Meine Oma
Meine Oma
Der schrille Klingelton riss mich aus meinen Gedanken. Erschrocken bemerkte ich nach dem Bruchteil einer Sekunde, dass es mein Handy war, das gerade den Unterricht störte. Ruckartig beugte ich mich nach unten und kramte in meiner Tasche. Ich konnte gerade noch sehen, dass es meine Mutter war, die mich anrief, als mein Lehrer schon mit wütendem Blick vor mir stand. Fordernd streckte er die Hand aus und missmutig überreichte ich ihm mein Handy. Wortlos drehte er sich um und stellte sich wieder vor die Tafel. Mein Kopf glühte und ich wusste, dass ich knallrot war. Ich warf einen Blick hinüber zu Cindy. Konnte ein Mensch gleichzeitig herablassend und triumphierend zugleich grinsen? Schnell sah ich wieder weg. Ich rutschte ein Stück weiter auf meinem Stuhl nach unten. So konnte ich mich erfolgreich hinter den großen Jungs, die vor mir saßen verstecken.
Nach und nach ließ der Schock nach und ich begann sauer zu werden. Vor allem auf mich selbst. Wieso hatte ich mein Handy nicht ausgestellt? Aber woher sollte ich auch wissen, dass ich ausgerechnet dann einen Anruf bekam, wenn ich es ausnahmsweise mal angestellt hatte? Dann schlug meine Wut auf meine Mutter um. Warum rief sie mich auch gerade jetzt an? Sie wusste doch ganz genau, dass ich jetzt Schule hatte. Normalerweise würde sie so etwas nie tun. Dafür war sie viel zu korrekt. Moment mal, stimmt. Sie würde mich nie mitten im Unterricht anrufen, wenn es nicht wichtig war. Was wollte sie bloß von mir?
Nach dem Unterricht ging ich zu unserem Lehrer Herrn Roth und fragte zaghaft: „Könnte ich bitte mein Handy wieder haben?“ „Nein!“, war die knappe Antwort. „Bitte, meine Mutter hat vorhin angerufen und es muss irgendwas passiert sein. Etwas Wichtiges! Ich muss sie zurück rufen, bitte!“, flehte ich. Für einen Moment sah er mich prüfend an. Dann griff er nach meinem Handy und sagte: „Na gut.“ Ich lächelte und nahm es aus seiner Hand: „Danke.“ Gerade als ich den Raum verlassen wollte, rief er mich zurück: „Katja?“. Unsicher drehte ich mich um: „Ja?“ Mit strenger Stimme ermahnte er mich: „Ich hoffe du weißt, dass das eine Ausnahme war. Ich möchte nicht, dass das noch einmal vorkommt! Und ich erwarte, dass sich deine Leistungen in Zukunft steigern.“ Langsam nickte ich und trat dann ins Freie.
Es herrschte seltsame Stille, als ich das heimische Wohnzimmer betrat. Die hellblauen Vorhänge an den Fenstern wurden schwach vom Wind bewegt. Ich suchte mit meinen Augen den Raum ab, doch nirgendwo war meine Mutter zu sehen. Nachdem ich sie zurück gerufen hatte, hatte sie mir gesagt ich solle sofort nach Hause kommen. Das hatte ich auch getan, obwohl ich immer noch nicht wusste was eigentlich los war. Leise stellte ich meine Tasche ab und warf meine Jacke auf einen Sessel. Das würde meinen Eltern zwar einen Anlass dazu geben sich wieder mal über meine Unordentlichkeit aufzuregen, aber ich wollte schnellst möglichst heraus finden was passiert war. Ich hörte ein Geräusch aus der Küche und so ging ich in diese Richtung. Überrascht blieb ich stehen, als ich meinen Vater auf einem Stuhl sitzen saß. Musste er nicht eigentlich arbeiten? Dieser stand jetzt auf und seufzte: „Katja, endlich bist du da.“ Ich trat ein und entdeckte nun endlich auch meine Mutter, die mit dem Rücken zu mir gedreht am Waschbecken stand. Zögernd grüßte ich: „Äh, hi!“. Nun drehte sich meine Mutter zu mir um und ich erschrak. Sie hatte ein total verweintes Gesicht. Verschmierte Schminke, rot umrandete Augen. Mir blieb der Mund offen stehen. So hatte ich sie noch nie gesehen. Was war passiert? Mein Blick wanderte zu meinem Vater, der einige Schritte auf mich zutrat: „Es geht um deine Großmutter.“ Was war mit meiner geliebten Oma? Mit meinem Fels in der Brandung? War ihr etwas passiert? Mein Vater fuhr fort: „Sie ist letzte Nacht gestorben.“ Und bevor ich diesen Satz überhaupt richtig begriffen hatte, hatte er mich schon in den Arm genommen.
Stöhnend öffnete ich meine Augen. Wieder war 1 Minute vergangen und es fühlte sich so an, als ob es eine Ewigkeit gedauert hätte. Ich wälzte mich auf die andere Seite und starrte die Wand an. Wie hatte das nur passieren können? Gestern noch hatte ich ganz normal mit ihr geredet. Mit der Erklärung meines Vaters, dass sie einen Schlaganfall gehabt hatte und erst zu spät gefunden wurde, als dass man ihr noch hätte helfen können, konnte ich mich nicht zufrieden geben. Die quälende Frage „Warum?“, war wie in mein Gehirn eingebrannt. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass wieder eine Minute vergangen war. Ich rechnete aus, dass es noch 263 Minuten dauern würde, bis der Morgen anbrach. Meine Angst wuchs. Ich wusste nicht, wie ich den morgigen Tag bewältigen sollte. Ich wussten ohne hin nicht wie es weiter gehen sollte. Ein Leben ohne meine Oma konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Dennoch musste es weiter gehen! Irgendwie. Mit einem Ruck drehte ich mich zurück auf die andere Seite. Sollte ich Jan anrufen? Er hatte mir schließlich angeboten, dass ich mich jederzeit bei ihm melden konnte. Gleich nach der Arbeit heute war er vorbei gekommen und wir hatten den ganzen Abend zusammen verbracht. Tausende Möglichkeiten hatte er mir vorgeschlagen, wie ich jetzt am besten weiter leben sollte, bis ich es irgendwann nicht mehr hören konnte. Mit der ganzen Wut im Bauch, die sich den Tag über angestaut hatte, hatte ich ihn angeschrieen. Ich wollte keine Lösungen! Ich wollte jemanden, der mich in seinem Arm hielt! Mir festen Halt gab. Hinterher hatte es mir dann auch Leid getan, denn schließlich hatte er mir ja nur helfen wollen. Und ich wusste ja auch, dass er mich liebte und sein Bestes gab mir das auch zu zeigen, aber nichts davon konnte die Leere in mir ausfüllen, die ich empfand. Ich hatte das Gefühl, dass keiner mich verstand. Deshalb entschied ich mich auch dagegen Jan anzurufen. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich daran dachte, dass ich vorher immer mit meinen Problemen zu meiner Oma gegangen war. Sie hatte immer Rat gewusst. Was sollte ich nur ohne sie machen? Mit meinen Eltern konnte ich auch nicht reden. Zwar hatten sie mir das angeboten, aber ich wusste, dass sie genug mit ihrer eigenen Trauer zu kämpfen hatten. Ich wollte sie nicht noch mehr belasten.
Weitere 5 Minuten waren vergangen. Mit einer Handbewegung wischte ich meine Tränen weg. Warum mussten die schwersten Tage immer am längsten dauern? Immer wieder machte ich mir bewusst, dass das Leben weiter ging. Es gab ja auch noch viele schöne Sachen in meinem Leben, wie Jan, meine Eltern oder mein Hockey. Das Problem war nur: Keine dieser Personen oder Sachen war meine Oma! Weiterleben. Der Schmerz schien mich zu erdrücken. Weiterleben.
Mein Gesicht spiegelte sich in dem glänzenden Gold wider. Mit zitternden Händen nahm ich den Pokal entgegen. Von hinten spürte ich die Umarmungen meiner Mannschaftskameradinnen. Wir hatten gewonnen! Ich hatte das Spiel meines Lebens gespielt. Ich sah auf zur Tribüne. Dort saß Jan und applaudierte mir lautstark. Zwei Reihen unter ihm saßen meine Eltern und lächelten stolz auf mich herunter. Nun entdeckte ich den leeren Platz neben meiner Mutter. Mein Magen zog sich zusammen. Oma fehlte hier! Sie war die Person gewesen, die mich zum Hockey spielen ermutigt hatte. Sie hatte immer an mich geglaubt. Was würde sie jetzt wohl über mich denken? Seit sie tot war, hatte ich mir diese Frage täglich gestellt. Jeden Tag im letzten Monat. Ich drehte mich und und reichte den Pokal weiter an meine Mannschaft. Von hinten bemerkte ich die liebevolle Umarmung meiner besten Freundin: „Alles okay bei dir?“. Langsam nickte ich: „Ja, ich denke schon.“ Dann sah ich wieder zu dem leeren Platz. Anschließend richtete ich meinen Kopf nach oben und schaute durch das Dachfenster hinauf zum Himmel. Ich lächelte. Denn auf einmal wusste ich ganz sicher: Meine Oma war stolz auf mich!