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Meine Mutter - Eine Beerdigung
Der schwarze Anzug meines Vaters hat nicht mehr gepasst. Vor über dreißig Jahren gekauft, und oh Wunder, er passt nicht mehr. Er sei zu dick geworden, sagt mein Vater.
Aber egal, es ist Corona, und Beerdigungen finden nur im engsten Familienkreis statt, da ist es egal, ob wir schwarz tragen oder nicht, sagt er. Ehrlich gesagt, auch zu normalen Zeiten wären nicht mehr Leute gekommen als jetzt: Mein Vater, meine Schwester mit ihrem Mann und ich. Wahrscheinlich hätte ich mich aber doch über meinen Vater hinweg gesetzt und hätte meinen Freund eingeladen, hätte mit ihm zusammen in einer Pension übernachtet anstatt wie jetzt im Haus meines Vaters in meinem alten Kinderzimmer, in dem die Heizung schon seit Jahren nicht mehr funktioniert und ich vor dem Schlafengehen erst einmal dicke Spinnen jage. Sie kommen durch das vom Efeu fast zugewachsene Fenster herein und sitzen abends über meinem Bett, und erst wenn ich sie mit Hilfe eines alten Marmeladenglases eingefangen und wieder nach draußen befördert habe, fühle ich mich dort halbwegs sicher genug, um das Licht auszumachen zum Schlafen.
Aber jetzt sind alle Hotels geschlossen, und wenn mein Freund auch noch bei ihm mit übernachten würde, das werde ihm zu viel, sagt mein Vater. Er kenne ihn ja auch noch gar nicht.
So sind wir nur vier. Mein zwölfjähriger Neffe wurde auch ausgeladen, ist meinem Vater auch zu viel, und irgendwelche Gefühle von Trauer und Verlust in Bezug auf seine Oma traut er ihm auch gar nicht zu, nicht in seinem Alter und eigentlich sowieso nicht.
(Kann man um jemanden trauern, den man von klein auf nur als ein nach seiner Mama rufendes Kind kennt, wobei dieses Kind tatsächlich die eigene Oma ist? Wenn man noch nie von dieser Oma im Arm gehalten wurde, weil die aufgrund von Rheuma in den Handgelenken angeblich keinen Säugling mehr halten konnte?
Als meine Schwester damals mit ihrem neugeborenen Sohn zu Besuch bei unseren Eltern kam, hat der nur konstant wie am Spieß geschrien, sobald sie das Haus betrat, und erst wieder damit aufgehört, wenn sie es wieder verließ und mit ihm zurück nach Hause fuhr.)
Die Beerdigung ist für nachmittags um zwei angesetzt.
Beim Frühstück sagt mein Vater, iss dich mal ordentlich satt, es gibt erst abends wieder was. Er wolle mittags nichts essen. Und so schiebt er Stulle um Stulle in sich rein.
Ich sage, dass ich zu Mittag schon eine Kleinigkeit brauchen werde, und meine Schwester und ihr Mann ja wahrscheinlich auch, wenn sie kommen. Unter dem steten Protest meines Vaters schneide ich gegen zwölf etwas Paprika und Gurke auf und lege Käse und Wurst auf einer Servierplatte aus.
Meine Schwester hat sich für halb eins mit dem Auto angekündigt. Um eins ist sie immer noch nicht da, und mein Vater wird langsam unruhig. Wenn sie nicht bald komme, müsse man ein Taxi zum Friedhof rufen. Abhängigkeit von anderen sei doch immer Mist. Er selbst sei bei Verabredungen immer pünktlich gewesen. Die Handynummer meiner Schwester, um nachfragen zu können, wo sie bleibt, hat er nicht.
Ich koche Tee für alle und fange schon mal an, mir ein Brötchen zu belegen, denn wenn ich mittags nichts esse, bekomme ich schnell Anzeichen von Unterzucker; die Knie werden mir weich und ich kann nicht mehr klar denken. Soviel ich weiß, geht es meiner Schwester ähnlich.
Um viertel nach eins sind sie schließlich da.
Meine große Schwester ist noch dünner als ich. Gegen das Ergrauen der Haare ist sie wohl mit einer Tönung angegangen. Ein harter Zug um die Augen, aber eigentlich sieht man ihr die fünfzig Jahre nicht an. Enge Hose aus Lederimitat, Stiefeletten mit hohem Absatz und einem ausgefallenen Blütenmuster. Wir haben uns fast zehn Jahre lang nicht gesehen.
Meine Schwester fragt mich, wies mir geht. Erst denke ich, sie meint einfach so generell, bis mir gerade noch rechtzeitig vor dem Antworten klar wird, dass die Frage sich auf den Tod unserer Mutter bezieht. Wir tauschen uns kurz darüber aus, dass der zwar an sich zu erwarten gewesen war, aber jetzt doch sehr plötzlich kam.
Gegessen haben sie beide schon. Meinem Schwager kann ich wenigstens eine Tasse Tee ausschenken.
Mit der Entschuldigung, dass ich unbedingt noch etwas essen müsse, verzehre ich mein Brötchen, während meine Schwester und mein Vater sich gegenseitig vergeblich den letzten verbliebenen Stuhl in der Küche anbieten. Schließlich holt meine Schwester noch einen vierten Stuhl aus dem Wohnzimmer, und alle haben Platz.
Um fünf nach halb zwei sage ich, jetzt sollten wir wohl langsam aufbrechen, um nicht zu spät zu kommen.
Mein Schwager fährt das Auto, während meine Schwester hinten auf dem Rücksitz neben mir sitzt und seinen Fahrstil kommentiert.
Am kleinen Alten Friedhof am Rand der Stadt werden wir schon erwartet. Die katholische Pastoralreferentin stellt sich uns vor. Wenn keine weiteren Trauergäste mehr erwartet würden, könnten wir auch gleich beginnen, sagt sie. Das Wetter ist ungemütlich, wahrscheinlich möchte sie es schnell hinter sich bringen und dann zurück ins Warme.
Also setzen wir uns in Bewegung. Der Sarg meiner Mutter auf dem Wagen, gezogen von sechs Männern fortgeschrittenen Alters in schwarzen Anzügen und mit weißen Handschuhen, die Pastoralreferentin, wir. Wer ist der Mann, der uns auch noch begleitet? Erst dachte ich, es ist der Pfarrer, doch die Zeremonie wird von der Frau ausgeführt werden. (Seit wann dürfen Frauen innerhalb der katholischen Kirche Beerdigungen durchführen? Zu lange nichts mehr mit der Kirche zu tun gehabt, um mich noch auszukennen.)
Der Wagen mit dem Sarg knirscht und quietscht auf dem Weg zum Grab. Dazu kündigt lautes Vogelgezwitscher den kommenden Frühling an.
Da der Friedhof so klein ist, sind wir schnell an unserem Ziel. Das ausgehobene Grab, dahinter ein einfaches Holzkreuz mit dem Namen meiner Mutter. Vor dem Grab ist eine kleine Stufe, die unter dem ausgelegten grünen Teppich kaum zu sehen ist. Stolperfalle. Aber die sechs alten Träger schaffen es ohne Malheur, den Sarg vom Transportwagen zu hieven und über dem Grab abzulegen. Stumm und teilnahmslos stehen sie da, Statisten in einem Film, in dem die Tote, wir und die Pastoralreferentin die Hauptrolle spielen.
Ich stehe vor dem Erdloch, in das in wenigen Augenblicken meine Mutter für immer versenkt werden wird. Alles wirkt unwirklich, wie inszeniert, und das ist es ja auch. Nur dass wir an der Gestaltung des Ablaufs der Inszenierung weder beteiligt noch über die Details des Ablaufs informiert wurden.
Die Pastoralreferentin führt die Zeremonie durch und hält die Trauerrede. Mein Vater hat gesagt, als sie ihn vor ein paar Tagen besucht hatte, sei ihm gar nicht klar gewesen, dass sie diejenige sein werde, die die Grabrede halte, weshalb er es völlig versäumt habe, ihr die entscheidenden Eckpunkte aus dem Leben seiner verstorbenen Frau mitzuteilen. Wie selbstverständlich hatte er bei einer katholischen Beerdigung einen Mann erwartet.
So fällt die Beschreibung des Lebens meiner Mutter recht recht dürftig aus:
- Kirchenchor ( Die Pastoralreferentin hatte nach Musik gefragt, die meine Mutter gern gehört hatte, wozu meinem Vater nichts einfiel, außer dass sie als junge Frau im Chor gesungen habe.
- Kennenlernen ihres zukünftigen Mannes (meines Vaters) im Urlaub im österreichischen Sölden
- aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor (meine Schwester und ich)
- der große Nutzgarten hinter dem Haus, in dem mein Vater und meine Mutter so gerne zusammen gearbeitet hätten ( mein Vater hatte der Pastoralreferentin am Ende ihres Besuchs noch einen Sack Kartoffeln mitgegeben.)
- Verkehrsunfall, Demenz, zehn Jahre häusliche Pflege durch meinen bis zur Einweisung ins Pflegeheim letztes Jahr
Meine Schwester und mein Schwager sind die Einzigen, die die Gebete mitsprechen. Wahrscheinlich haben aber auch sie lange keine Kirche mehr von innen gesehen.
Mit Erstaunen registriere ich, wie meine Schwester neben mir weint. Fast möchte ich den Arm um sie legen und sie trösten. Warum weint sie? Weint sie um meine Mutter oder um sich? Weint sie um die Mutter, die sie nie hatte? Weint sie, weil sie meine Mutter nicht ein einziges Mal im Pflegeheim besucht hat, und jetzt ist es zu spät? Weint sie, weil man bei einer Beerdigung eben weint?
Ich habe meine Mutter im Pflegeheim besucht, aber ich weine nicht. In mir ist keine Trauer.
Nach der Segnung des Grabs zieht sich die Pastoralreferentin in den Hintergrund zurück und wartet ab. Nach einer Minute werden wir unruhig. Wie geht es jetzt weiter? Was wird jetzt von uns erwartet, Andacht, eine Schaufel Erde auf das Grab werfen? Meine Schwester flüstert meinem Vater zu, du hast doch mit der Pastoralreferentin geredet, du muss doch wissen, wie es weiter geht. Mein Vater sagt, es sei nichts abgesprochen worden. (Er hatte im Vorfeld immer betont, ihm sei bloß wichtig, dass ein Pfarrer mit am Grab stünde, alles andere sei ihm egal.) Schließlich einigen wir uns, dass jeder drei Schaufeln voll Erde auf das Grab wirft.
Ich stehe vor dem Grab und sage meiner Mutter, ich mache meinen Frieden mit dir. Ich trauere nicht um dich, aber ich mache meinen Frieden und wünsche dir, dass du auch deinen Frieden gefunden hast. Dass du da bist, wo du immer sein wolltest, bei deinem Vater und deiner Mutter, bei deiner Schwester und dem kleinen Bruder. Bei deiner Familie, deiner richtigen. Denn wir waren nie deine wirkliche Familie.
Dann ist alles ganz schnell vorbei. Die Pastoralreferentin kommt zurück und gibt uns eine Osterkerze mit für zu Hause. Dann verabschiedet sie sich und geht zu ihrem Auto. Nächster Termin.
Mein Schwager wird nachher sagen, dass mein Vater alles sehr schön ausgesucht habe, den hellen Fichtensarg, das Blumenbouquet mit Frühlingsblüten. Auch die Pastoralreferentin habe ihre Sache gut gemacht. Nur dass sie sich am Ende einfach so in den Hintergrund verzogen hat, ohne uns zu sagen, was wir jetzt machen sollen, da sind sie sich alle einig, das war nicht richtig von ihr.