Memento mori
Ich war ein Kind. Ich lief am Fluss entlang. Die Füße im kühlen Wasser, aber nie weit genug vom Ufer entfernt, um zu schwimmen. Ich fand einen seltsamen Stein, der anders war, als die zahllosen anderen Steine, auf die ich trat. Ganz unerwartet und überraschend hatte dieser meine Aufmerksamkeit erregt. Er war wunderschön und sein Glanz überwältigte mich. Doch als die Sonne den Stein mit ihrem Licht umhüllte, begann er mich zu blenden. Ich bekam Angst, weil ich glaubte erblinden zu müssen. Den Stein schleuderte ich weit von mir ins Wasser zurück. Die Strömung trieb ihn fort und als er verschwunden war, blickte ich in meine leeren Hände und begann zu weinen.
Eine alles umfassende, unergründliche Tiefe. Unbegreiflich für den menschlichen Verstand und doch präsent. In einem verwirrenden Netz der Gedanken kaum greifbar, aber dennoch verewigt in einem endlosen Strudel der Gefühle, seit Anbeginn der Zeit. Überwältigend, vollkommen. Keine mysteriöse, finstere Kälte, ich fühle unbeschreibliche Wärme, Geborgenheit, Vertrauen. Liebe? - Benebelte Sinne, Versuche des Begreifens.. Alles beginnt zu zerrinnen als ich es mit meinem Verstand zu begreifen versuche.
Der Dunst hing schwer über dem schmutzigen Grau der heruntergekommenen Gebäude, die ich durch das Fenster erblicken konnte.
Meine ersten Eindrücke, als ich in der Frühe die Augen öffnete, wurden erstickt von dem stetigen Geräusch meines Weckers, dessen hohes, in regelmäßigen Abständen ertönendes Piep Piep sich in mein Bewusstsein bohrte, beinahe so nervig wie ein Presslufthammer. Ohne meinen Kopf in seine Richtung zu drehen, tastete ich mit meiner ausgestreckten Hand nach dem Schalter, der mich von diesen belästigenden Tönen erlösen, und mir einen Augenblick die Stille verschaffen würde, die ich benötigte, um Atem zu schöpfen und meine Gedanken zu ordnen. Ich zog die viel zu dünne Bettdecke über meinem Kopf, besann mich jedoch noch im gleichen Moment, riss mich zusammen, und schwang meine Füße über die hölzerne Bettkante. Unangenehme Kälte wand sich um meine Beine, als ich den alten, verschmutzten Bettvorleger berührte.
Mit einer kraftlosen Armbewegung fuhr ich mir über die Stirn, als könnte ich damit das plötzlich aufkommende Gefühl loswerden, das mich in diesem Moment zu überwältigen drohte, die dumpfe beklemmende Ahnung, dass mein Leben, so wie ich es kannte aus den Fugen geraten war, um schließlich vollends zusammenzubrechen. Die Erinnerungen an die vergangenen Stunden und die Erkenntnis der Gegenwart folgten in einer gnadenlosen Klarheit.
Ich wusste was zu tun war. Mein gestern gefasster Entschluss heimzukehren stand nach wie vor, und so verließ ich, nachdem ich meine wenigen Kleidungsstücke eingepackt und all den formellen Kram hinter mich gebracht hatte, die schäbige Herberge.
Ein verbittertes, sarkastisches Lächeln umspielte meine Lippen, als ich - die Blicke auf den Boden gerichtet - meinen Weg in Richtung des Bahnhofs einschlug. Ich konnte es einfach nicht fassen! Was ich getan hatte, und nun .... all dies schien so unwirklich zu sein, wie ein im Licht des Morgens verblassender Albtraum. Nur stand mir das Geschehene klar vor Augen, nichts von dem wollte verschwimmen. Dies war die Realität, und sie lastete schwer auf mir, nahm mir die Luft zum Atmen und trieb mir Tränen der Verzweiflung in die Augen. Ich konnte nichts am Lauf der Dinge ändern, konnte die Zeit nicht zurückdrehen und noch einmal von vorn anfangen.. - Klappe, die Zweite: ein erneuter Versuch mein Leben nicht zu vermasseln und meine unerwünschte Existenz sinnvoll zu nutzen - Doch so funktionierte es nicht. Die unabänderliche Chronologie des menschlichen Erlebens vernichtete jeden aufkeimenden Hoffnungsschimmer.
Dabei schien mir die Tatsache, dass sich die Menschen mit Selbstverständlichkeit in die Gesellschaft, den Alltag eingliederten, einfach lebten und die Definition eines mehr oder weniger erfüllten Daseins auf ihr eigenes Leben übertragen konnten, wie eine Bestätigung meiner eigenen Unzulänglichkeit und Schwäche.
Bis vor Kurzem hatte ich ein in geordneten Bahnen verlaufendes Leben geführt. Mir hatte es an nichts gemangelt. Ich bin wohlbehütet aufgewachsen, hatte niemals nennenswerte Schulprobleme und schließlich habe ich erfolgreich abgeschlossen. Ich bin niemals straffällig geworden, hatte keine schweren Schicksalsschläge zu verkraften, und schien mit soliden Zukunftsplänen und einer nicht bewundernswerten aber durchaus ausreichenden finanziellen Absicherung bereit zu sein, einen sicheren Weg im Leben zu beschreiten.
Meine Freunde hätten mich wohl als zuverlässig, selbstbewusst und realistisch beschrieben.
Umso unbegreiflicher schien meine momentane Situation. All jene guten Eigenschaften, die mir zugeschrieben wurden, verschwanden nun in dem heillosen Chaos, aus dem meine Seele zu bestehen schien.
Ich hatte es schon immer gut verstanden, mein Innerstes vor den Menschen, die mich umgaben zu verbergen. Wahrscheinlich war dies mein einziges Talent, das ich besaß, neben der Fähigkeit ausgezeichnet zu lügen. Doch das eine begründete das andere. Manchmal kam es mir vor, als wäre die Person, die ich für andere zu sein schien, eine einzige riesige Lüge. All die heimlichen Gefühle, Wünsche, Hoffnungen und Begierden hütete ich wie ein dunkles Geheimnis.
Es gab so vieles über mich, dass niemand wusste, weil ich nicht zulassen konnte, dass jemand erfuhr, wie verkorkst ich war, wie hilflos und verzweifelt. Ich blickte hinaus in die Welt und fühlte mich ihr von Grund auf fremd. Ich drohte zu ertrinken in den Fluten der sinnlich wahrnehmbaren Realität und es war gerade die alltägliche Banalität, die mich in einen Strudel voller wirrer Gedanken und bizarrer Ängste hinunterzog und nur Leere in meinem Herzen zurückließ.
Mein Kummer war letztendlich in der Gewissheit begründet, dass manch anderer sich in meiner Lebenssituation glücklich schätzen würde, während ich innerlich zugrunde ging, weil ich es nicht fertig brachte, das menschliche Dasein als etwas anderes als einen immerwährenden Fluch zu betrachten.
Niemals hätte ich meine Unsicherheit zugegeben. Niemals hätte ich über die Angst gesprochen keinen Sinn in meiner Existenz zu finden, niemals hätte ich mir selbst eingestanden, dass ich mein Leben hasste.
Und schließlich ertrug ich diesen Wahnsinn nicht mehr, hatte keine Kraft mehr die Lüge um mein scheinbar intaktes Leben aufrecht zu erhalten. Es fehlte nur noch der geringste Auslöser, um die tief im Inneren vergrabenen Emotionen und Begierden mit einer Wucht hervorbrechen zu lassen und die einzigen Stützpfeiler in meinem Leben zu zerstören...
Als ich meinen Platz in dem übelriechenden Zugwagon einnahm und den nach einer kurzen Weile im Nichts verschwindenden Bahnhof durch das Fenster betrachtete, fühlte ich mich so kraftlos und gleichgültig, als wäre jegliches Gefühl aus mir gewichen. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und beobachtete wie mein Atem dort zu kondensieren begann. Ich spürte wie sich die Kälte des Glases auf meine Wange übertrug und sich von dort schleichend ausbreitete; sie schien über meine Kehle zum Herzen zu wandern und auf ihrem Weg die pulsierende Wärme meines Körpers in eisige Erstarrung zu senken. Zu jenem Zeitpunkt wusste ich nicht, ob ich zu sterben begann oder bereits tot war und nur noch meinen Körper in einer sinnlosen Odyssee zu dem Ort brachte, an dem mein Leben und das meiner Freundin ein jähes Ende gefunden haben.
Teresa war 20 gewesen, als ich sie während eines Discobesuches kennen lernte. Ihr schmaler, feucht glänzender Körper bewegte sich im Takt der Musik. Die geschlossenen Augen wirkten durch den auffälligen, dunklen Lidschatten wie schwarze leere Höhlen, unheimlich beleuchtet von dem pulsierenden roten Licht. Einzelne Haarsträhnen klebten ihr im Gesicht, ihre Lippen sinnlich und voll waren makellos und etwas besonderes in dem eher durchschnittlichen Gesicht, dessen wahre Schönheit erst nach einem zweiten Blick offenbar wurde. Ich beobachtete sie, betrachtete ihren Körper, der unglaublich zart und zerbrechlich schien. Doch ihre Bewegungen und das aufreizende Outfit wirkten wild und leidenschaftlich. Jene Gegensätzlichkeit an ihr war es, die mich faszinierte. Zu dieser Zeit hatte ich eine Unmenge an Affären und gescheiterten Beziehungen hinter mir. Ich glaubte nicht an diesen Ewige-Liebe-Scheiß und es war mir gleichgültig, ob ich dadurch die Gefühle irgendeiner naiven Tussi verletzt hatte. Wenn die alle meinten, sich dieser schwachsinnigen Illusion hingeben zu müssen, so war es nicht mein Problem. Jede von ihnen hatte sich von mir ficken lassen, noch bevor wir uns zwei Tage kannten; also was sollte die ganze "Ich dachte du liebst mich"-Tour?
Aber bei Teresa fühlte ich etwas, das ich noch nie zuvor gespürt hatte und das mir vollkommen fremd war. Für jemanden, wie mich war es ein überwältigendes Gefühl, das ich für Leidenschaft hielt, weil mir ein anderer Begriff für die Hingabe zweier Menschen zueinander nicht geläufig war. Es gab eine Zeit, in der ich mich selbst vollkommen vergaß und nur für sie lebte. Sie war wie ein kostbares Geschenk und das erste mal in meinem Leben, begann ich über Gott und die Ewigkeit zu sinnieren. Neben ihr verlor die Zeit jegliche Bedeutung, und plötzlich erschien mein Leben so unglaublich erfüllt.
Heute scheint all dies unendlich weit entfernt zu liegen, denn die Selbstverständlichkeit holte mich ein und begrub die Inbrunst und Dankbarkeit. Was blieb war Routine, oberflächliche Zärtlichkeiten, die nur eine schwache Erinnerung und ein melancholisches Festhalten an dem waren, was längst vergessen schien. Alltägliche Sorgen überwogen. Knisternde Erotik verkam zu der gewohnten Befriedigung sexueller Begierde.
Ich konnte nicht an dem festhalten, was ich für die Erfüllung meines Leben hielt.
Jetzt, da kein Sinn mehr herrscht und alles in Bedeutungslosigkeit versinkt, weiß ich, dass es damals die Liebe war, die mir entglitt, wie durch die Finger rieselnder Sand. Noch ehe ich zu begreifen verstand, was mir gegeben worden war, sah ich mich von vollkommener Leere umgeben. Fast schien alles unverändert, doch die Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen hielt mich gefangen wie einen Süchtigen. Der Schmerz schnitt tief in meine Seele und bewirkte, dass ich unruhig wurde. Ich hatte panische Angst, nicht mehr das zu finden, von dem ich kurz gekostet hatte, aber das ich noch immer nicht zu benennen wusste. Ich begann eine Suche, die ich hätte nie beenden können, weil ich das, nachdem ich strebte bereits verspielt hatte.
Es brachte mich um. Und so brachte ich sie um. Ihr Leben war mein Verhängnis, denn sie symbolisierte die Vergänglichkeit. Es war ein letzter verzweifelter Versuch in seliger Unwissenheit die Sinnlosigkeit zu ertragen. Doch ich irrte mich; meine Rechnung ging nicht auf und alles begann zu sterben, sich windend in unendlichen Qualen, so wie sie sich gewunden hatte, als das Messer in ihre Brust stieß um ihr Herz zu treffen. Ich versuchte mein eigenes Leben zu wahren, indem ich meinen Hass gegen sie richtete, und sie das spüren ließ, was sie in mir verursacht hatte. Damals wusste ich wusste nicht, dass sie schwanger gewesen war.
Regentropfen trommelten leise gegen die Fensterscheibe. Ein stetiges Klopfen. Zahllose Hände, die ihre Finger nacheinander auf das schmutzige Glas schlugen; ungeduldig fordernd, bedrängend. Ich schaute hinaus in den dunklen Tag, ließ meinen Blick über die Rinnsäle aus Kristall gleiten, betrachtete mein verblasstes Spiegelbild. Wie sich auf einmal alles fügte, abertausend Bruchstücke ergaben ein Ganzes. Ich begriff nun, verstand die Bedeutung meines Lebens - allen Lebens - und wusste, dass meine Existenz niemals vollendet werden könnte. Die Schemen der Landschaft rauschten an mir vorbei, darüber mein verschwommenes Abbild. Ich konnte durch mich hindurchsehen; ich wollte die tote Fratze nicht sehen, die mir ins Bewusstsein rief, dass ich verdammt war, seelenlos und ohne Würde. Und so starrte ich in die Ferne, unfähig meinen Kopf zur Seite zu drehen.
Ich war acht Jahre alt, als mein Opa starb. Ich weiß noch, wie ich mich über die grenzenlose Trauer meiner Familie gewundert hatte. Auf der Beerdigung blickte ich in den Sarg. Die ganze Zeit davor redete ich mir ein, stark sein zu müssen. Ich wollte, dass die Leute sahen, wie tapfer sich dieser kleine Junge gab. Entgegen den Ratschlägen meiner Mutter ging ich zum Sarg und blickte meinem toten Großvater ins Gesicht. Ich dachte gegen die Gefühle ankämpfen zu müssen, aber als ich ihn anschaute, empfand ich nicht das Geringste. Er schien zu schlafen und mir fiel auf, dass auch ich müde war.
Jede Nacht lag mir das Schluchzen meiner Schwester in den Ohren, die es sich tagsüber niemals erlaubt hätte meine Mutter mit ihrer Trauer zu belasten. Ein einziges mal weinte auch ich. Es war die Woche nach der Beerdigung; der Alltag zwang meine Mutter zum Weitermachen. Sie tat, was von ihr erwartet wurde und brach nur dann zusammen, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Irgendwann hatte sie aufgehört nachts durch die Wohnung zu schleichen, ziellos und irgendwie unheimlich, wie ein Zombie. Stattdessen rannte sie Nachmittags, wenn sie aus der Arbeit gekommen war und eine Weile wie versteinert durch den Raum geblickt hatte, ins Bad. Dort blieb sie dann verdächtig lange, aber man hörte sie nicht, nur das ewige Rauschen der Dusche. Es kam so unerwartet. Ich saß vor dem Fernseher und schaute mir einen Cartoon an. Willy Cojote bastelte gerade an einer Rakete, als ich aufstand und ins Bad lief. Ich drehte den Wasserhahn auf und starrte in den brausenden Strahl, bis ich es wagte, meinen Blick zu heben und in den Spiegel zu sehen. Die Tränen kamen unkontrolliert; ich wollte sie zurückhalten, schaffte es aber nicht. Ich weiß nicht, warum ich damals geweint habe, vielleicht weil ich die Trauer der anderen nicht verstand.
Auch jetzt weiß ich, dass ich angesichts der auf mir lastenden Schuld, haltlos weinen müsste. Trübe Augen, gedrückt von Schmerz und Reue, Tränen so unkontrollierbar wie sie sind, als Zeichen menschlicher Machtlosigkeit, Stöhnen und Schluchzen, mein Herz für immer befreiend... jeder vernünftig Denkende könnte es von mir erwarten, ja würde es geradezu fordern, um sich und der Gesellschaft zu beweisen, dass ich einer von ihnen war. Irgendwie wünschte ich mir die salzige Nässe auf meinen Wangen zu spüren, als wäre es die einzige Rettung, auf die ich hoffen durfte. Ich fühlte plötzlich die Feuchtigkeit, die meine Augen umgab, und wartete auf den erlösenden Moment, da alle Last von mir fiel in der bittersüßen Buße. Einzelne Tropfen bahnten sich den Weg über mein Gesicht; doch noch ehe etwas geschah, war der lederne Sitz vor mir wieder klar in meinem Blickfeld und alle Hoffnung zerronnen. Von da an geschah etwas Seltsames. Als ich glaubte, niedergedrückt zu werden und kraftlos dahinsinken zu müssen, auf dem Höhepunkt menschlicher Verzweiflung, überkam mich ein unbeschreiblicher Schwung von Euphorie. Auf einmal war ich stark genug, mit Leichtigkeit das zu überwinden, was die Menschheit - und mich selbst seit Jahren - gefangen hielt. Was mich vor kurzem unendlich erschöpft hatte, wich von mir, und es war als ob, ich in einen befreienden Schlaf fiel. Ohne dem still lauernden Wissen, dass ein nächster Tag mit unerbittlicher Konsequenz folgen würde, umso strafender, da alles unverändert seinen Lauf nahm. Vielleicht war es die Buße eines jeden Schuldigen, sich der Realität willenlos zu ergeben, sein Kreuz, das Gewissen, zu tragen und zu ertragen. Aber nein, die Vorstellung rauschte dahin wie ein kindischer Tagtraum, dessen man sich für einen Moment schämt, bevor alles in Vergessenheit versunken ist.
Es war keine Frage der Zeit mehr, bis der Zug hielt und ich wie in Trance, aber entschlossener denn je mein Abteil und den Wagon verließ, um schließlich in Freie zu treten; unbesonnen wie ein abenteuerlustiger Junge, aber erfahren und müde wie ein sterbender Greis. Ich schaute mich um. Es war eine kleine Bahnstation, die nur wenige Menschen zu nutzen schienen. Und trotzdem achtete in dem geschäftigen Treiben niemand auf den anderen. Ich erkannte, dass es an diesem Ort im wahrsten Sinne des Wortes ein Kinderspiel sein müsste, unbeobachtet auf die Gleisen zu kommen.