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Meinetwegen
Er wurde vergewaltigt. Er wurde missbraucht, von der einzigen Person, von der er Hilfe erwarten konnte. Sein Onkel und Erziehungsberechtigter hatte ihn über Jahre missbraucht und manipuliert. Er erzählte mir, dass er erst viele Jahre später erkannte, was sein Onkel ihm genau angetan hatte. Was es war, was er mit ihm anstellte. Es ist schrecklich, wie man Kindern etwas vormachen kann, dass das, was wehtut doch lieb gemeint ist. Und ich hatte ihn einfach wegeschickt. Wie konnte ich nur? Ich schämte mich so. Da hatte ich eine böse Vorahnung, wo er sein könnte und diese gefiel mir ganz und gar nicht. Ich konnte nicht glauben, wie sehr ich ihn verletzt hatte. Weinend ist er aus dem Zimmer gerannt: ,,Ich hasse dich, Gabriel!´´ Gabriel, das bin ich. Der Name eines Engels, und so benahm ich mich ganz und gar nicht. Aber als ich alleine war, dachte ich nur: ,,Aber ich liebe dich doch´´
Ich zwang mich, vom Bett aufzustehen. Ich musste ihn suchen. Ihn um Verzeihung bitten, aber konnte er mir denn noch verzeihen? Ich konnte nicht fassen, was man ihm angetan hatte. Seit etwa einer Stunde lag ich so da, und dachte nach. Schließlich fasste ich einen Entschluss: dies war unser gemeinsames WG-Zimmer. Er konnte nirgendswo anders hin. Ich konnte ihn auch nicht anrufen, weil sein Handy hier auf dem Schreibtisch lag. Ich ging in den Flur und wollte schon meine Jacke anziehen, entschied mich aber dann doch um. Ich würde laufen, schnell laufen, schwitzen, daher wäre ein Verzicht auf die Jacke nicht weiter schlimm. Steffi, eine unserer Mitbewohnerinnen, trat aus der Küche: ,,Wohin des Weges?´´
Ich hatte keine Zeit, ihr die ganze Geschichte aufzutischen. ,,Ich habe etwas sehr, sehr Dummes getan, Steffi.´´, erzählte ich ihr und verließ die Wohnung, weil ich keine Lust auf weitere Fragen hatte. Außerdem war jetzt so viel Zeit vergangen, seit er abgehauen ist. Nein, seit ich ihn weggeschickt hatte. Ich hatte es doch gar nicht ernst gemeint, ich wollte nur ein wenig Freiraum. Er sollte ins Gemeinschaftszimmer, während ich all sein Leid verdaut hätte. Noah, warum bist du nur so impulsiv? Oder war ich es, der impulsiv war? Er war so verzweifelt, dass er vermutlich zu seinem Onkel gegangen war. Dachte er wirklich, dass er sich vielleicht geändert habe? Dass er ihm jetzt nicht weh tun wird?
Als ich auf der Straße war, wurde mir bewusst, dass ich die genaue Adresse nicht kannte. Ich ging in eine Richtung und als ich an einer Ampel war, schrieb ich seine Cousine an. Nein, bei ihr könnte er nicht sein, sie lebt in einer anderen Stadt. Rasch antwortete sie mir: ,,Warum?´´ Echt jetzt? Keine Zeit für sowas. Okay, ich versucht mich zu beruhigen. Vermutlich würde ich auf eine solche Frage nämlich, wie die Adresse eines Onkels laute, ähnlich reagieren. Nachdem ich ihr beichtete, dass sich zwischen Noah und mir ein schlimmer Vorfall ereignet hatte und ich mich ihr nicht weiter erklären könne, leitete sie mir die Adresse weiter.
Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit an kam, hoffte ich inständig, dass es noch nicht zu spät sei. Doch eine dreiste Stimme in mir, wies mich daraufhin, dass es einfach zu viel Zeit vergangen war. Das hieß, wenn Noah hier war, dann war es zu spät, um ihm zu helfen. Der Vorsprung war zu groß. Also war mein Liebster, seit etwa einer Stunde bei seinem Peiniger und nächstem Blutsverwandten. Trotz alledem, hatte ich das Gefühl, dass ich heute vom Glück verfolgt wurde. Natürlich wusste ich, dass dies ein absurder Gedanke war. Vorhin wurde ich nur beinahe von einem Wagen überfahren, ich konnte mich in letzter Sekunde retten und jetzt kam eine ältere Dame aus dem Gebäude. Somit musste ich hier unten nicht voller Nervosität warten, bis mir jemand öffnete. Ich rannte die Treppen hoch und wäre fast auf die Nase gefallen, weil ich drei oder Vier Stufen auf einmal nahm. Schweratmend und mit pochendem Herzen klopfte ich zunächst, trat und hämmerte aber dann gegen die Tür. Am Namensschild stand ,,Gesser´´, was für ein scheußlicher Name. Auch Noah selbst fand seinen Zunamen nicht besonders prickelnd. Wenn man in diesem ach so, freiheitlich-demokratischen Land, endlich die gleichgeschlechtliche Ehe einführen würde, dann würde mein Liebling, meinen Namen tragen. Als ob niemand wahrgenommen hätte, dass ich rein wollte, klingelte ich jetzt auch noch. Schließlich hörte ich drinnen Schritte. Jemand schleifte sich förmlich zur Haustür.
,,Bin ja da …´´, brabbelte Noahs Onkel. Er machte die Tür auf und fragte: ,,Huh… Wer bist du denn? …´´
Ich wurde ganz wütend, was sollte dieses dumme Geschwätze? Der Mensch vor mir, war so hässlich, das er meines Anblickes nicht würdig war. Um Gottes Willen, was habe ich bloß angestellt, dachte ich. Der Mann vor mir war von mittelhoch, hatte wahrscheinlich hundert Kilo Übergewicht, einen braunen vergammelten Bademantel an und man konnte leider, seine Behaarung an Brust, Armen und Beinen sehen. Und das nur weil, er sich nicht mal einen Bademantel ordentlich anziehen konnte. Ob das alles nicht genug wäre, fasste er sich auch noch an den Schritt. Das war genug, ich schob ihn beiseite und ging rein.
,,Hey, du kannst hier nicht einfach so rein …´´
,,Doch kann ich. Wo ist er?, wo ist Noah, verdammt noch mal?´´, schrie ich ihn an. Aber er brauchte nichts zu erwidern, denn ich hörte Noah. Ich hörte ein mir leider zu bekanntes Winseln und Schluchzen.
,,Was haben Sie ihm angetan? Sie mieses Schwein!´´, fragte ich.
,,Nichts, … nichts, was er nicht wollte! Ich liebe meinen Neffen… ich könnte ihm doch nichts antun.´´, antwortete er.
,,Wie bitte? Sie … Sie sind gar nicht imstande …´´, brachte ich hervor und mir kamen die Tränen als ich fortfuhr: ,,Jemand wie Sie… ist nicht in der Lage dazu, jemanden zu lieben!´´ Ich konnte mich nicht mehr in seiner Gegenwart aufhalten. Also drehte ich mich um und ging in den Raum, von dem die Geräusche gekommen waren. Ich war schon vor der Tür und konnte im Türschlitz sehen, was dieser Bastard meinem Liebsten angetan hatte. Ich wollte mich gerade sammeln und in das Zimmer gehen doch da kam mir eine blendende Idee. Ich ballte die Fäuste, drehte mich um, ging die drei Schritte zurück und verpasste dem Arschloch eins auf die Nase. Ich schüttelte meine Hand, die weh tat, aber der Anblick, des stürzenden Peinigers, erfreute mich.
Jetzt eilte ich in den Raum, in dem Noah war. Im Raum war es, trotz der Sonne draußen nicht besonders hell. Die Vorhänge verhinderten, dass das gute Licht das Zimmer erleuchtete. Eine Lampe warf sehr trübes Licht auf meinen Liebling. Doch es war genug Licht, um zu sehen, dass er am Boden auf allen vieren kauerte und nackt war. Ihm flossen Tränen seine wunderschönen, weichen Wangen herunter. Mir wurde erneut bewusst, dass ich an alledem Schuld war. Aber es war keine Zeit für Trauer und Schuldbewusstsein. Denn jetzt musste ich ihn retten. Ich ging auf ihn zu und schaute mich währenddessen um. Seine Sachen lagen auf der Coach, die an der gegenüberliegenden Wand stand. Als allererstes musste ich dennoch zu ihm, ihn in die Arme nehmen, trösten. Also umarmte ich ihn und er versuchte sich zu wehren, er war enttäuscht von mir. Ich hatte ihn im Stich gelassen und er hatte meinetwegen etwas getan, was eigentlich niemand tun würde. Keine Chance, Liebster ich lasse dir keine Wahl, ich bin stärker als du. Zwar war er kein Schwächling, allerdings war er im Moment ziemlich müde und das brachte mir den Vorteil. Meine Arme schlangen sich um ihn, ich streichelte seinen Rücken und er legte seinen Kopf auf meine Schulter. Ich atmete seinen Duft ein, oh wie liebte ich ihn, alles an ihm. Ich wusste, er war nicht perfekt, doch für mich war er es. Er weinte immer noch und fühlte sich sehr unwohl. Es gab nicht sinnvolleres zu sagen, als die sinnlose Phrase: ,,Es wird alles wieder gut…´´ Aber es gab auch etwas sinnvolles zu sagen. ,,Es tut mir ja so Leid Noah´´, flüsterte ich ihm zu. Er sagte irgendwas, und ich konnte es nicht verstehen.
,,Was sagtest du? … Egal…´´, meinte ich. Nach ein paar Minuten löste ich mich von ihm. ,,Wir müssen jetzt gehen. Nachhause.´´, informierte ich ihn. Ich ging zum Sofa und holte seine Klamotten. Er kam zu mir rüber und setzte sich. Er war zu benommen um Entscheidungen zu treffen, also gab ich ihm seine Shorts und Jeans, die er dann langsam anzog. Währenddessen ging ich zu seinem perversen Onkel, der auf dem Boden des Flures saß und aufschaute. Er sagte, es tue ihm Leid.
,,Lügner!´´, platzte es aus mir heraus. ,,Du bist nichts als ein Arschloch´´, fuhr ich fort.
,,Du darfst ihn mir nicht wegnehmen … ´´, meckerte er. Ich glaubte mich verhört zu haben. Hatte er das etwa ernst gemeint? Mit welchem Recht glaubte er denn, dass mein Liebster ihm gehöre? Als handele es sich um ein Objekt. Plötzlich stand er auf und sagte: ,,Ich muss zu Noah… ihn davon abhalten zu gehen. Er darf mich nicht wieder verlassen.´´ Es reichte jetzt aber! Ich konnte mich nicht beherrschen und knallte ihm eine. So fiel er auf den Boden, ich glaubte er sei nicht mehr bei Bewusstsein. Von wegen ,Gewalt ist keine Lösung!´, das ich nicht lache. ,,Sie brauchen dringend Hilfe´´, murmelte ich so vor mich hin. Ich machte mich erneut auf den Weg zu Noah, ich wollte nicht länger erinnert werden, weshalb wir beide hier waren. Er saß noch immer auf der Coach und war nur halb angezogen. Sein Hemd hatte er nicht angerührt. Wir müssen nach Hause, ich muss dich waschen. Ich hockte mich auf den Boden, sah ihn an und wischte ihm die Tränen weg. Er guckte zu mir runter und ich fragte ihn: ,,Warum bist du noch nicht fertig?´´ Es schien, als würde er endlich aufhören zu weinen. Gerade als ich das dachte, fing es von vorn an. Aber ich hatte kein Recht zu nörgeln und ungeduldig zu werden. Jetzt setzte ich mich neben ihn, auf die Coach. Ich drehte ihn zu mir, nahm sein Kinn in die Hand und hob es. Er sah mich an und ich… Ich sah wie traurig er war.
Okay, du kannst mich hassen, mich verlassen. Aber als erstes müssen wir dich hier weg bringen. Schließlich küsste ich ihn, doch dies nicht lange. Er zog seine weichen, vollen Lippen weg, weg von meinen. Es war verständlich. Er war sauer auf mich, denn ich hatte ihm das Herz gebrochen. Ich stand auf, versuchte mich zu beherrschen. Du Idiot, jetzt ist keine Zeit für Küsse. Die Romantik kannst du dir für später aufsparen, wenn es denn überhaupt ein gemeinsames später gab. Ich half Noah dabei, sich sein Hemd anzuziehen. Aber irgendwas stimmte nicht mit ihm. Er wollte aufhören, hatte keine Lust… keine Lust auf sein Leben. Er hatte genug. Genug von mir? Ich musste ihm auch das Hemd zuknöpfen, da er einfach da saß, ohne irgendetwas zu tun. Endlich, dachte ich. Wir können raus aus dieser Hölle. Ich nahm seine Hand und führte ihn aus dem scheußlichen Zimmer. Doch als er seinen Peiniger sah, brach er beinahe zusammen. Er fing an zu schreien, zu weinen, rum zu zappeln und geriet außer Kontrolle. Ich zerrte ihn aus dem Apartment, doch der Spuk fand kein Ende. Wir liefen die Treppe hinunter und ich hoffte, das würde ihm die letzte Energie rauben. Doch ich hoffte ohne Zweck. Die Situation schien zu eskalieren. Eine junge Frau fragte, was los sei. Ich bat sie einen Krangenwagen zu rufen und sie gehorchte ohne Widerrede.
Die Sanitäter waren der Meinung, Noah brauche mich fürs erste nicht. Ich solle lieber ein paar seiner Sachen holen und dann in die Klinik bringen. Damit war ich einverstanden.
Es waren etwa zweieinhalb Stunden vergangen, als ich endlich in sein Krankenzimmer eintrat. Ein Arzt sprach mit ihm, doch als er mich sah hörte er auf. ,,Ruh dich erst mal aus, Noah. Wir sehen dann weiter.´´, war das letzte was er sagte. Er lächelte mich an und ließ uns alleine. Ich stellte die Tasche mit seinen Sachen auf den Boden, neben einen Schrank. Ich blieb fünf Schritte vor seinem großen Bett stehen und guckte ihn schüchtern an. Gott sei dank, hatte er, aufgrund seines schlimmen psychischen Zustandes, ein Einzelzimmer bekommen. Er lächelte mich an.
,,Komm bitte zu mir´´, bat er mich.
Als Antwort schüttelte ich den Kopf und guckte auf den Boden. Denn egal, ob er mir verziehen oder die ganze Sache vergessen hatte, ich hatte es mir nicht verziehen. Doch er gab nicht auf, er war ehrgeizig: ,,Bitte. Du weißt, wie ich es hasse allein zu sein. Das Bett ist groß genug für uns beide, also leg dich zu mir.´´ Ich hatte das Gefühl, ich wäre der doppelte Verlierer. Am Anfang sollte ich nur zu ihm, und jetzt sollte ich mich neben ihn legen? Aber ich stand noch immer stur da, und starrte auf den Boden. Er wollte gerade tatsächlich aufstehen, da ermahnte ich ihn: ,,Nein, der Arzt hat gesagt, du sollst dich ausruhen.´´ Er hörte nicht auf mich, das war aber klar, Noah war ein Sturkopf. ,,Ist mir egal´´, widersetzte er sich.
Jetzt stand er vor mir und sah zu mir hoch, ich war eineinhalb Kopf größer als er.
,,Bist du traurig?´´, fragte er mich, woraufhin ich nickte. ,,Ich will nicht, das du traurig bist´´, sagte er dann.
,,Eigentlich bin ich nicht traurig. Ich bin mehr sauer.´´, erwiderte ich, so, als ob es um mich und meine Gefühlslage ginge. Er war es doch, dem man Leid zugefügt hatte..
,,Was? .. etwa auf mich? Wa-´´, fragte er und bevor er seinen Satz beenden konnte, sprach ich dazwischen: ,,Nein, Liebling. Wie könnte ich nur? Ich bin wütend auf mich selbst. Wegen dem…´´ Ich konnte das letzte nicht zu Ende sprechen, es war zu viel. Außerdem, war mir etwas anderes aufgefallen. Während unserer Unterhaltung war ich ein oder zwei Schritte zurück gegangen, weil ich ihm jetzt noch nicht körperlich zu nahe treten wollte. Das duldete er nicht. Er kam auf mich zu, so dass sich unsere Körper berührten. Noah umarmte mich, so als ob er meine Gedanken lesen könnte, und mit dem nicht einverstanden war. Schließlich sagte er: ,,Nein, das brauchst du nicht, Schatz. Vergiss es einfach. Es war ja mein Fehler, ich hätte es dir nicht erzählen sollen.´´
,,Noah, mein Liebster, du bist meine ganze Welt. Ich lieb dich bis zum Mond und zurück. Wie könnte ich mir selbst verzeihen, was ich dir angetan habe?´´
Die Liebe meines Lebens tat etwas, wofür ich ihm bis heute dankbar bin. Er versiegelte meine Liebeserklärung, unsere Liebe, mit einem Kuss. Damit verhinderte er, dass wir weiter redeten, ich war dazu emotional nicht mehr imstande. Wörter waren nie meine Stärke gewesen. Er streichelte meine Wange mit der rechten Hand und mit der linken fuhr er mir durch die Haare. Nach zwei, drei Minuten Liebkosung lösten wir uns voneinander und ich schob ihn Richtung Bett. Dort lehnte er seinen Kopf an meine Brust und schlief nach einigen weiteren Minuten ein.