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Meine kurze Reise durch die anderen Dimensionen
Gleich ist es soweit. Der Mann macht seinen letzten Atemzug. Er ist alt, sehr alt. Und er hat viel erlebt. Er hat Erfahrungen gesammelt, gute und schlechte, und er hat sich Wissen erworben. Wichtige Dinge, die die Menschheit einen zarten Schritt weiterbringen. Wir nennen solche Menschen ‚kleine Sterne’. Ihre Erinnerungen sind so zahlreich, dass wir sie kaum transportieren können. Aber zum Glück sind auch wir viele. Nicht ganz so viele, wie um uns herum, und schon gar nicht so viele, wie da draußen im All, dort, wo die richtigen Sterne, die großen Sonnen, ihr Lebenslicht verlieren.
Es geht los! Der Erinnerungsstrom, und damit all das Wissen dieses alten, weisen Mannes transformiert sich. Bild für Bild. Information für Information. Zerlegt, gewandelt und gepackt, macht er sich mit uns auf die Reise. Der alte Mann mit den schlohweißen Haaren wird den Strom noch sehen können. Darüber bin ich sehr froh. Alles beginnt mit einem Spiel mit seinem großen Bruder, auf jener grünen Wiese oben im Bergland. Sie lachen und tollen, bis der Kleine sich das Knie blutig schlägt. Der große Bruder tröstet ihn. Es wird bald alles wieder gut sein. Gut ja, vergessen nicht.
Er wird seine Frau, die so wunderschön war, als er sie das erste Mal sah, noch einmal kurz erblicken. Ihr blondes Haar, das in der Sonne glänzte wie ein stilles Meer. Ihre hellen Augen, die ihn anlächelten und ihn alles um ihn herum unwichtig erscheinen ließen. Und ihre Kinder, die er so liebte. Wie klein sie Anfangs waren und wie groß, kaum ein paar Jahre später. Dann den Krieg mit all seinem Gräuel. Er spürt in wenigen hundertstel Sekunden noch einmal die Angst, die sie hatten. Er sieht die Trümmer und empfindet erneut die ungeheure Kraft, mit der sie es schafften, sich wieder aufzurappeln. Er hatte immer weitergekämpft. Vielen seiner Freunde war das nicht gelungen. Er hatte viel Leid erfahren müssen, aber auch so viel Liebe und Güte kennen gelernt. All das zieht nun noch einmal an ihm vorüber, bis die reine Energie, die dieser Strom nun ist, ihn verlässt und einen letzten, warmen Lichtschein zurückgibt.
Wir sind nun unterwegs. Für alle Menschen unsichtbar, haben wir die Aufgabe, diese Energie hinfort zu bringen, damit sie nicht verloren geht. Wir haben Zutritt zu den Dimensionen, die der Menschheit Rätsel aufgeben. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, den Menschen Dinge zu verraten, wir verwalten nur ihre Energie. Viele von uns, die draußen bei den sterbenden Sternen arbeiten, haben ein viel härteres Leben als wir. Bei manchen Sternen ist so viel Energie zu bewältigen, dass die Dimensionen regelrecht aufreißen zu riesigen Löchern. Alles, was mit menschlichen Sinnen davon fassbar ist, ist der Schlund, der sich auftut, um die Ströme meiner viel beschäftigten Kollegen passieren zu lassen.
Nun, dahingegen ist unsere Arbeit hier fast lächerlich. Aber sie ist wichtig für diesen Planeten, für die Menschen, die hier leben, und ich fühle mich wohl hier. Ich bin hier zu Hause. In allen Dimensionen. Für uns sind sie wie ein Spiegelkabinett über mehrere Etagen. Es ist, als ginge man, statt geradeaus, mal einen Schlenker nach rechts und hopse dann nach oben. Würden wir mit menschlichen Augen sehen, würden wir nicht nur unsere Zerrbilder sehen, wir könnten durch viele Dinge einfach hindurch sehen. Diese Dinge wären gelöster und chaotischer. Chaotischer, weil sie einer Ordnung unterliegen, die das menschliche Gehirn nicht kennt. Aber wir haben keine Augen und kein Gehirn und sind doch Teil von Allem. Nur die Zeit macht selbst mich manchmal ein bisschen schwindelig. Ich weiß nie genau, wann ich wo bin, oder besser - ich bin überall und jederzeit.
Meine Aufgabe ist nun, mich, wie meine Kollegen, neu zu verteilen, um das riesige Puzzle, dessen Teile wir sind, unendlich zu erweitern. Wir tragen noch die Fünkchen der Erinnerungen unseres Geliebten ‚kleinen Sterns’ mit uns. Sie sollen nicht verloren gehen, sondern allen Menschen zu Teil werden. Es ist ein ständiger Prozess und man kann die Fünkchen einem Menschen nicht einfach wieder einhauchen. Es funktioniert auf andere Weise. Der Mensch bewegt sich in all unseren Dimensionen. Er merkt es nicht, denn seine Sinne sagen ihm nicht, dass er das tut. Ohne es zu merken, streift er uns so ab und holt uns zurück. Er holt uns zurück in den Kreislauf des Lebens. In den Kreislauf des Wissens um Dinge, die man nicht bewusst wahrnimmt. Dinge, um die man sich nicht kümmert, auf die man aber immer auf die gleiche Weise reagiert.
Man erzählt sich bei uns Geschichten über Menschen, die sich die Köpfe zerbrechen, was es mit uns auf sich hat, denn wir sind und bleiben unsichtbar für sie - und unmessbar. Manche nennen uns dunkle Energie. Dabei sind wir gar nicht dunkel, nur eben anders. Aber ohne uns würden die Menschen nicht existieren. Nichts würde existieren, nicht einmal die großen Sonnen. Philosophen und Päpste versuchen uns als das ewige Leben zu erfassen. Auf diese oder jene Weise, die Menschen spüren, dass es uns gibt, auch ohne uns zu sehen.
Bald habe ich wieder einen wichtigen Teil meiner Arbeit getan. Manchmal führt mich mein Weg zu einem kleinen Wesen im Bauch einer werdenden Mutter. Ein besonderes Geschenk für mich. Ich darf ihm meinen Erinnerungsfunken geben und dafür seine Lebensenergie tragen und all sein Erlebtes mit ihm teilen.
Ich freue mich auf ein neues, bewegtes Leben.