Meine gemeinen Grenzen
„Eins, zwei, drei, vier“ zählte ich laut und ließ den Lichtschalter los. Im Flur war es nun dunkel, doch ich konnte das Licht nicht mehr anschalten. Ich hatte schon viermal auf den Schalter gedrückt. Wenn ich es nochmal täte, wären es fünfmal. Damit würde ich nicht leben können, fünf war schließlich eine ungerade Zahl. Wo kämen wir denn hin, wenn alle Menschen ungerade Zahlen an ihrem Lichtschalter abschmieren würden. Bei diesem Gedanken kräuselten sich mir, vor Abscheu und Ekel, die Nägel. Ungerade Zahlen … Wie ich sie doch verabscheute. Genau wie die quadratischen Fliesen in der Küche, das zu große Schlüsselloch in meinem Zimmer, in welches ich immerzu ein Tuch stopfen musste, und den Staub auf meinem Nachttisch, den ich täglich sechsmal entfernte. Ich hasste Unordnung und Schmutz. Ich hielt es nicht aus, wenn die Erde in den Blumentöpfen austrocknete, oder wenn der Hund sich an meinem Bein rieb. In die Küche konnte ich bloß balancieren, da ich sonst auf die verhassten Fliesen getreten wäre. So war ich also gezwungen auf den kleinen Strichen zwischen ihnen zu gehen, und wenn ich daneben trat, heulte ich auf, als hätte ich mich verbrannt. Dank dieser Eigenschaften, war meine Aktivität in der Freizeit auf das mindeste beschränkt. Ich traf mich nicht mit Freunden, weil ich keine hatte. Es war nicht so, dass niemand mich mochte … Ich hatte sie aus meinem Leben verbannt, da ich ihre Nähe nicht ertragen konnte.
Ich erinnerte mich noch lebhaft an den Augenblick, als wir zusammen in der Eisdiele saßen und plauderten. Vor uns standen riesige Eisbecher, und jeder hatte Spaß, bis auf mich. Ich war damals bloß mitgekommen, weil meine Mutter mich dazu gedrängt hatte. Damals wusste sie noch nicht von meiner Krankheit.
So saß ich also da, eingeengt zwischen den vielen Körpern meiner Mitschüler, die sich fast alle auf eine einzige Bank quetschten, und fühlte mich unwohl und erdrückt. Der Schweiß Geruch, die Wärme all das brach über mir zusammen.
Als dann Robert, der auf der anderen Seite saß, seinen Löffel tief in meiner Eiscreme vergrub, um zu probieren, hielt ich es nicht mehr aus. Ich sprang, ungeachtet der erschrockenen Gesichter meiner Kameraden, auf und boxte mich zwischen ihnen durch. Es war einfach nur eklig gewesen, wie Robert seinen mit Speichel vollgeschmierten Löffel in meinen Becher gesteckt hatte. Ich fand das völlig unnachvollziehbar. Schnell und ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließ ich die Eisdiele. Auf dem Weg nach Hause, hatte ich Mühe die Tränen zu unterdrücken, die sich hinter meinen Lidern angesammelt hatten. Eigentlich war es doch gar nicht so schlimm gewesen. Die anderen hatten es auch nicht widerlich gefunden, wenn Jemand anderes von ihrem Eis probierte. Doch ich war anders. In diesem Moment hatte es mich einfach überkommen, und ich konnte nicht anders.
Mit Schrecken dachte ich heute an jenen Tag zurück, an dem alle erkannt hatten, dass ich nicht wie sie war. Und wie die Menschen es nun mal immer taten, wenn ihnen etwas befremdlich vorkam, hatten sie sich von mir distanziert. Einerseits hatte ich nun meine geliebte Ruhe, andererseits jedoch… Nein darüber wollte ich gar nicht nachdenken.
„Johannes! Das Essen ist fertig.“ Rief meine Mutter nun nach mir. Ich wusste, dass noch nicht einmal aufgedeckt war, denn meine Mutter rief mich immer schon fünf Minuten früher, da es eine Weile dauerte bis ich am Esstisch ankam. Langsam machte ich mich auf den Weg zu meiner Zimmertür. Ich durfte nicht zu schnell gehen, das war nicht erlaubt. Dort endlich angekommen, legte ich meinen Daumen auf den Türgriff. Danach folgten, in der Richtigen Reihenfolge, alle anderen Finger. Der Flur bereitete mir meistens keine großen Probleme, da der Fußboden weder aus Fliesen noch aus Parkett bestand, sondern aus einem schlichten Teppich, in ruhigen Farben gehalten. In meinem gemächlichen tempo ging ich auf die Küchentür zu. Meine Mutter hatte sie schon sorgfältig für mich geöffnet, und über die Fußbodenleise ein Stück Zeitungspapier gelegt, damit ich dort nicht ins Stocken geriet. Ich schritt über die Schwelle und ging auf den Tisch zu. Meine Mutter begann nun für mich aufzudecken, und zeitgleich mit meinen vollendeten Stuhllehnen, stand der Teller mit der Mahlzeit auf dem Tisch. Ich setzte mich und starrte auf das Gericht. Erbsen und Möhren lagen in kleineren Häufchen darauf, und daneben ein duftendes Schnitzel. Ich nahm das Besteck und begann mein Essen in winzige Rechtecke zu zerkleinern. Beim Essen zählte ich jeden Bissen, und jedes Zähne Aufeinanderschlagen. Man sollte meinen, ich würde komplett durcheinander kommen, mit diesen ganzen Zahlen, doch ich beherrschte diese Disziplin bis zur Perfektion. Ich bestritt ja gar nicht dass ich ein merkwürdiger Mensch war, doch manchmal kam es mir übertrieben vor, wie meine kleine Schwester mich beim Essen fasziniert beobachtete. Einer Kurzschlussentscheidung nach, unterbrach ich mein bedächtiges kauen, merkte mir meine Zahlen kurzerhand, und warf ihr einen finsteren Blick zu.
„Becky! Ich kann nicht essen wenn du mich anstarrst.“ Beschwerte ich mich.
„Du isst doch gar nicht. Du kaust schon seit Minuten auf einem Stück Fleisch rum!“ Warf sie mir vor, und erhob dabei anklagend ihren Zeigefinger. Diese Geste hatte sie von Mutter gelernt, welche immer den Zeigefinger hob, wenn sie mich ermahnte, nicht zu unfair zu meinem Seelsorger zu sein.
„Ich esse sehr wohl. Nur schlinge ich nicht so wie du.“ Konterte ich, und warf einen bedeutsamen Blick, auf ihren, bereits leeren, Teller.
„Ruhe Kinder!“ Ermahnte uns Mutter.
Als wäre nichts gewesen, aß ich weiter, und fing wieder an zu zählen. Ich hatte mich um keine Ziffer vertan. Und aus irgendeinem Grund heraus, kam mir das ganz fürchterlich grausam vor.
Als wie jeden Mittwoch mein Psychiater auftauchte, erzählte ich ihm gleich von diesem Gefühl. Als ich meine Ausführungen beendet hatte, nickte er nur wissentlich, doch klärte mich in keiner Weise auf. Zum Ausgleich fragte er mich lieber nach meinen Verbesserungen und war enttäuscht, dass ich keinerlei vorzuweisen hatte.
Ich litt nun schon seit Jahren an einer Krankheit, namens Schizophrenie. Bei mir war die Diagnose deutlich. Ein extremer Fall von Zwangsstörungen. Eine reine Kopfsache sollte man meinen. Doch dem war nicht so.
Die Krankheit steuerte meinen Körper, wie auch meinen Geist. Sie hatte von mir besitzergriffen, und klammerte sich um mein Gehirn. Das war der Grund für mein absonderliches Verhalten und meinen schrecklichen Verfolgungswahn. Mein Gehirn hielt mich in, einem sehr dehnbaren, Netz gefangen, und grenzte mich von der normalen Welt ab. Mein eigener Körper zwang mich den Schlüssel viermal herumzudrehen, und jede einzelne Straßenlaterne, auf dem Weg zur Schule, zu zählen. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass ich in Ordnung war, und kurz darauf, ekelte ich mich vor mir selbst. Das schlimmste war die Einsamkeit. Niemand wollte was mit mir zu tun haben. Sogar meine Schwester fand mich komisch. Meine Mutter wurde zuweilen traurig wenn sie mich sah, und das machte mich noch viel trauriger und einsamer. Der einzige Mensch mit dem ich reden konnte, war der stoppelbärtige Mann, mit dem militärischen Aussehen, der meinen Seelsorger darstellte.
Gerade erklärte er mir irgendetwas, doch ich hörte nicht zu. Wo ich doch eh nicht aufmerksam gewesen war, unterbrach ich ihn kurzerhand, mit einer Frage;
„Werde ich denn jemals wieder normal sein?“
Er hielt inne, und schaute mich nachdenklich an. Dann sagte er mir rauer Stimme; „ Was ist denn schon normal?“
Irritiert saß ich nun da. Ich hatte keinerlei Antwort auf seine Frage. Nicht für ihn, nicht für mich selbst.
Plötzlich streckte er die Hand aus, und hob mein Kinn an. Tief blickte er mir in die Augen. Es war fast so als könnte er direkt in die tiefsten Abgründe meiner Seele blicken und mein Gefängnis von innen betrachten.
„Eines Tages wirst du beschließen nicht mehr krank zu sein, und dann trennen sich unsere Wege.“ sagte er und lächelte.