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Melle und Annelies
Melle lebte nun schon seit einigen Jahren in diesem Dorf in Südwestengland. Nach seiner
Scheidung wollte er aus der Großstadt in Nordengland fort. Während eines Sturms hatte er mit seinem Schiff Zuflucht in einer Bucht gesucht und fand die Gegend so schön, daß er nach seiner Pensionierung da ein Haus kaufte. Warum er nicht in seine Heimat Holland zurückging, wollen wir uns nicht anmaßen, zu wissen. Vielleicht, um nicht so nahe bei seiner Mutter zu sein, mit der er sich nie recht verstanden hatte. Sie hatte immer seinen jüngeren Bruder vorgezogen.
Er lernte ein paar Leute kennen, die nach und nach so etwas wie Freunde wurden. Er machte Schichten bei der freiwilligen Küstenwache, überwarf sich aber mit den anderen und gab das auf. Mit den anderen Freunden kam er, er verstand nicht, weshalb, nicht besonders gut aus. So wurde er im Laufe der Jahre einsamer, besonders, da er auch kaum noch von zuhause fortging. Nur noch zum einkaufen, oder wenn ihn seine Tochter mit den Enkeltöchtern besuchte. Das kam aber nur alle paar Jahre vor, da sie in Kanada lebten.
Melle war einsneunzig groß und fast genauso umfangreich. Sein früher blondes Haar war unmerklich weiß geworden. Die vielen Jahre auf dem Meer als Kapitän bei der Handelsmarine hatten zu einer Athritis geführt, und da ihm Bewegung Schmerzen verursachte, bewegte er sich immer weniger. „Du solltest eigentlich in der Wüste leben,“ sagte Annelies manchmal zu ihm.
Als Annelies kam, wurde Melles Leben erfreulicher. Eines Tages traf er im Auto, das ihn vom Krankenhaus von einer Untersuchung abholte, einen kleinen, zierlichen Engländer und kam mit ihm ins Gespräch. Melle kam mit allen Menschen ins Gespräch. Das heißt, er sprach, was die anderen sagten, interessierte ihn nicht so arg. Diesem kleinen Mann also erzählte er, daß er jemanden suchte, der bei ihm seine (geschätzten zweihundert) Andenken aus aller Welt abstaubte. Er fürchte, etwas aus seinen athritischen Händen fallenzulassen und zu zerbrechen, sagte er. In Wirklichkeit war er zu bequem, es selber zu machen. Der Engländer fragte seine deutsche Frau Annelies, ob sie jemanden wüßte, und sie meinte, das könne sie selber machen. Sie rief Melle an, und am folgende Montag radelte sie ans andere Ende des Dorfes. Als sie das Fahrrad an der Seite des Hauses abgestellt hatte und um die Ecke kam, sah sie als erstes einen gewaltigen Bauch aus der offenen Tür hervorragen.
Von nun an kam Annelies jeden Montag von zehn bis zwölf und machte im Haus sauber, abwechselnd im unteren und im oberen Stockwerk. Melle gab ihr einen Hausschlüssel. Wenn sie zur Tür hereinkam, lag immer der Geldschein für ihre Bezahlung auf dem Flurtischchen.
Anfangs zog sich Melle nach oben an seinen Schreibtisch zurück, wenn Annelies unten herumfuhrwerkte, aber nach einiger Zeit blieb er unten auf seinem Lieblingssessel sitzen. Gleich am ersten Tag jedoch erklärte er, daß um halb elf Kaffeetrinken war. Da ging er in die Küche, brühte den Kaffee auf und rief dann nach oben: „Ann'lies! Coffee!“ Und Annelies antwortete:“Coming!“ Sie sprachen nämlich stets Englisch miteinander. Melle hatte erklärt, seine Erinnerungen an die Deutschen aus Kriegstagen seien nicht gut, und deshalb möge Annelies verzeihen, wenn er nicht Deutsch sprechen wolle. Annelies fand aber bald heraus, daß es mit Melles Deutschkenntnissen nicht sehr weit her war.
Da saßen sie dann im Wohnzimmer mit ihren Kaffeetassen und plauderten, das heißt, anfangs plauderte nur Melle und erzählte Annelies sein ganzes Leben – wieder und wieder und wieder. Melle erzählte jedem, mit dem er ins Gespräch kam, daß er ein Kapitän gewesen war, daß seine Frau ihn betrogen hatte, daß seine Tochter in Glasgow Kunstgewerbe studiert hatte, daß er mal die holländische Königsfamilie getroffen und mit ihnen geplaudert hatte, daß er mal von Piraten angegriffen worden war … alles recht interessant, aber nicht, wenn man es zum neunten Mal hörte. Annelies hörte es sich an, was blieb ihr anderes übrig.
Nur wenige Monate, nachdem Annelies begonnen hatte, bei Melle sauberzumachen, starb ihr Mann ganz plötzlich während eines Aufenthaltes bei Annelieses Familie in Deutschland. Nach vier Wochen war sie zurück und kam wieder montags. Nach und nach säuberte sie alle vernachlässigten Ecken und Winkel und bekam auch Melles Erlaubnis, so manchen unnützen Kram auszumisten. Sie versuchte auch, ihn von der Notwendigkeit von frischer Luft zu überzeugen, mit mäßigem Erfolg. Das Lüften war ihm einfach zu mühsam. Eigentlich war ihm alles zu mühsam. Er aß Fertiggerichte, die ihm von einer Firma geliefert wurden. Er saß die meiste Zeit in seinem Sessel und schaute fern oder las das Shipping Magazine. Ein Buch zu lesen war auch zu mühsam. Einmal die Woche fuhr er nach Kingsbridge zum einkaufen, zuerst mit einem kleinen Bus, der Leute dafür an der Haustür abholte, später, als er immer unbeweglicher wurde, im Taxi des zuverlässigen Steve. Den hatte auch Annelies empfohlen.
Eines Tages, als sie sich ein knappes Jahr kannten, rief Melle ziemlich aufgeregt bei Annelies an. „Ich muß dir was sagen. Cynthia (das war eine alte Freundin Melles und die Nachbarin von Annelies) hat mich heute gefragt, ob ich dir den Hof mache. Ich sagte, aber wo denkst du hin, selbst wenn ich das wollte, die Dame ist doch noch in Trauer. Nicht wahr, wir sind bloß Freunde, sonst nichts?!“ Er war fast in Panik! Annelies bestätigte, daß sie nur Freunde seien, und daß sie ohnenhin nie an einen anderen Mann als an ihren verstorbenen denken könne. Aber natürlich war Melle in Annelies verliebt. Wenn Annelies nach der Tasse Kaffee sagte: „Jetzt muß ich aber mit meiner Arbeit weitermachen, sonst komme ich nie fort,“ antwortete Melle: „Ach, das wäre nett!“ Annelies dagegen war, da hatte sie nichts als die Wahrheit gesagt, nicht in Melle verliebt. Sie mochte ihn anfangs nicht einmal besonders.
Je weniger Melle sich anstrengte, desto schlechter fühlte er sich. Immer wieder suchte er den Arzt auf und klagte, und die Medikamente auf seinem Eßtisch wuchsen zu Bergen. Fast jede Woche holte Annelies sie für ihn ab, da sie auf ihrem Weg zu ihm ohnehin beim Health Centre vorbei mußte. Sie bastelte ihm eine hübsche Schachtel, damit all die Pillen ordentlich aufbewahrt waren und nicht unordentlich auf dem Eßtisch herumlagen, aber bereits zwei Jahre später mußte sie eine mehr als doppelt so große Schachtel basteln. Sieversuchte auch, Melle ein paar Hinweise auf gesunde Lebensweise zu geben. Sie erzählte ihm von homöopathischen Heilmitteln. Sie warnte ihn vor den Nebenwirkungen der vielen Medikamente. Melle hörte sich das alles an, aber der arme Melle glaubte, daß er in Lebensgefahr schwebte, wenn er seine zahlreichen Pillen nicht regelmäßig einnahm.
Annelies hatte also viel an Melle auszusetzen, nicht zuletzt, daß er sie dauernd zuhause anrief und mit dem Bericht seines Tages langweilte. Es war immer derselbe Tagesablauf. Melle hatte auch so einiges an Annelies auszusetzen, nicht zuletzt, daß sie ihm dauernd sagte, wie er sein Leben richtig leben sollte.
Zweimal fragte Melle Annelies, ob sie ihn nicht auf einer Kreuzfahrt begleiten wollte. Er hätte sicher alles bezahlt, aber Annelies lehnte ab. „Sei mir nicht böse, Melle, aber erstens will ich keine Kreuzfahrt machen, und zweitens wäre nach spätestens zwei Tagen unsere Freundschaft im Eimer. Ich bin kein geduldiger Mensch.“ Melle glaubte das zwar nicht, aber er akzeptierte die Ablehnung und bedrängte Annelies nicht deswegen. Ein andermal bat er sie, mit nach Holland zu seinem Bruder und seiner Schwägerin zu reisen. Auf gar keinen Fall wollte Annelies das. Sie merkte aber, daß es Melle darum zu tun war, nicht alleine reisen zu müssen, daß ihm gewissermaßen jemand das Händchen hielt, denn bei Reisen bekam er immer Panikattacken. Deshalb bot sie an, ihn nach Exeter zum Flughafen zu fahren und auch wieder abzuholen, was er dankbar annahm.
Melle konnte ziemlich garstig sein zu Menschen, die ihm verquer kamen. Zu Annelies war er immer freundlich und höflich. Einmal rief er bei ihr an und klagte verstört, daß langjährige Bekannte ihn gebeten hatten, nicht mehr bei ihnen anzurufen. Er hätte ihnen doch nichts böses getan. Das sei nicht zum ersten Mal passiert. Warum? „Melle, ich kann dir sagen, warum. Wenn du anrufst, beginnst du sofort, von dir selber zu reden, und du redest nur von dir selber. Du fragst nicht einmal, wie es dem anderen geht.“ Das gab Melle zu denken, und eine ganze Zeitlang bemühte er sich, es besser zu machen. Wenn er bei Annelies anrief, fragte er jetzt zuerst, wie es ihr gehe. Annelies schaffte es mit der Zeit, sich nicht mehr über Melles oberlangweilige Anrufe zu ärgern. Sie nahm sich eine Handarbeit und hörte zu. Manchmal war sie gerade beim Geschirr spülen. „Melle, ich spüle gerade das Geschirr und will das Wasser nicht kalt werden lassen. Erzähl nur, ich höre dir zu.“ Gelegentlich nahm sie dann den Hörer und warf eine Bemerkung ein zu dem, was Melle gesagt hatte. Wenn er die ganze Woche nicht angerufen hatte, machte sie sich Gedanken und rief bei ihm an, ob alle in Ordnung wäre. Da freute sich Melle dann jedesmal sehr.
Gelegentlich machten Melle und Annelies einen Ausflug. Meistens wollte Melle etwas in einem entfernten großen Laden kaufen. Annelies fuhr ihn hin, half ihm beim Aussuchen – Kleidung, Möbel - , und anschließend führte Melle sie zum Essen aus. Zusätzlich gab er ihr auch immer Benzingeld. Manchmal aber gingen sie bloß so zum Essen in ein naheliegendes Pub an der Küste. In den ersten Jahren spazierten sie noch ein paar Minuten an der Kaimauer entlang, aber im Laufe der Jahre wurden es immer weniger Schritte. Da Melle sich kaum bewegte, tat natürlich jede Bewegung immer mehr weh. Dann bewegte er sich noch weniger …. ein Teufelskreis. Es wurde auch immer mühsamer für ihn, aus Annelieses Auto auszusteigen. Helfen konnte sie ihm kaum. Erstens war er viel zu groß und zu schwer, und zweitens hatte er Schmerzen in der Schulter, also kam weder schieben noch ziehen in Frage. Annelies blieb gelassen. „Keine Sorge, Melle, nur die Ruhe, du hast es letztes Mal geschafft, du wirst es auch heute schaffen.“
Der einzige treue Freund, außer Annelies, der Melle geblieben war, war John-across-the road. Er ging fast jeden Tag mal hinüber zu Melle und vergewisserte sich, daß alles mit ihm in Ordnung war. Ein anderer Nachbar, Stan, kümmerte sich um Melles Garten. Diese beiden und Ihre Frauen und natürlich Annelies lud Melle einmal ein, seinen Geburtstag mit einem Essen im Pub an der Sea-Front zu feiern. Das war eine fröhliche Angelegenheit, und Melle zeigte sich von seiner besten Seite. Keine Geschichten, wie toll er früher gewesen war, keine Kritik an irgend etwas. Er freute sich bloß, in netter Gesellschaft zu sein. Annelies dachte später gern an diesen Tag zurück.
Seit Melle mit Steve im Taxi einkaufen fuhr, tat er das nur noch alle zwei Wochen. In den Wochen dazwischen brachte ihm Annelies ein paar Sachen mit, wenn sie in die Stadt fuhr. Es war immer die gleiche Liste, die sie bald auswendig konnte: Milch, vier große Orangen, vier oder fünf Bananen und die Radio Times. Ab und zu kaufte sie Wein für ihn ein, dann gab er ihr immer eine Flasche, aber auch sonst mal zwischendurch. Wie gesagt, zu Annelies war er immer freundlich, weil er sie gern hatte. Er hätte sich auch gefreut, wenn sie zu ihm gekommen wäre und nicht geputzt hätte. Annelies putzte nicht ungern. Sie sah gern, was sie getan hatte. Die Spüle in der Küche war nach zwei Wochen immer in einem schauderhaften Zustand. Ein sehr hübsches Teekännchen von Wedgewood hatte immer braune Teeflecken, es machte Annelies richtig Spaß, das Kännchen wieder weißzuschrubben. Staubwischen dagegen mochte sie nicht sehr. Erstens fand sie es langweilig. Da war sie dann eigentlich ganz froh, als Melle im Wohnzimmer blieb und sie ein wenig miteinander plaudern konnten. Zweitens arbeitete Annelies gern flott, aber Melle hatte neben den zahllosen Andenken auch Fotos von seiner Familie herumstehen hatte, die dauernd umfielen. Schließlich besorgte Annelies im Charity-Shop Bilderrahmen. Am allerliebsten war ihr ausmisten und neu ordnen. Das tat sie beispielsweise einmal mit Melles Werkschränkchen, das er schon seit Jahren gar nicht mehr benutzte. Dabei fiel ihr eine Schachtel mit Nägeln herunter. Annelies kehrte sie zusammen, tat sie in einen Behelfsbehälter und kam am zweiten Weihnachtstag, um sie bei einer Tasse Kaffee und einem Plausch zu ordnen. Denn mit der Zeit waren es tatsächlich Gespräche zwischen Annelies und Melle, nicht nur Melle-Monologe.
Warum tat Annelies das alles für Melle? Einkaufen, Ausflüge, Pillenschachteln, Möbel aussuchen, die Wohnung ein bißchen hübscher machen. Manchmal brachte sie ihm auch kleine Geschenke mit. Zuerst tat sie es, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, daß sie den armen Melle nicht gern haben konnte. Es war ja nicht ganz seine Schuld, daß er war, wie er war. Seine Mutter war offenbar wirklich nicht besonders nett zu ihm gewesen – zu Melles Vater offenbar auch nicht. Dann fand sie es schön, Melle eine Freude zu machen. Mit der Zeit aber stellte Annelies fest, daß ihr Melle irgendwie doch ans Herz gewachsen war. „Wie ein unartiger Schüler,“ dachte sie. Sie war früher Lehrerin gewesen. Schrecklich gern hatte sie ihn immer noch nicht, aber er war eine liebe Gewohnheit geworden.
Trotz oder vielleicht auch wegen der vielen Medikamente ging es Melle nicht besser sondern schlechter. Es kam nach und nach immer häufiger vor, daß er drei- oder viermal ankündigte „I'll make coffee in a minute,“ und dann dauerte es eine halbe Stunde, bis er sich vom Sessel hochquälte, um in die Küche zu gehen. Er hätte ja Annelies bitten können, den Kaffee zu machen, aber vielleicht gab ihm das Kaffee machen das Gefühl, daß er Gastgeber war. Annelies hätte auch anbieten können, den Kaffee zu machen, aber sie meinte, es sei gut, wenn er wenigstens ein bißchen Bewegung hätte. Auch angekündigte Ausflüge zum Pub wurden endlos hinausgeschoben. Dann machten sie einen im Frühjahr und Melle ging plötzlich mindestens zwanzig Schritte auf dem „Boulevard“, wie er es nannte, viel mehr als bei den vier oder fünf Gelegenheiten zuvor.
Kurz danach ging es ihm so schlecht, daß er ins Krankenhaus gebracht wurde. Annelies besuchte ihn natürlich. Dann kamen seine Tochter, und sein Bruder und sein Vetter mit ihren Frauen.Während sie da waren, machte Annelies keine Besuche, traf aber Melles Verwandte, die sie schon einmal kennengelernt hatte. Es ging Melle besser, die Ärzte hatten vor, ihn in das Krankenhaus der Kleinstadt bringen zu lassen. Die Verwandten reisten wieder zurück nach Holland und Kanada. Annelies saß an Melles Bett und hielt seine Hand, und Melle war ganz zuversichtlich. Annelies fuhr nach Hause und machte sich an die Arbeit, einen neuen Bademantel für Melle, der ihm zu eng war, weiter zu machen. Am nächsten Tag bekam sie einen Anruf von Melles Tochter, die ihr mitteilte, daß Melle gestorben sei.
Die Verwandten kamen wieder. Sie konnten Annelies gar nicht genug danken für alles, was sie für Melle getan hätte. Annelies fand, sie hätte gar nichts spektakuläres getan. Das Haus mußte ausgeräumt und sauber gemacht werden, da es verkauft wurde. Die Tochter nahm einige Sachen, die sie behalten wollte, und Annelies wurde aufgefordert, alles andere zu nehmen, was ihr gefiel.
Nun hat Annelies in ihrem Haus das englische Teekännchen, etliche Handtücher, die noch ganz neu gewesen waren, ein kleines Regal, das sie mal für Melle entworfen und beim Schreiner in Auftrag gegeben hat,die Pillenschachteln, und ein Foto von Melle, das seine Tochter ihr gegeben hat.