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Meinungsfreiheit oder so
Ich starrte aus dem Fenster. Sah Autos, Abgase und vor allem Menschen. Wie sie da durch die Strassen hasteten, wahrscheinlich nur wieder ihre Termine und Karriere im Kopf. Warum merkten sie eigentlich nicht, dass ihr Leben so schön war? Verglichen mit den Strassenmädchen von Moskau. Oder den Kindersoldaten von Angola. Oder…ach, wenn ich über all die verletzten und gedemütigten Kinder dieser Welt sprechen wollte, müsste ich mir schon ein paar Monate Zeit nehmen. Frieden, gab es dieses Wort überhaupt noch? There is no way to Peace, PEACE is the way, hatte mal ein sehr intelligenter Mensch gesagt. Aber Frieden, den kannte man und frau doch gar nicht mehr! Was war aus Liebe zur Welt und zu den Mitmenschen geworden? Mein Kopf dröhnte schon vor lauter unbeantworteten Fragen. Wie sollte man sich da bloss auf Geschichte konzentrieren können? „Alexandra, ich glaube nicht, dass du die Antwort auf meine Frage in der Aussenwelt finden kannst!“, sagte Herr Daske mit einem zynischen Unterton. Blödmann. „Also, was kennt ihr so für Kinderrechte?“ Wenn das hier ein Film gewesen wäre, hätte man sicher die Grillen zirpen hören können. Absolute Grabesstille. „Nun kommt schon! Irgendetwas wird euch doch einfallen!“, maulte der Daske rum. Ich hob die Hand hoch. „Ich denke, man hat sicher mal ein Recht darauf, in die Schule zu gehen und Essen zu bekommen!“ – „Schon mal ein Anfang. Aber dazu kommen noch viel mehr!“ Er drehte die Wandtafelseite um.
Kinder haben Rechte
1. Das Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht
2. Das Recht auf einen Namen und eine Staatszugehörigkeit
3. Das Recht auf Gesundheit
4. Das Recht auf Bildung und Ausbildung
5. Das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung
6. Das Recht, sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln
7. Das Recht auf eine Privatsphäre und eine Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens
8. Das Recht auf sofortige Hilfe in Katastrophen und Notlagen und auf Schutz vor Grausamkeit, Vernachlässigung, Ausnutzung und Verfolgung
9. Das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause
10. Das Recht auf Betreuung bei Behinderung
„Gerade den sechsten Punkt möchte ich gerne besprechen“, Daske fuhr sich mit der Hand über seinen Dreitagebart. „Was glaubt ihr, was bedeutet das genau? Ja, Josefine?“ Josie liess ihre Hand sinken, holte tief Luft und sagte klar und deutlich: „Ich denke, das heisst, das andere dazu verpflichtet sind, uns das sagen zu lassen, was wir sagen wollen. Wir haben ein Recht auf Meinungsfreiheit und Information, egal von wem.“ Ach, Josefine. Meine beste Freundin und Klassenbeste. Daske nickte nachdenklich mit dem Kopf. „Sehr gut. Ich weiss was ihr jetzt denkt. Meinungsunterdrückung ist entweder längst Vergangenheit oder weit weit weg von euch, in Afrika oder Südkorea. Aber dieser Gedanke ist falsch. Es gibt heute noch mehr als genug Meinungsunterdrückung, auch in Deutschland. Oft fürchten sich die Betroffenen davor, mit einer Vertrauensperson zu sprechen, oder sie denken, dass, was man ihnen antut, sei richtig. Meist sind es die eigenen Eltern, die nicht zulassen wollen, dass ihr Kind den aus ihrer Sicht falschen Weg eingeht. Manchmal ist sogar Gewalt im Spiel. Ihr müsst…“ In dem Moment klingelte es zur Mittagspause. Ich packte mein Federmäppchen und meine Bücher in meine Tasche und hakte mich bei Josie ein, die gleich losquasselte. „Was Daske wieder für einen Quatsch erzählt hat! Kinderrechte! Die gehen doch sowieso allen am Arsch vorbei! Echt. Ach, was ich dir noch erzählen wollte, ich hab ihn endlich gefunden! Meinen Traumberuf, meine ich. Du weisst ja, wie wählerisch ich bin. Aber Innendekorateurin ist ja auch ein so toller Job…“ So laberte Josefine wie immer vor sich hin, während ich mir den Begriff „Traumberuf“ durch den Kopf gehen liess. Meine Zukunft kannte ich schon seit der fünften Klasse. Nach dem Abi wollte ich Politikwissenschaft studieren und mich für die Menschenrechte und Entwicklungshilfe einsetzen! Davon träumte ich Tag und Nacht. Vielleicht war ich nur ein Wassertropfen, der nichts ändern konnte auf Erden, aber aus vielen Tropfen konnten doch schliesslich Wasserfälle werden, oder? Auch wenn meine Eltern mir ständig mit ihren „Du-bist-zu-jung-um-Politik-zu-verstehen-Reden in den Ohren lagen. Es war mein Traum, und Träume gab man nicht auf, nicht mal, wenn die ganze Welt gegen einen war! Vor der Bushaltestelle verabschiedete sich Josie von mir und ich trottete nach Hause. Dort empfing mich mein Vater mit einem nicht gerade leisen; „Herrgott nochmal, kommst du eigentlich auch mal pünktlich??“ Jeden Tag dieselbe Leier. Papa hatte diese Lebenseinstellung, dass alles nach ihm gehen müsse, dass alles, was sich von der Norm abhebt, schlecht sein muss – total konservativ halt. Und rassistisch war er auch noch! „Diese scheiss Türken, erst nehmen sie uns die Arbeit weg, und jetzt fangen sie auch noch zu randalieren an! Verdammte Ausländer!“, schimpfte er gerade über den Artikel seiner nationalen Zeitung. Bitte?? „Die Türken sind nicht schuld daran, dass wir keine Arbeit haben! Die Finanzkrise greift uns einfach mehr an, als wir glauben.“ Ist doch wahr. Papa schlug mit wutverzerrtem Gesicht die Faust auf den Tisch. „Halt den Mund! Du hast doch keine Ahnung von Politik! Nimm dir besser mal ein Beispiel an deiner grossen Schwester Lola! Die weiss noch, was Nationalstolz ist!“, brüllte er mich an. Mama, die neben mir sass, schluckte aber sagte nichts. Ich wusste nicht, ob meine schlechte Mathenote heute Morgen, Mamas Schweigen oder einfach nur die Situation der Welt mich dazu veranlasste, endlich alles raus zulassen, was sich schon seit Monaten in meinem Kopf widerspiegelte. Perfekte Lola! Immer wurde meine Schwester mir vorgezogen, nur weil sie sich der politischen Meinung meines Vaters angepasst hatte und den Jungen Nationaldemokraten beigetreten war. Ich schämte mich so sehr. Das konnte nicht meine Schwester sein! „Ich halt ganz bestimmt nicht den Mund! Lies doch mal die Kinderrechte durch, da steht meine Meinungsfreiheit drin. Ich hab keine Ahnung von Politik? Sagt jemand, dem die anderen Menschen scheissegal sind, solange er nur seinen Willen bekommt! Wir leben verdammt noch mal nicht mehr im 19. Jahrhundert!“, schrie ich meine Gedanken raus. Und so begann alles.
Tag für Tag wurden meine Stimme laut und meine Augen nass. Weil ich meine Gedanken aussprach und das tat, was ich wollte. Und nach jedem Streit raste ich in mein Zimmer und fuhr meine Arbeit an einem Plakat fort, welches meine Meinung zu Rassismus und dem heutigen immer noch verbreiteten Antisemitismus kundtat. Denn das war meine Meinung. Und die konnte mir niemand nehmen. Das Plakat versteckte ich unter meinem Bett. Alles ging gut, bis Mama es an einem sonnigen Montag im Mai unter dem Bett fand – und es Papa zeigte. Ich kam am Abend müde vom Musikunterricht nach Hause und lief fast in meine Eltern rein, die sich wie eine Mauer vor mir aufbauten. „Was soll das mit diesem Plakat werden?“, zischte meine Mutter. Das erschreckte mich nicht, dass Mama auf einmal auch so abwertend mit mir redete, im Gegenteil, es machte mich nur noch wütender. „Ich gebe meine Meinung in der Öffentlichkeit kund!“, erwiderte ich ruhig und wollte an ihnen vorbei, doch mein Vater schubste mich zurück. „Lieber ein unrealistischer Idealist als ein realistischer Rassist? Du verbrennst dieses Plakat auf der Stelle! Was fällt dir ein??“, brüllte er. „Das werde ich nicht tun! Ich nehme keine Befehle mehr von dir entgegen! Die Zeiten sind vorbei! Ich hab nun mal eine idealistische Einstellung! Und? Ich habe Meinungsfreiheit, das steht in den Frauenrechten, den Kinderrechten, den Menschenrechten und den Schülerrechten! Nur weil ihr meine Eltern sind, muss ich nicht gleich eure Denkweise übernehmen!“, schrie ich zurück. Mein Vater schlug zu. Einmal, zweimal, dreimal… „Halt den Mund!“, keifte er dabei. Ich riss mich los, fassungslos, mit blutender Nase und rannte aus unserer Wohnung. Josefine war nicht zuhause. Aber ich musste mit jemanden reden! Was sollte ich bloss tun? Ich liebte meine Eltern doch. Aber das, was sie mir antaten, dass konnte ich nicht einfach akzeptieren. Schluchzend lief ich weiter, bis ich an der Schule vorbeilief und stehen blieb. Es war verrückt. Total verrückt. Aber andererseits… Entschlossen öffnete ich die Tür und stapfte die Treppen hinauf.
„Alexandra? Was machst du denn hier? Und wie siehst du überhaupt aus??“, fragte mich Herr Daske verstört. Ich sagte nichts und er liess mich erst mal eintreten. Noch einmal holte ich tief Luft und erzählte ihm dann alles. Über Papa und Mama und mich. Er hörte mir ruhig zu und am Schluss kam er auf mich zu. „Das ist sehr mutig von dir, damit zu mir zu kommen. Ich werde mich mit dem Jugendamt in Verbindung setzen, die reden erst mal mit deinen Eltern. Aber fürs Erste kannst du nicht nach Hause zurück. Dein Vater hat Gewalt angewandt, und das darf er bei allem guten Willen nicht. Auch wenn er dein Erzeuger ist! Aber wenn ich dich ihnen einfach wegnehme, dann können sie mich wegen Kindesentführung anzeigen. Heute Nacht schläfst du einfach als Übergang im Sanitärsraum der Schule. Morgen gehen wir dann zu einer ganz netten Frau, die mit dir eine Lösung suchen und hoffentlich auch finden wird. Ist das in Ordnung?" Ich schwieg und hielt mir ein Taschentuch an die Nase. Ob es gut gewesen war, abzuhauen? Übertrieb ich etwa? Ach, Mama. Meine Schuldgefühle brannten in der Magengegend. Wahrscheinlich würde es ein Riesentrarara geben wegen mir. Hatte ich denn wirklich das Richtige getan? Ich wollte nicht, dass meine Familie so kaputtging. Daske sah mich mit einer Mischung aus Mitgefühl und Verwirrtheit an. Es klopfte und ein dunkelblonder Junge öffnete die Tür. „Alexandra, darf ich vorstellen, mein Sohn Linus. Ich komm gleich wieder, hol mir nur schnell einen Kaffee!“ Schwupps, und er verschwand. Linus sah mich lange an und lächelte dann. Ich lächelte zurück und wusste ab dem Moment, dass es richtig gewesen war, mich zu wehren. Ich war ich. Und später, wenn ich erwachsen war, würde ich mich für die Kinderrechte einsetzen, ganz bestimmt! „Sag mal, hast du nicht mal Lust auf ein Eis oder so?“, sagte Linus gerade. Für manche Dinge lohnte es sich einfach, zu kämpfen…