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Meme
Der Mensch ist, wie Darwin sozusagen herausgefunden hat, allein ein Gefäß für Gene, die sich eben fortpflanzen müssen – diese Fortpflanzung der Gene ist also die eigentliche Triebkraft des Lebens: ein willenloser, unbewusster und letztlich mechanischer Algorithmus, vergleichbar mit der komplizierten Berechnung eines Computers.
Alles dies ist ja längst bekannt und in diesem Sinn allein eine weitere Entdeckung, die den Menschen vom Thron stößt – wir alle haben uns aber schon längst daran gewöhnt, erwarten keinesfalls, in uns doch noch irgendeinen Funken zu entdecken, der auf geheimnisvolle Weise zu Gott führt: Gott ist tot, soviel ist ersichtlich. Doch der Mensch ist eben kein Tier, hat nämlich Phantasie, Kreativität – ein Selbst: Der Mensch sagt wenigstens Ich zu sich und erkennt sich also als Selbst. Immerhin.
Dawkins aber hat diese Idee dann späterhin, 1976, erweitert, nämlich angestrebt, auch Gedanken, Moden, Ideen und so weiter als evolutionär fundiert zu begreifen: Ein Gedanke ist also keinesfalls einfach aus dem Nichts entstanden oder gar im Sinne eines originären Aktes dem eigenen Denken entsprungen (jedenfalls meistens nicht), sondern ist eben auch vererbt, ist weitergereichtes Material: Diese Gedanken, Moden und anderweitigen kulturellen Versatzstücke sind demnach nur das: Versatzstücke nämlich, variiert und mutiert, in diesem Sinn nicht unserem Selbst entsprungen: Der Mensch imitiert, mehr nicht, imitiert demnach auch das Selbstbewusstsein, hat also kein Ich, glaubt es nur.
Doch all dies hilft ja nun nichts, wenn die eigene Frau eines Abends zu einem kommt und eben beichtet, fremdgegangen zu sein; um genauer zu sein, sagte sie:
- Ich habe dich betrogen …,
und stockte dann erst einmal, sah mich ein wenig hilflos an. Vor mir auf dem Schreibtisch lagen die Werke über Soziobiologie, über Memetik und Evolution, im Aschenbecher glimmte eine Zigarette und ich hatte nun Lust auf ein Bier. Doch man steht, bekommt man so etwas gesagt, ja nicht sogleich auf und holt sich ein Bier – so läuft das nicht. Man zieht erst einmal an der Zigarette, abwartend, hofft auf Hilfe, während die Frau einen anblickt.
Da hilft es eben nicht, wenn man den Menschen als Maschine zu begreifen versucht, nein, da ist einem jede Theorie erst einmal egal. Da leidet man und möchte gern ein Bier trinken, diese Maschinenscheiße vergessen, denn man fühlt sich natürlich nicht wie eine Maschine, man fühlt sich wie ein Idiot und ahnt die Schmerzen voraus, die noch kommen werden. Immerhin sind erst ein paar Sekunden vergangen seit ihrem Satz:
- Ich habe dich betrogen …
Was für ein Satz! Dieser Satz, dachte ich, gehört in Stein gemeißelt … Schon oft gelesen, diesen Satz, doch niemals geglaubt, ihn einmal auf sich beziehen zu müssen. Immer waren es die anderen gewesen, diejenigen in den Büchern, mit denen man nichts zu tun hatte.
- Ich habe dich betrogen …
Susan Blackmore ja nun die Ideen Dawkins aufgegriffen und sozusagen die Memetik erst begründet. Doch hat sie die Theorie im Grunde ja nur verschärft und auch auf den Menschen insgesamt angewandt, hat dann schließlich vom Memplex geschrieben: Dem Selbst also. Ihrer Meinung nach ist das Selbst nämlich, also das Ich und eben das, was wir in uns Ich nennen, ein Memplex, also ein Komplex von Memen, und daher etwas, was nichts mit uns zu tun hat und kein Ich in diesem Sinn ist: Wir sind keine Ichs, wir sind nur Maschinen, denen vorgegaukelt wird, ein Ich zu haben. – Das, was wir Ich nennen, tja, ist nur ein Konstrukt, 'erschaffen' von den Memen, die in einem evolutionären Schritt 'gelernt' haben, ihre Verbreitung unter der scheinbaren Schirmherrschaft eines Selbstbewussteins schneller und geschmeidiger ablaufen zu lassen.
Das merkt man ja schon anhand der Verzögerung bei Entscheidungsfindungen, der so genannten Mindtime. Die Entscheidungen sind ja schon lange gefällt, da registriert dies das Selbst und tut eben so, als wäre es seine Entscheidung. Es spielt Entscheidungsträger, ist ein Schauspieler, der keine Ahnung davon hat, ein Schauspieler zu sein. Deprimierend? Nun, angesichts eines solchen Satzes,
- Ich habe dich betrogen ...,
kann all dies auch wieder ein Trost sein.
Ich bin nichts und die Frau dort ist auch nichts, dachte ich also erst einmal und sah auf meine Papiere, auf die Notizen, die ich im Rausch soeben noch hingeschmiert hatte, die eben noch den Kern meines Lebens ausgemacht hatten, nun aber seltsam sinnlos wirkten. Und dies, dachte ich, ist ja wohlgemerkt erst der Anfang, ist erst der Beginn des Schmerzes, ja, der wahre Schmerz, der wird noch kommen. Und da klapperte ich buchstäblich mit den Zähnen.
Sie griff nach meiner Hand, irgendwie hilflos, Halt suchend, doch was blieb mir übrig? Ich zog meine Hand aus ihrem Griff, legte beide Hände auf den Schreibtisch. Da blieben sie erst einmal. Mindtime. Sekunden vergingen, vielleicht zwei oder drei, dann waren es schon zehn und am Ende sicherlich dreißig. Ich schwieg immer noch und sie schwieg ebenfalls, öffnete aber irgendwann doch den Mund,
- Es tut mir Leid,
sagend und da flossen – die Tränen. Sie flossen langsam und keine Hand verdeckte sie, offen und sichtbar flossen sie über die Wangen, bildeten nasse Bahnen, erschufen am Wangenknochen einen stetig anschwellenden Tropfen, der bald schon auf die Bluse fiel, dort einen Fleck bildend.
Dass man den Weg einer dieser Tränen trotz der Verfügbarkeit aller Daten eben doch nicht berechnen kann, der Tropfen nämlich recht schnell ins Chaotische, Mysteriöse und Geheimnisvolle abdriftet. Und ob diese Feststellung etwas mit mir zu tun haben könnte,
- Wer?,
fragte ich also und stierte immer noch auf den Zettel, auf dem Meme, Memplex und Evolution die Überschrift bildeten. All dies war mir nicht nur ein Ausweg aus meinem Dilemma, es schien mir nun eine Art Traum zu sein, ja, ich starrte auf diese Buchstaben, die Worte, dachte an die Zeit vor einigen Sekunden, als ich diese Worte noch unschuldig hingeschmiert hatte.
Natürlich reichen die Meme ja nicht aus, sind theoretisch vollkommen unzulänglich. In der Genetik hat man ja die Gene, die sich aus den vier Basen in ungezählter Vielfalt zusammensetzen und bilden, theoretisch sind da unendlich viele Bildungen denkbar: Die Variation ist ja eines der wichtigsten Merkmale einer erfolgreich verlaufenden Evolution. Allein, die Memetik hat das Problem des fehlenden Ausgangsmaterials: Ein Meme ist ein Gedanke, eine Idee. Diese Idee und dieser Gedanke müssen aber erstens auf irgendeine Art entstanden sein, müssen zudem irgendwie messbar sein. In der Genetik, tja, da zählt man die Gene, die Basenpaare etwa, doch in der Memetik hat man mit kaum zu untersuchenden und sicherlich nicht zu klassifizierenden Entitäten zu tun. – Originalität etwa ist in der Memetik unbedingt erforderlich, denn wie sollen neue Meme entstehen? Sicherlich, zumeist ist alles abgekupfert, gestohlen und also kopiert: Es gibt wenig Neues auf der Erde, alles ist schon einmal gewesen.
Meine Frage ja auch,
- Wer?,
hatte ich eben noch gefragt und schämte mich nun für diese mehr als dämliche Frage, diese Filmfrage, entschuldigte mich auch tatsächlich,
- Entschuldige,
erklärte ich also und starrte immer noch auf das Papier, spielte mit der Zigarette, zog daran, drückte sie aus, suchte eine neue,
- aber ich war noch nie in so einer Situation …
Ich stand auf, marschierte in die Küche, sie dabei ignorierend, blickte dort aus dem Fenster. Sicherlich, alles ist übernommen. Ich zum Beispiel habe keine Ahnung, wie die Dinge um mich herum funktionieren, eine Binsenweisheit dies: Der Kühlschrank, ein wuchtiges Teil, darin Bier und Obst. Ich verstand ihn nicht, begriff ich nun in der Küche stehend, öffnete ihn jedoch gleichwohl, öffnete auch das Bier. Ich trank – es war kalt und schmerzte bis in die Stirn.
Ich hörte sie nicht, wusste sie aber nun im Türrahmen stehend und blickte weiterhin aus dem Fenster, nahm noch einen Schluck Bier,
- Und jetzt?,
fragte ich und war tatsächlich hilflos. Wie verhielt man sich in so einer Situation? Ist man wütend, schlägt um sich? Oder weint man? Ich suchte, fand aber nichts; wahrscheinlich hatte ich die Meme dafür einfach noch nicht kopiert.
Nun, diese Memetik bringt im normalen Leben ja gar nichts. Wir begreifen uns als denkende Menschen, als verantwortlich ohnehin. Vielleicht ist das nicht so, doch wie sollte man leben, würde man sich so verhalten, wie es die Forschung eruiert hat? Man würde eben nicht mehr leben, man würde nur noch vegetieren und alles in sich verneinen. – Ein tröstender Gedanke, jetzt, dachte ich und drehte mich nun doch um, sah sie an.
Unvorstellbar. Das eine wie das andere. Unvorstellbar, dass wir nur Hüllen für Gene und Meme sein sollen, also alles sinnlos ist. Unvorstellbar auch, dass sie mit einem anderen Mann hat schlafen können. Ich schluckte nun hörbar.
- Was soll ich tun?,
fragte ich in ihre Richtung und sie zuckte zusammen, sah an mir vorbei. Wir warteten und so würde es ab jetzt auf irgendeine Art für immer bleiben – so oder so.
- Gut, du hast mich betrogen,
erklärte ich,
- und was soll ich nun tun? Soll ich heulen oder schreien – oder dich schlagen?
Das Leben ist nicht einfach. Natürlich, einerseits ist es interessant, dieses Leben, also diese Idee!, doch im Alltag überwiegt die Langeweile. Man kann ja nichts tun, hockt Abend für Abend in der Wohnung und langweilt sich – oder arbeitet. Und ich arbeitete jeden Abend, seit Jahr und Tag,
- Nun gut,
sagte ich also, da nichts passiert war,
- ich bin überrascht.
Ich ging in mein Arbeitszimmer zurück, stand dort etwa zwei Sekunden herum, vor dem Tisch, in Gedanken versunken und dabei doch nur die innere Leere fasziniert schmeckend, entschloss mich um und ging ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch und starrte sie an.
- Also,
begann ich und leerte das Bier, holte mir noch eins, musste dafür abermals an ihr vorbei und schaffte dies, ohne sie zu berühren, setzte mich, öffnete die Dose,
- Also,
machte ich weiter und suchte nach Worten, fand aber nichts. – Ich weiß, fünfundneunzig Prozent der Menschen sind absolute Idioten, haben also keinesfalls irgendwelche originelle Ideen, Gedanken, die auf ihnen beruhen und sozusagen aus ihnen selbst kommen: Die meisten Menschen verstehen nichts. Obwohl dies ja noch ein guter Wert ist – bedenkt man, wer die Menschen bis hierher gebracht hat … Das waren doch nur ein paar wenige kluge Köpfe, die mit Hilfe ihrer Gedanken, Erfindungen und Ideen den restlichen Menschenabfall bis hierhin gehievt haben. Und ich bin sicherlich einer der Idioten und saß ja auch nun wie ein begossener Pudel auf der Couch.
- Also,
hatte ich gesagt und sagte ich daher noch einmal,
- Also,
denn so etwas kann man ja nicht oft genug sagen,
- also beginne ich mal mit diesen Fragen, die man eben so zu stellen hat, wenn man so etwas erfährt,
und grinste.
Man ist nicht mehr in der Lage, auf so eine Katastrophe adäquat zu reagieren, jedenfalls nicht so, wie es sich gehört. Dazu hat man derartige Katastrophen schon zu oft gelesen und in Funk und Fernsehen verfolgt: Man muss heutzutage ironisch auf solche Katastrophen reagieren, weil man all dies ja nicht mehr ernst nehmen kann.
- Wann? Das scheint ja nun einmal die dringendste Frage zu sein …
- Vor ungefähr vier Jahren …,
murmelte sie nun und blickte mich an.
- Vier Jahre,
wiederholte ich und nahm also ihr Meme auf, kopierte es, war ja eine Kopiermaschine, nichts anderes.
Kafka, zum Beispiel, tja, dieser Kafka ... Ich war kein Kafka und das schmerzte mit den Jahren am meisten, nämlich normal zu sein. Und nun war man also auch noch ein betrogener Mensch, einer, dem Hörner aufgesetzt worden waren. Das nun auch noch – die Demütigungen des Lebens hörten tatsächlich niemals auf.
- Und mit wem?,
machte ich also weiter an dieser Zersetzung meines Selbstwertgefühls, schuftete ich weiter an dieser Demontage, die man auch als Altern bezeichnen konnte: Ich wurde nun älter, verbrauchter. Daran starb man, am Leben eben – und dies hier war mein Leben, gerade dies hier, dieses Sitzen auf der Couch, dieses Leiden, welches bisher im Stillen geschah und zu nichts führte.
Und mit wem? Dies ja die nächste Frage, doch vor der hatte ich natürlich berechtigte Furcht. Wusste ich es, musste ich handeln. Irgendwas musste ich dann tun. – Und da ich ja auch wusste, dies fragen zu müssen, tja, öffnete ich den Mund, doch,
- Damals war alles im Chaos, das weißt du noch, oder?,
sie war schneller. Womit sich die Frage nach dem Wer tatsächlich erledigte. Ich fragte dennoch:
- Und mit wem?
- Kannst du dir das nicht denken?
Ich nickte. Ich konnte es mir denken. Und hatte es sofort gewusst, schon eben, als sie zu mir gekommen war und mich aus meiner Arbeit gerissen hatte, seltsam zitternd, bleich und verstört:
- Ich muss dir was sagen,
hatte sie zuerst gesagt und darauf diesen Satz geäußert,
- Ich habe dich betrogen ...,
den Satz, der alles änderte. Da hatte ich es schon geahnt, denn nur einer war in Frage gekommen, nur ein Mann.
Ich nickte noch einmal. Und nahm einen Schluck Bier, sah sie an.
- Ich weiß nicht, was ich sagen soll,
gestand ich, gestand es tatsächlich, vorbei waren die ironischen Spielchen – so glaubte ich jedenfalls, nichts von dem wahren Absturz ahnend, der noch folgen sollte. Jetzt aber, an diesem besagten Tag, tja, da befand ich mich am Boden, auf dem ersten Zwischendeck in Wahrheit, war aber eben immerhin irgendwo angekommen.
- Du hasst mich jetzt,
rief sie,
- verlass mich – schlag mich!
- Ich schlage dich nicht,
reagierte ich und stand wieder auf, sah aber schnell ein, dass all dies ja Blödsinn war, dieses Stehen, setzte mich wieder.
Es war nun 21 Uhr. Das bedeutete normalerweise noch über eine Stunde Arbeit. Arbeit an Kafka, den ich als originellen Meme-Verteiler betrachten wollte. Es gab und gibt, so mein Denken, immer wieder originelle Memplexe, die neue Ideen in die Welt transportieren: In einer Generation vielleicht fünf oder zehn Menschen, mehr nicht. Sie erneuern den Memepool, sozusagen. Kafka war einer von ihnen. Und eben dies wollte ich beweisen, obgleich ich noch keine Ahnung hatte, wie ich das tun wollte – dies hier, soviel war klar, war Neuland, nicht nur für mich, sondern insgesamt.
- Ich schlage keine Frau …
- Bitte!,
sie sagte das vollkommen verzweifelt und trat näher, doch ich winkte ab,
- Nein, lass mich,
sagte ich dabei und schaute an ihr vorbei.
Früher hatte ich ja, dies nur kurz, selbst geschrieben, hatte sicherlich kein neuer Kafka werden wollen, nein, aber immerhin einer, der schrieb. Sicherlich geht es jedem so genannten Bücherwurm so: Die Liebe und auch die Sucht zur Literatur führt eben zwangsläufig irgendwann zum Schreiben oder wenigstens zum Schreibversuch. Und ich hatte es versucht, hatte mehr als das, ja, hatte einige Jahre schreibend zugebracht, jedoch irgendwann eben feststellen müssen, allein ein Epigone zu sein. Ich hatte niemals meinen eigenen Stil gefunden.
Stil bedeutet viel, meint aber eben Originalität. Entweder man hat ihn oder eben nicht. Stil kann man, dies ist meine Überzeugung, nicht erarbeiten: Stil ist ein Geschenk oder ein neues Meme in der Welt. Und ich war nicht originell, ich war ein Kopierender. Also hatte ich mit dem Schreiben aufgehört und mich ganz der wissenschaftlichen Arbeit gewidmet, versuchte hier nun, vielleicht ein wenig originell zu sein. Und schrieb also über Originalität, mein Lebensthema. Der Einzige zu sein – der seine Frau nackt gesehen hatte, der in ihre Möse eingedrungen war,
- Scheiße,
sagte ich da und fuhr nun doch hoch,
- was soll ich denn nun tun? Verdammt!
Sie schwieg und was hätte sie auch sagen sollen?
Doch, ihr fiel etwas ein:
- Ich habe es nur einmal getan,
sagte sie, schaute nun auf den leeren Tisch,
- nur einmal – und ich hasse mich dafür.
Ich schwieg nun. Das Leben war letztlich nichts, war keine Mission, bedeutete nicht zwangsläufig eine Steigerung, ja, man konnte froh sein, bestand das Leben allein aus der Stagnation. Der wahre Sieg bedeutete das Treten auf der Stelle.
Dabei waren die Fragen nun wieder, unmerklich, in meinen Kopf geraten: Ich musste alle Einzelheiten wissen. Alle!
- Einmal?,
stocherte ich also nach,
- Wann genau?
Sie überlegte:
- Ich weiß es nicht mehr … Damals war alles seltsam …
- Warum erzählst du es mir jetzt?
- Ich hatte es vergessen …
- Vergessen? Willst du mich verarschen?
- Nein. Ich hatte es wirklich vergessen.
- Und jetzt ist es dir wieder eingefallen, oder wie?,
fragte ich und war nun doch endlich wütend.
Meiner Meinung nach kann man heutzutage nicht mehr wütend sein. Man ist ironisch, hält sich an der Ironie fest. Wenn wir eines sind, dann eine ironische Generation – wir sind in allem ironisch, können gar nicht mehr anders, sind ja ermüdet, ermattet, haben die Naivität schon längst verloren, hatten sie wohl niemals gehabt. Aber letztlich sagen das ja auch wieder alle.
- Komische Geschichte! Du fickst mit einem anderen, lässt dich ficken!, und vergisst es, komisch …
Sie nickte.
- Und warum ist es dir wieder eingefallen?
- Weiß nicht … In den letzten Tagen habe ich viel über damals nachgedacht und plötzlich war es wieder da …
- Aha,
machte ich und verzog das Gesicht. Also, zuerst stellte ich mir vor, das Gesicht zu verziehen, verzog es dann – das ist ein Unterschied.
- Und warum erzählst du es mir jetzt? Hättest du nicht den Mund halten können?
- Was meinst du?
- Warum erzählst du es mir? Ich wusste es nicht und alles war in Ordnung, oder? Und jetzt redest du und alles ist beschissen,
fuhr ich hoch, doch:
- Ich liebe dich!,
und ich lachte hell auf, zu hell, zu laut: Die Naivität war da, war nun doch noch in diesen postmodernen und aufgeklärten, in diesen zynischen und verlebten Leib gefahren, endlich, nach mehr als 30 Jahren.
- Toll,
tat ich den nächsten Schritt des betrogenen Mannes,
- und was soll ich jetzt machen?
- Mich verlassen,
erklärte sie und stand auf,
- du musst mich verlassen – du wirst mich verlassen …
Ich dachte nach. Gestartet war ich damals mit wenig Ambitionen, aber immerhin mit Ambitionen; ich hatte mir immerhin niemals falsche Vorstellungen über das Leben gemacht: Man lebt, wird krank, stirbt. Man stirbt – dies ist ja die eigentliche Crux. Doch schon die Krankheiten können einen ja mehr als verunsichern: Die Erkrankung lauert ja irgendwo, schon jetzt, tief in den Eingeweiden … der Krebs, die Verkalkung. Bald schon, ich war über 30, bald schon würden die Schmerzen beginnen, das Leiden, die Bettlägerigkeit. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, tja, gehen all die dennoch gehegten Ambitionen zum Teufel.
- Meinst du?,
fragte ich nun neugierig: Bleich war sie, krank wirkte sie, zart und verletzlich, dadurch auch verletzend. Sie nickte und ich verfolgte ihr langsames, überlegendes und überlegtes Nicken – und da ging mir auf, sie durchaus verlassen zu müssen. Was anderes blieb ja nicht übrig. Wir schwiegen.
Wenn wir alle nur Memplexe sind, die sich also ein Selbst vorgaukeln, was ja unzweifelhaft so ist, macht das aber letztlich kaum einen Unterschied: Wenn der eingebildete Schmerz so heftig ist wie der richtige, fällt die Unterscheidung schwer, wird eine Unterscheidung unerheblich. Ich bin ein Selbst, bin ein Ich, habe mein Ich – sei es nun ein Memplex oder eben nicht. Und was sollte es sonst schon sein? Ein Geschenk Gottes? Ein Wunder? Wunder gab es nicht, Gott auch nicht. Da war niemand, der auf uns aufpasste, der uns erschaffen hat. Und die Erde drehte sich in einer Galaxie, die einem unbekannten Ziel entgegenflog, einem sinnlosen und also physikalischen Ziel, denn mehr waren wir alle nicht: reine Physik.
Ich stand nun auch auf, trat an sie heran,
- Ich weiß nicht,
sagte ich mal wieder,
- ob ich dich verlassen will.
- Warum nicht?
- Keine Ahnung … Ich liebe dich wohl …
Ich fühlte mich nun großartig, mitten im Leid kam ich mir großartig vor. Wie jemand, der ein äthiopisches Kind adoptiert. Und trat mal wieder ans Fenster, sah mich im Glas und empfand mich selbst als furchtbar traurige Gestalt, als vollkommen gescheiterten Mann. Und ging um noch ein Bier in die Küche, hatte nun schon ein wenig Schlagseite, hatte ja kaum was gegessen und war zudem aus dem Rhythmus gerissen.
- Du hast ihn geliebt?
- Geliebt,
überlegte sie und dehnte das Wort, ruhte sich auf dem Wort aus. Man sah ihr den Schmerz an, doch das reichte mir nicht, ich wollte sie zusammenbrechen sehen, ja, für ihre Tat sah sie noch viel zu gelassen aus – allein die zitternden Lippen bewiesen mir das wahre Ausmaß ihres Zustands, der mir aber, wie gesagt, nicht ausreichte.
- Ja, geliebt.
- Nein,
kam es mit Nachdruck und dabei sah sie mir in die Augen.
So schnell waren die Meme vergessen, so schnell auch meine Theorie, die Zukunft. Jetzt war gar nichts mehr da und ich sah auf meine Füße. Arme Füße, dachte ich und bewegte die Zehen nacheinander, einfach so, Mitleid mit einem Körper spürend, der sicherlich sein Bestes gab, jedoch von einem mehr als verrückten Verstand durch ein ironisches Leben geleitet wurde und also nun in der Scheiße gelandet war.
- Und ihr habt also miteinander geschlafen …,
stellte ich nochmals fest, genoss die Bedeutung, schmeckte sie nach und spürte die Erektion,
- einfach so, oder wie?
- Ich weiß nicht …
- Ja, ich weiß: Es ist einfach passiert,
äffte ich sie nach und zündete eine Zigarette an, blies den Rauch in den Nachhall meiner Wut.
- Aber wie passiert denn so etwas einfach? Erklär mir das mal!
Achselzucken.
- Erzähl mal!
Wieder ein Achselzucken, ein Schniefen.
- Jetzt heul mal nicht,
sagte ich,
- immerhin sollte ich heulen. Oder sonst was tun …
- Ja.
- Was?
- Stimmt. Ich bin eine Idiotin, eine blöde Frau … Schlag mich, bitte!
Sie weinte jetzt. Und ich schaute ihr einen Moment zu, dachte tatsächlich darüber nach, stellte mir vor, wie ich sie schlug. Ins Gesicht vielleicht, einmal, überraschend und fest. Und atmete tief durch, legte den Kopf zurück und stierte an die Decke.
- Ich schlage dich nicht,
sagte ich und schaute sie an,
- ich weiß aber auch nicht, was ich jetzt machen soll… Ich meine,
machte ich weiter,
- das ist tatsächlich das Schlimmste, was mir je passiert ist. Ich war immer treu, so eine Scheiße!,
wieder stand ich auf, die Lüge kaschierend,
- Ich meine, meine Eltern haben das getan, deine Eltern, unsere Freunde – und jetzt auch wir? Musste das sein?
- Ich bin ein Schwein …
- Ja.
Wenn das Leben eine Illusion ist – und das ist es unzweifelhaft! –, dann ist diese Illusion gut gemacht, perfekt im Grunde. Wenn mein Ich ein Traum, eine Lüge und letztendlich ein Nichts ist, tja, dann hat dieses Nichts dennoch eine große Kraft und ist eben das, was nicht existiert, diese Nichtexistenz jedoch mit brachialer Gewalt verteidigt.
Sie hockte derweil zusammengekauert neben mir im Sessel, schweigsam, den Kopf zwischen den Knien. Ihr Haar, es war ihr Haar, zuerst dies, gleich danach ihr Nacken: Weiß leuchtete er in der Dunkelheit, angreifbar.