Mitglied
- Beitritt
- 17.04.2011
- Beiträge
- 120
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
MeinLeben
„Danke“, sage ich zu dem jungen Mann und nehme mein Handy wieder entgegen. Sabine hat sich das Lebkuchen-Herz um den Hals gehängt, guckt mit mir zusammen auf das Foto. Arm in Arm sieht man uns Lebkuchen knabbern. Musik mischt sich mit gelegentlichen Sirenen und Gelächter. Es riecht nach Popcorn und Bratwurst. Sekunden später ist auch dieses Foto bei MeinLeben sichtbar.
„Und jetzt?“ Sie hält meine beiden Hände, schmiegt sich an mich, legt ihren Kopf auf meine Schulter. „Geisterbahn!“, flüstert sie in mein Ohr und zieht mich an einer Hand in Richtung tanzender Skelette und lachender Hexen. Wenn die Welt explodieren müsste, dann bitte jetzt.
Senden. Einen Moment liegt die Mail an meinen Vater im Ausgangskorb, dann ist sie weg. Er soll das Buch „Unser Kind“ suchen. Ich muss nachgucken, was ich gemacht habe, bevor ich in die Schule kam. Hoffentlich liest er die Mail nicht erst in drei Tagen. Ich habe ihm schon oft erklärt, dass er seine Mails mehrmals täglich checken soll. Das gehört sich so, wenn man schon nicht bei MeinLeben ist. Mein Blick schweift zu dem Foto auf meinem Schreibtisch, auf dem Sabine und ich gleichzeitig in ein Lebkuchenherz beißen. Selbst jetzt noch spüre ich das Kribbeln von damals, dieses Gefühl zu schweben. Es fällt mir schwer, auf die nächsten Semesterferien zu warten. Ich schließe die Augen und sehe sie wieder aus dem Zug steigen. Wir knutschen noch auf dem Bahnsteig, ich nehme ihre Tasche, und nach einem kurzen Stopp bei mir im Wohnheim, gehen wir auf den Jahrmarkt.
„Ich habe jetzt auch eine Antwort. Sie sagen, es fehlt die Zeit, bevor ich zur Schule gegangen bin :-O “, chattet Sabine.
Genau wie bei mir. Die von MeinLeben sind gründlich.
„Wann ich angefangen habe zu sprechen, und wann ich aus den Windeln raus war. Woher soll ich das denn wissen?“, erscheint die nächste Zeile, bevor ich geantwortet habe.
„Hey, du warst doch damals dabei ;-)“
„Du erinnerst dich an so was?“
„Klar. Für den Premium-Account kann ich ganz tief graben.“
„Und wenn ich mich nicht erinnere? :-( Was dann?“
„Deine Eltern. Die haben bestimmt deine Kindheit in einem Buch festgehalten. Haben damals alle gemacht.“
„Thx“
Seit ein paar Wochen kann man bei MeinLeben einen digitalen Zeitstrahl anlegen.
„Du ziehst das tatsächlich durch?“ Ich höre, wie Toni seinen Tee schlürft, während er mir über die Schulter guckt.
„Noch kriegt man den Premium-Account kostenlos. Später ist das bestimmt so ein Abo-Modell, wo man ewig zahlt.“
„Man soll dafür zahlen?“, starrt er mich an. „Aber die kriegen doch schon alle Informationen über dich. Jedes Foto, jeder Chat-Schnipsel, jedes gesehene Video halten sie fest.“
„Das ist die einzige Stelle, wo mal alles zusammengetragen ist. Du kannst durch dein ganzes Leben blättern und jedes Detail nachgucken.“
„Genauso wie jeder andere auf der Welt.“
„Jeder mit einem Premium-Account wird das können.“ Ich drehe mich in meinem Schreibtischstuhl zu ihm um. „Das hat es noch nie gegeben!“
„Die bei MeinLeben müssen doch bescheuert sein. Das kann doch nur ein Flop werden.“ Er geht zur Tür. „Oder demnächst kriegt man einen Korb mit den Worten: Du, also ich finde dich ja ganz nett. Aber der erste Satz, den Du gesagt hast, war einfach uncool. Lass uns Freunde bleiben, ok?“ Mit einem breiteren Grinsen hat noch nie jemand mein Zimmer verlassen.
Mein Blick pendelt zwischen Teller und Handy. Unzählige Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr, aber ich höre nicht hin. Die MeinLeben-App hält mich auf dem Laufenden über alles, was um mich herum passiert. Nur Anfänger gucken noch auf Campus-Pinnwände. Wenn es nicht bei MeinLeben steht, ist es nicht wichtig. Wann stellen sie endlich die Vorlesungsvideos direkt online? Die Skripte sind doch eh schon alle im Netz. Es nervt, sich durch verschiedene Versionen der gleichen Vorlesung zu graben, alle aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgenommen.
„Darf ich?“ fragt ein Mädel, während sie ihr Tablett vor meines schiebt und gegenüber Platz nimmt. Ich deute ein Nicken an. Toni schreibt, er glaube, Marketing II endlich begriffen zu haben. „Sag ich doch. So schwer ist der Stoff nicht“, texte ich zurück.
„Bist Du nachher auch beim Tutorium?“
Ich gucke kurz hoch, sehe sie lächeln, schaue wieder auf das Display.
„Ich habe mir das Skript geladen.“
„Heute Abend gehe ich meine Notizen durch. Da kann ich bestimmt jemanden brauchen, der mir Fragen beantwortet.“
Ralf ist gerade durch die Mündliche gerauscht. Das war schon der zweite Versuch für Mathe. „Wie kann man nur so blöd sein!“
Ich spüre, wie sie mich anstarrt. Hat sie was gefragt?
„Weißt du was?“ Sie schiebt ihren Stuhl zurück, nimmt das Tablett und geht. „Kleb‘ dir das Ding doch an die Stirn!“
Verwirrt schaue ich ihr einen Moment hinterher, bevor mein Blick wieder auf dem Display einrastet. Wer war das eigentlich? Gäbe es eine Abstimmung für Namensschilder auf dem Campus, würde ich dafür stimmen. Bei MeinLeben muss doch auch jeder seinen richtigen Namen angeben.
„Ich bin überrascht, dass du dich auf einmal für deine Kindheit interessierst.“ Das Buch „Unser Kind“ liegt zwischen meinem Vater und mir auf dem Couchtisch, neben einer Schale Kekse.
„Kann ich es ausleihen?“
„Meinst du so ausleihen, wie du dir das Foto-Album mit unseren Familienurlauben geliehen hast?“
Mein Handy summt. Reflexartig greife ich in meine Hosentasche, ziehe die Hand aber sofort wieder zurück, als ich seinen Blick sehe.
„Die paar Tage, die du es ausleihen wolltest, sind schon eine ganze Weile vorbei.“
„Ich bringe es nächstes Mal mit. Ehrlich.“ Ich angele mir ein Waffelröllchen.
„Ich gucke da gerne rein. Wir hatten so eine schöne Zeit zusammen.“
Ich greife nach dem Buch. „Also kann ich es ausleihen.“
„Ganz sicher nicht. Es bedeutet mir zu viel.“ Er lehnt sich zurück. „Aber wir können es uns zusammen angucken. Zu fast jedem Eintrag kann ich eine Geschichte erzählen.“
„Ein anderes Mal gerne.“ Der Geschmack des Waffelröllchens erinnert mich daran, dass die Kekse hier nur zur Dekoration stehen.
„Das sagst du immer.“
Ich ziehe das Handy aus der Tasche, öffne die Foto-App. „Kann ich ein paar Seiten fotografieren?“
„Ich verstehe nicht, was du mit Fotos einzelner Seiten willst.“ Er hebt sich aus seinem Sessel. „Die Erinnerung kommt nur beim Blättern.“
„Erkläre ich dir später“, antworte ich, bevor ich auf das Kamera-Icon des Displays tippe.
Auf dem einen Bildschirm die Fotos, auf dem anderen die MeinLeben-Webseite, übertrage ich die Fakten meiner Kindheit. Anscheinend war ich 51cm groß und habe 3987g gewogen. Erste Schritte mit zwei Jahren. Meinen ersten Satz habe ich mit zweieinhalb Jahren gesprochen. „Bin noch nicht fertig mit schlafen“, erscheint mir nicht gerade spektakulär. Ich kippe den Rest Tee in meinen Mund, wieder mal zu schnell, sodass ich huste.
Was da wohl bei den anderen steht? Sobald ich den Premium-Account habe, kann ich bei meinen Freunden nachsehen. Zumindest bei denen, die bei MeinLeben sind. Der Zähler auf der Webseite verkündet, dass schon über fünfhunderttausend einen Premium-Account haben. Weitere drei Millionen sind im Antragsverfahren.
Wann war ich aus den Windeln raus? Keine Ahnung, aber meine Eltern haben alles notiert. „Tagsüber ohne Windeln mit dreieinhalb, nachts mit fünf Jahren“. Ich springe von meinem Schreibtischstuhl auf, werfe mich auf mein Sofa. Das kann nicht sein. Das kann ich doch nicht reinschreiben. Man wird mich auslachen. Mit fünf Jahren noch in Windeln? Scheiße.
Ich atme tief durch, gehe zurück an den Schreibtisch, und beantworte die Frage mit drei Jahren. Das merkt doch eh keiner.
„Nach Prüfung wurde eine fehlende Beziehungsangabe mit folgendem User festgestellt: Melanie Fischer. Ein Beleg liegt vor. Nehmen sie diese Beziehung an?“, meldet sich MeinLeben bei mir. Darunter die bekannte Ja/Nein-Auswahl mit Kommentarfeld.
Ich stoße mich vom Schreibtisch ab. Spinnen die? Es gab nur Sabine. Wir kennen uns, seit ich laufen kann. Oder zählen jetzt auch schon Doktorspiele im Kindergarten als Beziehung? Wer ist Melanie Fischer überhaupt? Ich folge dem Link ins Profil. Das Gesicht auf dem Foto ist mir unbekannt. Mehr darf ich nicht sehen, schließlich bin ich noch im Antragsverfahren.
Ich klicke auf „Nein“ und ergänze „Die Frau ist mir unbekannt. Kann ich den Foto-Beleg sehen?“
Melanie Fischer muss mich verwechselt haben. Die Antwort von MeinLeben kommt verdächtig schnell.
„Die Betrachtung dieses Fotos ist aufgrund des Freigabe-Status nur für Premium-Mitglieder möglich. Ihr Anliegen wurde an Melanie Fischer weitergeleitet.“ Auf das Foto bin ich gespannt. „Eines der Grundprinzipien des Zeitstrahls von MeinLeben ist es, dass alle Angaben vollständig korrekt sind. Der Beleg zu dieser Beziehung wurde bereits bestätigt. Eine spätere Wiederaufnahme des Antragsverfahrens ist aus technischen Gründen nicht möglich. Bitte bestätigen Sie, dass Sie durch Ablehnung der Beziehung aus dem Antragsverfahren ausgeschlossen werden möchten.“
Meine Tasse knallt auf die Tischplatte. Das gibt‘s doch nicht! Was soll der Scheiß?
Immer noch keine Nachricht von Melanie. Ich habe schon dreimal bei MeinLeben nachgefragt. Aber als Antwort erhalte ich nur den Textbaustein „Mitglieder ohne Premium-Account können die Premium-Mitglieder nicht von sich heraus anschreiben.“ Nur antworten ist vorgesehen. Mit einer Hand fahre ich mir durch die Haare. Wenn ich wenigstens eine Telefonnummer kriegen könnte, oder eine Adresse.
Sabine meldet sich im Chat.
„Ich habe für unsere Beziehung das Foto hochgeladen, das bei dir auf dem Schreibtisch steht. Das passt am besten.“
„Das habe ich auch genommen.“
„:-X“
„Ich dich auch.“ Ich schließe die Augen, stelle mir Sabine vor, wie wir bald wieder auf den Jahrmarkt gehen werden. In der Geisterbahn wird sie sich wieder an mich kuscheln. Im Geiste streiche ich durch ihr Haar, lausche ihrer Stimme. Ich mag unser kleines Ritual.
Nervös blicke ich zum Kalender. Ein roter Kreis markiert die Deadline für den Premium-Account. Die Zeit wird knapp und ich trete auf der Stelle. Nur im übertragenen Sinne. Tatsächlich gehe ich vor meinem Schreibtisch auf und ab. Der Fußboden knarrt. Wer ist bloß Melanie? Und warum meint sie, wir hätten eine Beziehung gehabt? Den Foto-Beleg kann ich mir gar nicht vorstellen. Sabine funkelt mich ja schon an, wenn ich einer anderen Frau nur die Hand gebe. Für mich ist das ein Zeichen, dass sie mich auf keinen Fall teilen will.
Langsam steigen Zweifel in mir auf, ob da nicht doch was gewesen sein könnte. Im Kopf gehe ich die letzten Partys durch. Vielleicht bin ich tatsächlich Melanie an den Hals gefallen. Und sie hat das falsch verstanden. Ein einziger Kontakt ist doch noch keine Beziehung! Aber er würde das Foto erklären. Scheiße.
Von Melanie wird nichts kommen, davon bin ich inzwischen überzeugt. Ich wage es. Kurz darauf erscheint in meinem Profil eine Beziehung mit Melanie. Sobald ich den Premium-Account habe, kann ich sie anschreiben und das Ganze aufklären. Vor Idioten ist man anscheinend selbst bei MeinLeben nicht gefeit.
Bei einer Tasse Tee stöbere ich durch Ralfs Zeitstrahl. Geburtsdaten, erste Worte, erste Schritte. Fahrradfahren, Seepferdchen, Einschulung. Moment mal. Ralf kann nicht im gleichen Jahr eingeschult worden sein, wie ich. Ich weiß genau, dass er in der dritten Klasse bei uns auftauchte, weil er sitzen geblieben war. Sein Jahrgangsfoto zeigt eindeutig andere Mitschüler, als meines. Aber die in der Mitte hochgehaltene Jahreszahl ist die gleiche. Einen Schluck Tee später wird mir schlagartig klar, wie Ralfs Jahrgangsfoto entstanden ist. Aber wie ist er damit durch die Validitätsprüfung gekommen? MeinLeben vergleicht doch bestimmt die Jahrgangsfotos untereinander. So wie sie alle Angaben vergleichen.
Ich will Ralf gerade anchatten, da meldet sich Sabine.
„Wie konnte ich blöde Kuh nur glauben, du seist anders als andere!“ Ich sehe sie fauchend vor mir, dabei lese ich nur ihre Worte. „Dann kann ich mich ja auch einem anderen an den Hals werfen. Scheint dir ja nicht wichtig zu sein.“
„Lass mich erklären.“
Sabine schweigt. Wahrscheinlich starrt sie mit hochrotem Kopf und Tränen in den Augen auf den Bildschirm. So wie immer, wenn sie richtig wütend ist.
„Ich kenne Melanie nicht. Ich hatte nie was mit ihr“, tippe ich so schnell ich kann. „Ich bin dabei, das zu klären. Aber sie antwortet nicht. Ich habe die Beziehung nur bestätigt, damit ich den Premium-Account kriege und endlich mit ihr Kontakt aufnehmen kann. Da war nichts zwischen uns. Ehrlich.“
Vor meinen Augen wechselt der Status unserer Beziehung auf beendet. Ich greife die leere Tasse, schleudere sie in eine Ecke, warte auf das Klirren. Stattdessen bricht nur der Henkel ab und die Tasse kullert über den Fußboden. Ich halte das Foto in der Hand, stelle es aber schnell wieder ab. Sabine wird sich schon wieder beruhigen. Meine Finger schweben über der Tastatur, wollen tippen. Aber mir fällt nicht ein, was ich schreiben soll.
„Sieh an, Mr. Es-Gibt-Nur-Eine-In-Meinem-Leben hatte also auch ein Intermezzo :-))“, textet Ralf.
Automatische Benachrichtigungen sind toll, aber gerade jetzt kann ich sie gar nicht gebrauchen.
„Sei still.“
„Hat Sabine deswegen Schluss gemacht? Was frage ich? Natürlich hat sie das.“
„Das ist ein Missverständnis. Ich bin dabei, das aufzuklären.“
„Klar, ich habe das Foto gesehen. Ein süßes Missverständnis.“
„Hör auf.“
„Ich glaube, ich erinnere mich an die Party auf dem Foto. Warst du nicht auch ganz schön angetrunken?“
„Unmöglich. Ich hatte nur ein Bier.“
Ich rufe das Foto am Bildschirm auf. Ich erinnere mich dunkel, dass ich Melanie nur berührt habe, damit sie mir etwas Platz macht. Dummerweise sieht es auf dem Foto wie eine Umarmung kurz vorm Kuss aus.
„Weißt du, wie man eine Beziehung bei MeinLeben löschen kann?“
„Löschen? Bei MeinLeben? )“
„Ja.“
„Vergiss es! Die löschen nix. Ein Kumpel wollte seinen Account gelöscht haben. Er hat sogar einen Anwalt eingeschaltet.“
Mein Blick klebt am Bildschirm.
„Der hat ihm dann erklärt, dass er praktisch keine Chance hat. Im EULA steht in Abschnitt siebzehn, dass alle eingegebenen Daten unwiderruflich in das Eigentum von MeinLeben übergehen. :-( Ich habe den Text auch nur überflogen, bevor ich zugestimmt habe.“
„8-O Und was mache ich jetzt?“
„Na, was wohl? Du schnappst dir Sabine und klärst das mit ihr!“
„Habe ich schon versucht. Sie antwortet nicht auf meine Nachrichten.“
„Komm‘ endlich mal aus deiner Online-Höhle heraus gekrochen! Fahr zu ihr hoch und sieh ihr in die Augen. Das ist zur Abwechslung mal RealLife.“
Es ist schmerzhaft, in Sabines Zeitstrahl zu stöbern. Die ausgedruckte Fahrkarte steckt zusammengefaltet in meiner Jackentasche. Das ist doch irre. Ich weiß ja nicht mal, ob sie überhaupt zu Hause ist. Ich stelle mir vor, wie ich bei ihr klingele. Was mache ich, wenn sie öffnet? Wie fange ich an? Auf meinem Handy blättere ich durch ihren Zeitstrahl. Gibt es da irgendwas, wo ich anknüpfen kann?
„Auf Gleis 1 hat Einfahrt der Intercity 7843 nach Bremen. Vorsicht am Bahnsteig.“
Fast alle der Details kenne ich, sogar den Geburtsort. Ein Kaff, aber dort wurde ich auch geboren. Nur ein knappes Jahr früher. Eine Diesellok schiebt sich an mir vorbei.
Ich blättere durch die Liste der Filme, die sie gesehen hat. Oft war ich dabei. Ich weiß auch, wann das erste Mal war. Datum und Ort stehen genauso bei mir im Profil. Vor meinen Augen sehe ich meine Hände, wie sie langsam ihr T-Shirt über den Busen schieben, spüre ihre Finger meinen Bauch hinabgleiten. Ich muss schlucken. Dass so ein Scheißfoto ausreichen kann, um unserer Beziehung so einen Schlag zu verpassen, hätte ich nie geglaubt.
„Bitte einsteigen. Die Türen schließen. Vorsicht bei der Abfahrt!“
Kaskadierendes Türknallen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich springe vor, aber der Zug bewegt sich schon. Zu spät. Ich kicke ein Steinchen über die Bahnsteigkante ins Gleisbett. Und noch eines.
Wieder eine Nachricht. Toni fragt, ob Sabine und ich zu Tonis Party kommen wollen? Hat er noch nicht mitgekriegt, was passiert ist? Oder glaubt er es nicht? Ich beginne, zu tippen.
„Hey, pass auf!“ Eine Hand reißt mich von der Bahnsteigkante zurück. Verwirrt gucke ich mich um, entdecke einen Mann, der mein Vater sein könnte. „Das ist doch gefährlich, so dicht am Gleis zu stehen.“
Erst jetzt merke ich, dass mich der nächste Zug sicher mitgerissen hätte. Herzklopfen. Schweißperlen auf meiner Stirn. Der Mann mustert mich schweigend, nimmt seine Reisetasche und geht ins Bahnhofsgebäude. „Danke“, rufe ich hinterher.
Mein Handy bestätigt das Ausschalten mit kurzer Vibration. Ich versenke es in der Jackentasche, ziehe die Fahrkarte hervor, knülle sie, werfe sie ins Gleisbett.
Zwei neue Nachrichten in meinem Posteingang am PC lassen mich hoffen. Eine davon ist von Sabine, aber es ist nur die übliche, automatisierte Info. Sie hat ein Foto hochgeladen. Ich erinnere mich. Sie war vier und hat das erste Mal bei mir übernachtet. Auf dem Foto sind wir beide bei einer Kissenschlacht zu sehen. Sie im Pyjama, ich nur noch mit T-Shirt und Windel bekleidet. Am Ende sind wir beide erschöpft eingeschlafen, im gleichen Bett.
Die zweite Nachricht ist von MeinLeben. „Eines der Grundprinzipien des Zeitstrahls von MeinLeben ist es, dass alle Angaben vollständig korrekt sind. Bei ihrem Zeitstrahl haben wir zum wiederholten Mal eine Falschangabe entdeckt. Aus diesem Grund entziehen wir ihnen den Premium-Account.“
Auch egal. Ich habe schon gar keine Lust mehr bei anderen zu graben. Ralf war nicht der Einzige, der geschummelt hat. Lediglich bei Sabine gucke ich noch herum. Ich klicke auf den nächsten Link in ihrem Zeitstrahl. „Um diesen Zeitstrahl zu betrachten, wird ein Premium-Account benötigt“, erscheint ein Hinweis. Die Glasplatte des Bilderrahmens zerspringt, als ich ihn gegen die Wand werfe.
Trockener Lebkuchen klebt an meinem Gaumen. Vor dem Geruch von Frittenfett und Fischbrötchen gibt es kein Entrinnen. Hinter mir brüllt jemand, „Das ist eine Sensation, meine Damen und Herren! Das gab es noch nie. Zum ersten Mal in Deutschland.“ Ich ziehe mein Handy hervor, stecke es wieder weg, ohne es einzuschalten. Was mache ich hier eigentlich?
Ein Schlag auf die Schulter lässt mich zusammenzucken. Jemand drückt mir ein paar Lose in die Hand und verschwindet kurz darauf in der Menge. Auf einigen Losen sind eine Reihe Herzchen abgebildet. Ich mache mir nicht die Mühe, sie zu zählen, sondern gebe sie wortlos an der Losbude ab. „Und noch ein Gewinner, meine Damen und Herren!“ Meine Hand tastet nach dem Handy, lässt es aber in der Tasche.
Einen Moment später habe ich ein rosa Plüschpferd im Arm. Erschöpft sinke ich auf eine Parkbank, setze das Plüschpferd neben mir ab. Ein kleines Mädchen guckt neidisch zu mir rüber, zerrt und zerrt am Arm ihrer Mutter. Vielleicht giert sie auch nach dem Karussell hinter mir. Ich angele mein Handy, tauche das Pferd in Blitzlicht. Dann tippe ich unter das Foto, „Meine neue Jahrmarktbegleitung. Aber mit dir war es schöner.“ Senden. Ich drehe das Handy in meiner Hand, schalte die Tastensperre ein. Aus. Ein. Aus. Gegenüber zündet sich jemand mit einem Zippo gierig eine Zigarette an, lässt den Deckel ein paar Mal schnappen. Vor meinen Füßen müht sich eine Taube mit einem halben Brötchen ab.
Ich spüre zwei kurze Vibrationen in meiner Hand. Sabine? Ich schaue auf das Display. Ihr Gesicht zittert vor meinen Augen. Ich zwinge mich, tief durchzuatmen. Noch einmal. Jetzt. Das Display leuchtet auf und gibt den Text frei.
„Bin vor der Geisterbahn.“
Kies knirscht unter meinen Schuhen.