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Memoiren eines Neurochirurgen 02 - Eine andere Klynik
Viele Leute, die ich bislang in meinem Leben kennengelernt habe, sehen Prominenten ähnlich. So besaß mein früherer Chefarzt Dr. Hoolen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem ewig bedröppelt dreinblickenden TV-Pfarrer Jürgen Fliege. Auch seine Art mit Patienten zu reden, war dieselbe. Ich kann ihn übrigens sehr empfehlen, wenn Sie mal an der Bandscheibe oder an einem Hirntumor operiert werden müssen. Hoolen hat goldene Hände. Er war außerdem von allen meinen Chefs der angenehmste, was allerdings soviel heißt, wie das beste Fußballteam Grönlands zu sein.
In dem Krankenhaus an der Ruhr, dessen Namen ich zur Vorbeugung von Millionenklagen nicht nenne, gab es eigentlich keinen Chefarzt und keine Oberärzte. Flache Hierarchie. Es gab nur Fachärzte und Assistenten. Und mich, den A.I.P.
Der AIP, auch Arsch im Praktikum genannt, ist jemand, der sein Medizinstudium beendet hat und Arzt ist, aber aufgrund im Suff verfaßter Landesgesetze nur ein Drittel des Gehaltes eines „normalen“ Arztes bekommt (heutzutage 800 Euro pro Monat). Das geht 18 Monate lang so, dann kriegt er den Ritterschlag – und zumeist auch einen Fußtritt, denn wozu einen teuren Assistenten beschäftigen, wenn man einen billigen haben kann?
Mein ritterlicher Fußtritt war damals aber noch weit in der Zukunft.
Wo war ich doch gleich? Ach ja, die Hierarchie. Nun war es zwar so, daß es in der Klinik die Bezeichnung Chefarzt und Oberarzt nicht gab, aber jede Abteilung besaß einen sogenannten „leitenden Facharzt“. Und so einer war Dr. Hoolen.
Aber nicht über ihn will ich heute erzählen, sondern über seinen Kollegen, Dr. Kanapka. Das war der zweite Facharzt in unserer Abteilung; ein Pole aus Polen, der jedoch darauf bestand, Ostpreuße zu sein und eigentlich Knappke zu heißen. Er hatte schulterlanges, schwarzes Haar und eine Adlernase und neigte zu cholerischen Anfällen. Insbesondere, wenn man ihn mit „Oberarzt“ anredete.
Die erste Operation mit ihm erlebte ich etwa eine Woche nach meiner Einstellung, und sie glich einer Achterbahnfahrt. Es war eine Bandscheiben-Operation, und der geneigte Leser sollte darüber wissen, daß man hierbei nach Aufschneiden der Haut und der Rückenmuskulatur im Prinzip nicht viel mehr macht, als solange von der knöchernen Deckplatte der Wirbelsäule mit einer kleinen Zange Gewebe abzuknabbern, bis man die Nervenwurzel sieht. Die zieht man dann mit einem Häkchen vorsichtig beiseite, und dann blubbt einem schon der Bandscheibenvorfall entgegen. Man muß ihn nur mit einer kleinen Zange fassen und herausziehen. OP fertig. Zunähen natürlich nicht vergessen.
Die Aufgabe des Assistenten ist hierbei hauptsächlich, die Gewebestückchen von der Knabberzange (Stanze genannt) nach jedem Biß abzuwischen.
Kanapka arbeitete allerdings mit der Geschwindigkeit eines tollwütigen Piranhas, so daß ich keine Chance hatte, die Gewebestückchen abzuwischen. Er entledigte sich ihrer, indem er die Stanze nach jedem Biß kräftig ausschüttelte. Die Gewebestückchen landeten auf diese Weise überall im OP, nur nicht im dafür vorgesehenen Lappen. Der Narkosearzt, der dies schon kannte, hatte sich mit seiner Zeitschrift unter eine grüne Decke gehüllt, aber die OP-Schwester und ich waren dem Regen aus Fett, Bindegewebe und Knochen hilflos ausgeliefert.
„Nicht so langsam!“ brummte Kanapka mir gelegentlich zu und schickte dem ganzen ein sonores „Kurrwa maschki!“ hinterher.
Noch während ich mich fragte, ob Armageddon über mich gekommen war, klaffte schon ein riesiges Loch in der Wirbelsäule. Kanapka rammte die Faßzange in den Zwischenwirbelraum und förderte ein riesiges, quallenhaftes Gebilde zutage, welches unmöglich nur ein Bandscheibenvorfall sein konnte.
Es war vielmehr die halbe Bandscheibe, und schon landete sie in meiner Handfläche, die reflexartig zuschnappte und das Ding ins Versandröhrchen steckte. Nicht auszudenken, wenn es auf den Boden gefallen und ein unachtsamer Wanderer darauf ausgerutscht wäre...
Während seine Hände wirbelten, fand Kanapka auch noch die Muße, sich mit mir zu unterhalten.
„Haben Sie Kinder?“
„Einen Sohn“, sagte ich. Damals war meine Tochter noch nicht auf der Welt, das kam erst drei Jahre später.
„Ich habe eine Tochter“, fuhr Kanapka fort. „Drei Jahre alt. Meine Frau liest ihr klassische Märchen vor. – Machen Sie das auch?“
„Sicher“, log ich.
„Meine Tochter hat mich neulich gefragt, was ein Prinz ist. Und ich hab ihr gesagt, das ist ein Verbrecher. – Stimmt doch, oder?“
„Äh...“
„Könige, Grafen, Prinzen: Alles Verbrecher! Diebe und Mörder! Man muß doch nur das Geschichtsbuch aufschlagen. Kriege, Unrecht, Sklaverei. Kurrwa maschki! Sehen Sie doch auch so, oder?“
„Na ja, ich...“
„Machen Sie zu!“ Kanapka drehte sich auf dem Absatz um und verließ den OP-Saal wie ein selbstzufriedener russischer Stardirigent.
Ich war zugegebenermaßen etwas verwirrt. Dann drückte mir die OP-Schwester die Klemme mit der Nadel in die Hand. Ich sollte offenbar die Wunde zunähen.
Na gut, warum nicht? Das war eine gute Gelegenheit, es mal zu lernen. Dachte ich zumindest. Leider waren sowohl die Schwester als auch der Narkosearzt ungeduldig. Während sie lediglich mit den Augen rollte und demonstrativ mit den Fingern klopfte, fragte er immer wieder, warum das so lange dauerte, und daß zu lange Narkosen „gesundheitlich belastend“ seien.
Also beeilte ich mich, die erste Hautnaht meines Lebens nicht nur gut, sondern auch schnell zu erledigen, was später eine Beschwerde des Patienten an die Klinikleitung zur Folge hatte. Wie gut, daß nicht ich als Operateur eingetragen war.
Wie ich im Laufe der nächsten 17 Monate erfahren sollte, war das noch eine sehr harmlose Episode gewesen. Kanapka besaß eine Neigung dazu, den OP-Saal mit polnischen Flüchen zu füllen und mit Instrumenten um sich zu werfen. Wo andere Operateure dem Assistenten mitteilen, daß sie stärker oder schwächer am Haken ziehen sollen oder das Licht nachstellen sollten, bevorzugte Kanapka es, einem schmerzhaft auf die Finger zu klopfen, jeweils mit dem Instrument, das er gerade in der Hand hatte.
Die Allergie gegen die Bezeichnung Oberarzt hatte Kanapka erworben, nachdem der alte leitende Oberarzt in Rente gegangen war, und er sich Hoffnungen gemacht hatte, nun selbst den Posten einzunehmen. Aber Hoolen war ihm vor die Nase gesetzt worden, der große Fachmann aus der Hamburger Uniklinik.
„Komisch war er ja schon immer etwas“, meinte Frau Wassenheim, die Sekretärin unserer Abteilung, „aber“ – sie senkte die Stimme zum verschwörerischen Flüsterton – „so richtig schlimm ist er eigentlich erst, seit man ihn übergangen hat!“
Mitte Juni suchte ich Herrn Scheel, einen Patienten, der erst zwei Tagen zuvor an einem Frontallappentumor operiert worden war, und im Laufe des Vormittags aus seinem Zimmer verschwunden war. Mein Kollege van Appeldorn gab mir dann den entscheidenden Hinweis, daß ich in der Caféteria suchen sollte.
„Denkst du, er hat ein Frontallappensyndrom?“ fragte van Appeldorn.
„Eigentlich nicht“, erwiderte ich. „Gestern bei der Visite kam er mir eigentlich ganz normal vor. Was natürlich durchaus erstaunlich ist wenn man bedenkt, daß Kanapka ihm den ganze linken Frontallappen entfernt hat.“
„Nun, ich finde schon, daß er ein wenig fröhlich ist“, meinte mein Kollege und ging wieder an seine Arbeit.
Van Appeldorn, ein Holländer, war übrigens auch so einer, der mich an jemand erinnerte, und zwar an Rutger Hauer. Und seine Frau sah aus wie Julia Roberts. Von solchen Leuten läßt man sich doch gern operieren. Nur, daß van Appeldorn nichts zu operieren bekam, und ich auch nicht und sonst keiner, solange Hoolen und Kanapka miteinander darum konkurrierten, wer zum Jahresende mehr Schnitte in seiner Statistik hatte. Mit ein Grund, warum ich nach Ablauf meines Vertrages nicht allzu traurig war, diesen Ort zu verlassen. Aber ich schweife ab.
Ich fand Herrn Scheel tatsächlich in der Caféteria, wo er sich ein Stück Apfelkuchen bestellte hatte und nun genüßlich verspeiste. Sein Gemächt zeichnete sich deutlich durch die blutige Schlafanzughose ab und wirkte aufgequollen, was daran liegen mochte, daß der Patient nicht daran gedacht hatte, die Blockierung aufzuheben, als er sich den Katheter selber zog. Aber das war wahrscheinlich egal, denn die Aufmerksamkeit wurde ohnehin abgelenkt durch den nach oben gerutschten Verband, der nun eine bizarre rote Pyramide auf dem Haupt bildete.
Erwähnte ich schon, daß er eine gewisse Ähnlichkeit mit Anthony Hopkins besaß?
„Sie sollten die ersten Tage wirklich auf Ihrem Zimmer bleiben“, rügte ich den Mann. „Sie haben eine schwere Operation hinter sich, Ihr Stoffwechsel noch nicht wieder unter Kontrolle und die Wunde ist auch noch nicht verheilt. Wenn Sie uns irgendwo im Flur umkippen, wo Sie keiner sieht, kann das Ihr Ende sein!“
„Jaja, Herr Doktor, ich weiß, sie machen sich nur Sorgen“, erwiderte Scheel in einem singenden Tonfall, wie ihn sonst nur gewisse Drogenkonsumenten gebrauchen. „Aber in meinem Zimmer ist es langweilig, und außerdem kann ich das Radio nicht abstellen.“
In Scheels Zimmer gab es kein Radio. Ich wartete ab, bis er mit dem Apfelkuchen fertig war und geleitete ihn ins Zimmer. Ich wechselte den Verband und schrieb dem Urologen einen Konsilschein. Dann benachrichtigte ich den Operateur, und er kam.
„Na, wie gät es Ihnen?“ fragte dieser Scheel.
„Guut, sehr gut“, erwiderte dieser. „Es ist alles wunderschön. Wann kann ich denn nach Hause?“
„Ein paar Tage werden Sie noch warrten müssen“, sagte Kanapka. „Wenn Ihre Wunde verheilt ist und die Laborwerte gutt, rreden wir nochmal. In Ordnung?“
„Danke schön, Herr Oberarzt.“
Kanapka ließ sich nichts anmerken, aber ich sah, wie sich eine dicke Vene auf seiner Stirn bildete, und ich wußte, warum.
Als wir auf dem Flur waren, fragte ich ihn zur Ablenkung, wie es denn sein könne, daß jemand einen so großen Substanzverlust seines Vorderhirns ohne größere Schäden überstehen konnte.
„Gehirrn ist wie Kürrbis“, sagte Kanapka. „Kann man viel wegschneiden. – Was viel problemattischer ist, sind die Nerven. Einmal durchtrennt, und dann ist man so“ – er schnitt eine Grimasse, indem er mit der Hand seine linke Gesichtshälfte nach unten zog.
„Oder so“ – er schnitt eine andere Grimasse.
„Oder so – oder so – oder so – Kurrwa maschki!“
Damit lief er in sein Büro und knallte die Tür hinter sich zu.
Am Nachmittag holte ich aus dem Sekretariat die Monatsplanung für die Nachtdienste ab. Die Pläne waren Sache der Fachärzte, auch wenn man als Assistent bzw. AIP auf einem öffentlichen Aushang seine Wünsche eintragen konnte. Hoolen und Kanapka wechselten sich mit dieser Aufgabe ab.
In diesem Monat war offenbar Kanapka dran, denn ich entdeckte eine Kritzelei von ihm auf der Rückseite. Genauer gesagt, eine Art Diagramm, wo Worte in Kästchen gerahmt und mit Pfeilen und Linien verbunden waren: Oberarzt / Unterarzt / Untermensch / Obermensch / Kaiser.
Nachdem ich mich damit arrangiert hatte, daß Kanapka irre war, kamen wir ganz gut miteinander aus, und er lud mich und meine Frau einmal sogar zu sich nach Hause ein. Er spielte übrigens in einer Band Kontrabass.
„Was ist es denn für Musik?“
„Jazz.“
Sie hatten sogar eine CD herausgebracht, die man bei Karstadt kaufen konnte. Kanapka ließ es sich nicht nehmen, mich an einem Samstag Nachmittag an diesen Ort zu schleifen und mich dazu zu überreden, diese CD zu kaufen.
„Wenn Sie mein Freund sind, müssen Sie mich unterstützen, oder?“
Als ich die CD zu Hause einlegte, war ich gespannt. Und nachdem ich die ersten Klänge hörte, verwirrt. Es war eine heillose Kakophonie irrationaler – Geräusche. Ich könnte nun sagen, man nehme eine Gruppe von Einjährigen, drücke ihnen Gegenstände in die Hand, mit denen man Krach machen kann, und das Ergebnis hörte sich so an wie diese CD. Aber damit täte ich den Einjährigen Unrecht.
Ich habe die CD später bei irgendeinem meiner häufigen Umzüge verloren. Interessanterweise hat Kanapka mich nie gefragt, wie sie mir gefallen habe.
Niemals.
Ich bin, seit ich von der Klinik weg bin, aus verschiedenen Gründen häufig an Kanapkas Haus in der Innenstadt von Bochum vorbeigekommen, und ich habe mich manchmal gefragt, was er wohl heute so treibt. Aber ich habe es nie gewagt, bei ihm zu klingeln.
Als ich Jahre später „Harry Potter“ im Kino sah, sah ich Kanapka wieder, und zwar in der Rolle des sinistren Professor Snapes. Aber das ist eine andere Geschichte.