auge zu behalten, hatte ich mich auf die Tischkante gesetzt.
„Herr Doktor“, sagte sie plötzlich, „Ich kann ohne Sie nicht sein. Bitte – schlafen Sie mit mir.“
Unter anderen Umständen hätte ich das sicher gerne getan, denn sie war, wie schon gesagt, sehr hübsch.
Nachdem ich ihr Angebot abgelehnt hatte, bekam sie einen glasigen Blick und erbrach eine braune Substanz auf meine weissen Schuhe.
Frau Azif hatte ihren Namen von der Heirat mit einem Araber, war selbst jedoch eine typische pommesgestählte Ruhrpottbewohnerin. Ihre Diagnose lautete nicht Schizophrenie, sondern manisch-depressive Psychose. Eingewiesen war sie wegen ihrer manischen Phase, in welcher ein Patient typischerweise dazu neigt, sich zu überschätzen und allerlei Unfug dabei anzustellen. In dieser Hinsicht war Frau Azif ein besonders schwerer Fall. Sie mußte jeden Tag dringend nach Hause, sei es, weil sie an der Börse die todsichere Geldanlage erträumt hatte, oder weil ihr Theaterstück von Bernd Eichinger verfilmt werden sollte. Ähnlich wie Frau von Husch sah sie in mir einen potentiellen Liebhaber, allerdings nur auf rein geschäftlicher Basis. Leider mußte ich die mir angebotenen hunderttausend Mark plus die Hauptrolle in ihrem Film ausschlagen, weshalb Frau Azif sich schon bald Ersatz suchte, und diesen in Herrn Diebald fand.
Die Aufgabe, die beiden am regelmäßigen Beischlaf zu hindern, erwies sich als unschaffbar. Dazu hätte die Station nach Geschlechtern getrennt werden müssen. Die üblichen und nahelisgendsten Methoden waren nicht durchführbar. Einschließen in Einzelzellen wäre eine Menschenrechtsverletzung und gesetzlich nicht gedeckt, und Rausschmiß mit Verweis auf die Hausordnung war auch nicht möglich, da sie auf Gerichtsbeschluß hin bei uns waren. Verhütungsmittel konnten wir ebenfalls nicht zur Verfügung stellen, da dies uns später juristisch als billigendes und bestärkendes Verhalten hätte angelastet werden können. – Also mußte Herr Azif, der seine Frau einen Monat später zurückbekam, sich neben der depressiven Phase auch noch mit einer unehelichen Schwangerschaft herumschlagen.
Der verrückteste von allen war jedoch mein Oberarzt. Er hatte einen faschistoiden Führungsstil und war besonders empfindlich, wenn die Krankenakten Fehler aufwiesen oder Eintragungen nicht zeitnah erfolgten. Dann schrie er herum, daß wir alle mit einem Bein im Gefängnis stünden und warf mit kleinen Gegenständen.
Und er hatte einen Tic. Er kniff immer ein oder beide Augen zu, wenn er redete. Seine Gesichtsgymnastik schien nur auf eine Vertonung durch Strawinsky zu warten, es war furchtbar. Vor allem, da ich immer zu lachen drohte, wenn wir uns unterhielten.
Überhaupt war mein Hauptproblem, daß ich alles in dieser Institution irgendwie urkomisch fand und zum Schluß nichts und niemanden mehr ernst nehmen konnte. Deswegen füllte ich eines Tages auch einen Fragebogen vom Sozialamt, welches der Kostenträger eines Patienten war, auch so aus, wie man solche Fragebögen, die in hahnebüchenem Deutsch abgefaßt sind, grundsätzlich ausfüllen sollte. Ich erinnere mich leider nicht mehr genau an den Wortlaut der Fragen und meiner Antworten, aber ich weiß noch, daß sie ausreichten, mir die Kündigung in mein Postfach zu bescheren.
Aber das juckte mich nicht, denn ich hatte schon längst die Zusage für eine andere Stelle in einer anderen Stadt in einem anderen Fachgebiet. Die elitäre Welt der Neurochirurgie wartete auf meine geschickten Hände.
Den Schlüssel für die geschlossene Abteilung habe ich allerdings immer noch. An manchen Tagen male ich mir aus, was ich damit alles anstellen könnte, wenn ich wollte.
Hehe.