Was ist neu

Meine kleine Sommer-Anarchie

Mitglied
Beitritt
10.10.2003
Beiträge
1
Zuletzt bearbeitet:

Meine kleine Sommer-Anarchie

Endlich das Bürogebäude verlassen.
17 Uhr. Wie jeden Abend, den Blick in den strahlendblauen, von weißen Streifen durchsetzten Himmel richten, die Sonnenbrille aus der Jackentasche holen. Prüfend um mich schauend, schnell in die nächste Einfahrt springen: Dort, hinter einer grauen, mit Abziebildern übersähten, von jahrzehnterlanger Mißhandlung gezeichneten Haustür, die Krawatte vom Hals reißen, in die Aktentasche stopfen; das verschwitzte Seidenjackett mit nunmehr wachsendem Wohlgefühl vom Körper streifen und es der Krawatte in die dunkle Einsamkeit noch zu erledigender Schriftverkehre folgen lassen.
Dann, den Blick in den dunklen Hausflur gerichtet, schnell noch die Ärmel hochgekrempelt; die ohnehin von der Hitze ramponierte Frisur durch zwei, drei Handbewegungen endgültig zum Chaos werden lassen. Und nun endlich, wenn nicht als neuer, so doch als anderer Mensch, die lichtüberflutete Szenerie der Straße erneut betreten.
Schnell noch eben im Vorbeigehen die Aktentasche auf der Rückbank meines Cabrios abstellen, darüber nachdenkend, ob es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen meinem Outfit und meinem Auto gibt. Dies im Prinzip verneinend, trotzdem kurzzeitig verunsichert, schnell den Wagen verlassen, und das Getümmel zigtausender Konsum- und Sonnenanbeter genießen, die sich am Anblick ihrer Mitmenschen ergötzen.
Als Exot unter Exoten, eine Ausnahme, ein Unikat. Befriedigt die Blicke derer spüren, die mich verächtlich aus dieser, oh Verzeihung, aus ihrer Welt schubsen, micht röntgenblickartig durchleuchten und den Inhalt meiner Geldbörse auf Quantität zu überprüfen versuchen. Getreu der Formel: Frisur mal Bügelfalte, geteilt durch den Namen meines Schneiders, ist gleich die Anzahl meiner Kreditkarten in meinem Portemonnaie.
Heute aber muß ich sie leider enttäuschen:Nein, jetzt gehöre ich nicht zu ihnen, habe mich mutig vom sicheren Ufer entfernt, die Wärme der Massen mit der Wärme der Sonne getauscht. Ich bemerke wohl, wie der Aufschlag meiner "Hugo Boss" etikettierten Hose sie verwirrt, da er so gar nicht zu meinem schlipslosen Kragen und mit Schweißflecken durchsetztem Hemd paßt; wie dieser Aufschlag ab er nicht ihre Sorgenfalten von der Stirn fegen kann.
Und nicht zuletzt, ist es die leichte Staubschicht auf meinen Schuhen, die ihnen die letzte Gewißheit gibt: Ein Anarchist ist unter ihnen!
Dann ein Straßencafé betreten, den letzten freien Platz belegen, mit lautem Fingerschnippen die Bedienung herbeirufen und einen Kaffee bestellen. Eine Marlboro mit Einwegfeuerzeug anzünden, den Rauch tief inhalieren, ihn über den Nachbartisch hinweg ausblasen, und dem alten Drehorgelspieler laut Beifall spenden.
Gedankenversunken über den Gesprächen einkaufs- und stressgeplagter Mütter stehen, deren Themen sich lediglich auf neidvolle Blicke in Nachbars Garten beschränken. Ich bemerke wohl, wie sie mich, den Outlaw mit einer Mischung aus Romantik und Abenteuersehnsucht betrachten, wie ihre Augen beim Anblick meines sportgestählten Körpers zu schmalen Schlitzen werden. Sie hoffen wohl, ein Blick von mir, bedeute eine verheißungsvolle Nacht, die Rettung aus Einerlei zwischen Tagesschau und Weckerstellen.
Aber ich, ich bin Anarchist. Keine Gier nach erotischen Erlebnissen treibt mich, keine Lust auf Rettung verlorener und gelangweilter Seelen. Alle ihre BLicke, so schmachtvoll sie auch sein mögen, können nicht darüber hinweg täuschen: Meine Person bedroht ihre heile Welt! Niemand wagt es, diese Mauer zwischen ihnen und mir zu durchbrechen. Ich spüre, wie die Gäste darauf hoffen, dass ich nun endlich, da ich meine Tasse geleert habe, das Lokal verlassen werde, damit die zu Schaufensterpuppen verkommenen Kinder, wohl nur mit einem schock davon kommen mögen. Und ich, ich tue ihnen diesen Gefallen.
Mit einem bogartgleichen Lächeln, werfe ich einen Zehner lässig auf den Tisch, schnippe meine Kippe ebenso lässig wie elegant auf den Fußboden und, wissend, dass mein schwerer Gang die welt verändern könnte, gehe ich, die Muskeln unter meinem Hemd spielen lassend, wieder hinaus auf die Straße.
Ich weiß, der Abend könnte mir gehören, könnte mir zu Füßen liegen.
Doch so ganz ist der lange, mit unendlichen Männerdiskussionen und nervtötenden Gesprächen gefüllte Arbeitstag, nicht an mir vorüber gegangen. Ich spüre, wie mich langsam meine Kräfte verlassen und ich überlege, wie ich meinen anarchischen Abend erfolgreich zu Ende bringen kann: Vielleicht eine Bank ausrauben oder kleine Kinder im Park erschrecken. Oder vielleicht der Alten in der Nachbarwohnung einen Klingelstreich spielen. Oder einfach heute Nacht in der Badeanstalt nackt baden gehen.
Aber im Grunde weiß ich, dass zu alldem meine Kraft nicht mehr reichen wird, wie mir bereits jetzt die Omas hinterher schauen, ihre Köpfe zusammen stecken und über mich tuscheln.
Ich werde wohl, nach einem angenehmen, wohltemperierten Bad, meinen Altglasvorrat aus dem Keller holen, ihn nach Farben sortieren und zum Altglascontainer bringen.
Meiner anarchischen Natur entsprechend, aber erst nach zwanzig Uhr.

 

Hallo Werner,

mir hat die schnelle Erzählweise Deiner Geschichte gefallen, die kleinen Zwischenszenen, z.B. die bogardhafte Lässigkeit.
Die mißhandelte „Haustür“ ist gut getroffen, auch die Formel F x B/ N(S) = Q(C).
Ansonsten fehlt mir etwas der Bezug zu einer übergeordneten Problematik, doch man kann natürlich die Einzelaktion auch extrapolieren...
Die Geschichte hätte zu der Challenge „In medias res“ gepasst- da gibt es einen Zwillingsbruder zu
Deiner Story.

„ramsponierte“ - ramponierte
„Zehner lässig auf den Tischm“ - Tischm
„Blicke“ - Blicke
„die welt“ - Welt
„Klingelstreich spielen“ - Komma
„Kraft nicht mehr reichen wird, wie mir“ - da mir

Tschüß... Woltochinon

 

Hey Werner,

Supercoole Story. Ich hab auch schon tausender dieser und einige echt anarchistische Abende erlebt. Schön von anderen zu wissen, die über diesem Lebensentwurf versagen, wenn mans so nennen kann.

Nen paar Tips: "Fuck the system" von Blumentopf und das "Salt on everything"-Video von Sole. Letzteres bekommst du auf www.anticon.com und ersteres auch irgendwie ;) In den beiden Liedern geht's um dasselbe wie in deiner Story. Eigendlich in dem ganzen Sole-Album.

 

Besser hätte mir allerdings noch gefallen, wenn der "Anarchist" ein alternativer Jugendlicher, oder irgendwas in der Art wäre. Leute, die sich wirklich anarchistisch nennen und ebensowenig aus dem Alltag rauskommen, auch wenn sie es sich vielleicht einbilden.
??? Ich dachte darum geht's.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom