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Meisterleistung
Mein Leben verlief bis jetzt immer geradlinig. Nach der Grundschule kam ich mit einer außergewöhnlich guten Empfehlung auf unser städtisches Gymnasium. Dort wurde ich dann prompt zur Klassen-, später zur Schulsprecherin, gewählt und überragte jeden mit meinen Noten. Natürlich war ich fest davon überzeugt, dass alles so weiter laufen würde. Deshalb entschloss ich mich nach meinem Abitur, das ich mit einer Note von 1,0 bestand, Medizin zu studieren.
Die ersten beiden Semester waren einfach ein Traum. Ich verliebte mich sofort in die Uni. So groß wie sie ist, mit den vielen alten Hörsälen aus leicht goldbraun glänzenden Holzwänden und Böden gefertigt. Die romantischen Fenster, mit den bunten Glaselementen, die man sich stundenlang ansehen kann und immer etwas anderes darin sieht. Ich blühte innerlich auf und hängte mich voll und ganz in mein Studium. Die Klausuren schrieb ich mit links. Oft saß ich ewig in der Bücherei und las in riesigen, alten und verstaubten Medizinbüchern, die schon lange niemanden mehr interessierten, mich jedoch vollkommen fesselten. Alles lief perfekt. Ich war sogar leicht traurig, als die Semesterferien begannen und ich für längere Zeit nicht mehr den wunderbaren Geruch des alten Gebäudes in mir aufnehmen konnte. Ich entschloss mich über die freie Zeit zurück zu meinen Eltern zu fahren und mich auf die bevorstehenden Klausuren vorzubereiten. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in diesen Tagen einmal mit meiner Familie gegessen, etwas unternommen, oder meine alten Freunde getroffen hätte. Wie in Trance saß ich vor meinem Schreibtisch und lernte. In meinem Herzen breitete sich eine alles verschlingende Leere aus. Ich dachte an die alten dicken Bücher in der Universitäts-Bibliothek und das befriedigende Geräusch des knarrenden Holzbodens, wenn ich mit hohen Schuhen darüber lief. Meine Konzentration war am Boden. Ich lag nur noch auf meinem Bett und starrte an die Decke. Meine Eltern machten sich schon Sorgen. Fragten, ob sie nicht den Arzt holen sollten, ob ich krank sei, was ich bloß hätte.
Am zehnten Tag reiste ich dann ab. Den ganzen Weg im Zug hatte ich keinen anderen Gedanken, als zurück zu gehen. So schnell wie möglich zurück nach Hause. In meine Einzimmerwohnung zwei Blocks von der Uni entfernt, in die Bibliothek, meine Bibliothek und natürlich in die wunderbaren Hörsäle, deren Holztische sich, wenn man darüber strich glatt und wertvoll anfühlten.
Ich lebte für die Klausuren in den Semesterferien. Kam zwei bis drei Stunden früher in den Saal, um an den wunderschönen Fenstern zu sitzen und mich noch einmal zu sammeln. Mein Bleistift lag gespitzt vor mir, daneben eine Thermoskanne Tee. Alles war perfekt, wie immer. Mit Tränen in den Augen befühlte ich den Papierbogen und strich über das Blatt mit den Fragen. Mein Herz schlug schneller und mein Stift glitt fast von selbst darüber. Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus und ich war überzeugt meine Meisterleistung abzugeben. Obwohl ich schon vor allen anderen fertig war und insgesamt nur drei Stunden gebraucht hatte, blieb ich noch lange auf meinem Stuhl sitzen und hielt meine Arbeit in den Händen. Fühlte die Schrift, schloss die Augen und sog die Sätze noch einmal voller Glück in mich ein.
Je näher sich die Klausur dem Ende neigte, desto nervöser wurde ich. Der Schweiß trat mir auf die Stirn und ich bemerkte, dass ich zuerst leicht, dann immer stärker zitterte. Es war soweit, ich musste mich von meiner Arbeit trennen.
Ich konnte es nicht! Bald saß ich alleine in dem riesigen Saal und starrte den Professor an, der langsam, aber bestimmt auf mich zu kam. „Sie müssen abgeben“, hörte ich ihn weit entfernt sagen „Die Zeit ist um.“ Er nahm mir die Blätter aus der Hand und stapelte alle sorgfältig aufeinander. Wie erstarrt blickte ich ihm hinterher, als er aus der Tür ging und sich vorher noch einmal kurz zu mir umdrehte. Es war schon stockfinster, als ich den Hörsaal verließ und mich zu Hause auf mein Bett warf um auf das Ergebnis zu warten.
Die Zeit schlich dahin. Sie kam mir nicht nur langsam vor, manchmal glaubte ich, sie sei stehen geblieben. Und immer noch lag ich auf meinem Bett und wartete. Bald war es soweit, die Ergebnisse würden in der Uni aushängen. Ich lebte nur noch für diesen Tag, genauso wie ich davor nur für den Tag der Klausur gelebt hatte. Mein ganzer Körper stand unter Strom. Klingelte das Telefon nahm ich nicht ab, läutete es an der Tür öffnete ich sie nicht, hatte ich Hunger zerkaute ich eine Vitamintablette oder stopfte tonnenweise Süßes in mich hinein, um die schreckliche Qual des Wartens durch lähmende Übelkeit zu ersetzen. Tage wurden zu Jahrzehnten, Stunden zu Jahren und Minuten zu Monaten. Eine Sekunde war länger als hundert Atemzüge.
Dann war es endlich so weit. Der Morgen des Ergebnisses war gekommen. Ich schlief die Nacht davor nicht, machte mich schon um kurz vor fünf auf den Weg zur Uni und stellte mich wie angewurzelt vor den verschlossenen Eingang. Die Sonne ging langsam auf und kündete den neuen Tag an, der mir meine ersehnte Befriedigung schenken würde.
Mit Gänsehaut auf dem Rücken lief ich den langen Gang entlang. Meine Schuhe klapperten wohltuend auf dem Holzboden. Meine Nerven beruhigten sich je näher ich der Ergebnistafel kam. Ich war die einzige die schon da war. Sehnsüchtig bahnte sich mein Blick einen Weg durch die Namen, die mit schwarzer Tinte auf einem grellgelben Hintergrund gedruckt waren. Es war endlich soweit. Gleich war es geschafft. Da, ich sah meinen Namen, in geraden Lettern geschrieben. Meine Augen verfolgten die Tabelle, bis zu dem Ergebnis.
Mein Herz blieb stehen. Augenblicklich gefror mein pochendes Blut in den Adern. Ein riesiger Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich schloss die Augen und spürte wie kochendheiße Tränen über meine Wangen flossen. Ein eiskalter Schauer durchfuhr mich und ich öffnete die Augen um alles erneut zu überprüfen. Da stand es, unveränderbar. 1,9. Ich ging einen Schritt näher auf die Tafel zu. Was war passiert? Alles war vergeblich gewesen. Ich hatte versagt. Noch nie in meinem Leben hatte ich dieses schreckliche Gefühl. Alles war sinnlos. Mein Kopf war leer. Ich fühlte nichts mehr, außer einen stechenden Schmerz, der sich wie eine unheilbare Seuche in mir ausbreitete und mich langsam vernichtete. Meine Umwelt nahm ich kaum noch war. Schwankend verließ ich das Gebäude und wandte mich zu ihm um. Da stand er vor mir, groß und protzig. Der Ort, der mein gesamtes Leben zerstört hatte. Zitternd kramte ich in meiner Tasche und zog eine Schachtel Zigaretten heraus, die dort sicher schon seit Monaten lag. Mein silbernes Feuerzeug in der anderen Hand zündete ich sie an und nahm einen Zug. So lange hatte ich den süßen Geschmack des Tabaks nicht mehr gespürt. Ich sog ihn tief in meine Lungen. Langsam drehte ich mich dann zur Seite. Ein großes Schild ragte vor mir auf: Vorsicht! Brandgefahr, äußerst trockenes Gelände.
Ein kurzes Lächeln huschte über meine Lippen und ich sah dankbar auf die glühendheiße Sonne, die schon seit Tagen die Erde verdörrte. Ein letztes mal betrachtete ich die Uni. Was eben noch wunderschön war und mein Leben bedeutete, hatte mich verraten und mich im Stich gelassen. Ein leichter Windhauch huschte über mich hinweg und nahm den glühenden Zigarettenstummel mit sich.
Die Flammen loderten. Zuerst leicht und kaum merklich, doch dann immer größer und wilder. Vom listigen Wind gespeist.
Eine Zufriedenheit breitete sich in mir aus. Ich lief zurück zu meiner Wohnung und legte mich auf mein Bett, um von weitem dem schrillen Singen der verzweifelten Feuerwehrsirenen zuzuhören...