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Meine blaue Zelle (Überarbeitung)

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02.01.2015
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Meine blaue Zelle (Überarbeitung)

Ich lebe in einem blauen Gefängnis. In einem Zimmer, fünf Quadratmeter klein. Hinter geschlossenen Vorhängen gibt es ein Fenster. Ich habe es nicht geöffnet, seit ich hier einzog. Nie habe ich nach draußen gesehen – und ich werde es nicht tun. Ich habe Angst, dass das, was ich draußen sehen könnte, so schön ist, dass es mein Dasein auf den blauen Metern herabwürdigt. Oder, was ich genauso fürchte, es könnte ekelhaft sein. Wenn ich nicht gucke, kann ich Hoffnung haben. Diese Tatsache lebe ich.
Mir gegenüber liegt ein Raum. Hinter seinem Gitter, gleich nach dem Flur, der uns trennt, wohnt Herr Videns.
Seine Zelle sieht genauso aus wie meine. Eine Glühbirne baumelt an einem Kabel von der Decke. Er besitzt Pritsche, Stuhl und Tischchen, in der hinteren Ecke eine Toilette und Waschbecken. Dieselben grauen Gardinen, dahinter dasselbe geschlossene Fenster. In einem tiefen Blau.
Ich kenne Herr Videns, seitdem ich hier weile. Er wohnte vor mir hier. Einst schenkte er mir Zettel und Stift, damit ich festhalten kann, was ich jetzt schreibe. Denn am Anfang war das Wort.

„Guten Morgen“, wünscht Herr Videns eines Morgens.
„Ist das ein guter Morgen?“, frage ich, blinzle und rapple mich auf von der Pritsche, auf der ich Nacht um Nacht ruhe.
„Gewiss“, sagt er. „Heute werde ich den Vorhang öffnen. Ich habe es satt, ja, ich habe es satt.“
„Sie haben es satt?“, frage ich und mein Interesse erwacht. Herr Videns, angekleidet und frisiert, blickt froh.
„Ständig dieses Einerlei. Meine blaue Zelle, Ihre blaue Zelle, Sie in Ihrer Zelle. Es ist Zeit.“
„Überlegen Sie gut!“, rufe ich. „Sie könnten die Hoffnung verlieren!“ Mein Herz klopft, meine Hände zittern. Oft haben wir uns über die Vorhänge unterhalten und waren derselben Meinung. Sie zu lüften würde in jedem Fall Enttäuschung nach sich ziehen. Selbst, wenn dort etwas sein sollte, das erfreut, – es wäre unerreichbar und damit schmerzvoll anzusehen.
Herr Videns schreitet entschlossen zur Tat.
Eine Welle aus Neugier überwältigt meinen aufkeimenden Protest. „Seien Sie vorsichtig …“, wispere ich und beobachte mit grauenvollem Behagen, wie sich Herr Videns den Vorhang anhebt. Seitlich lugt er hindurch. Licht fällt auf sein faltiges Gesicht. Er flüstert, runzelte die Stirn, reibt sich die Augen.
Wie alt mag er sein, frage ich mich. Sein Haar, das ich grau in Erinnerung hatte, erstrahlt in Alabasterweiß.
Der Vorhang fällt.

„Was haben Sie gesehen?“, keuche ich.
Herr Videns dreht sich zu mir und wirkt glücklich. Seine Augen funkeln.
„Och, ich fand nichts Besonderes …“, sagt er, setzt sich auf den Stuhl und faltet die Hände.
„Sie sehen … zufrieden aus!“, protestiere ich.
„Das war nichts“, wehrt Herr Videns ab, doch sein Lächeln straft ihn einer Lüge.
„Erzählen Sie!“
„Wollen Sie nicht gucken?“
„Aus Ihrem Fenster? Das geht nicht!“
„Nein“, sagt er und winkt ab. „Aus Ihrem Fenster.“
„Niemals!“, rufe ich entrüstet.
„Machen Sie, trauen Sie sich. Es ist leicht.“
„Herr Videns“, ich stehe auf und laufe unruhig hin und her. „Herr Videns. Sie kennen meinen Standpunkt. Ich kann und ich werde nicht gucken. Unmöglich, dass es mir ergeht wie Ihnen. Es sei denn, ich schaue aus Ihrem Fenster!“
„Sie selbst haben eines.“
„Wir haben dieses Thema besprochen. Ich könnte es nicht ertragen. Akzeptieren Sie das.“
Herr Videns seufzt.
Ich lege nach: „Sagen Sie mir, was Sie gesehen haben!“
„Gut“, sagt er. „Ich will Ihnen sagen, was ich sah. Unsere Befürchtung, dass das Bild zu schön oder zu hässlich ist, können wir verwerfen. Alles, was ich vorfand, sehe ich, wenn ich Sie betrachte. Eine hübsche Dame in einer dunkelblauen Zelle, mit exakt einer Pritsche, Stuhl und Tisch. Und ein Fenster.“
„Das gibt es doch nicht! Also fürchteten wir umsonst, falls dort, hinter dem Vorhang, alles ist wie hier!“
Ich muss mich setzen, durchatmen.
„Erzählen Sie von der Frau!“
„Sie sagte mir, dass sie gerne aus ihrem Fenster sieht.“
„Sie tut es?“, frage ich. Ob Herr Videns mich zum Narren halten will? „Was kann sie sehen? Eine Frau in einer Zelle?“
Herr Videns fährt fort mit ruhiger Stimme, sitzend auf dem Stuhl, die Hände gefaltet, manchmal spreizt er einen Finger ab.
„Das will sie mir erzählen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich das wissen will.“
„Sie müssen sie fragen“, sage ich. Vielleicht, um mich zu vergewissern, dass Herr Videns die Wahrheit sagt, vielleicht, weil meine Neugier brennt.
„Sehen und hören Sie selbst!“, sagte Herr Videns.
„Nein!“
Ich drehe ihm den Rücken zu und verschränke die Arme.
„Gut“, sagt Herr Videns. „Ich weiß, was Sie zu tun imstande sind. Ich möchte keinen Streit mit Ihnen. Ich werde die Frau fragen.“
Augenblicklich drehe ich mich zurück und lächle. Herr Videns steht auf und geht ans Fenster.

Gatter quietschen, der Korridor hallt von Schritten, schwere Stiefel, die in unsere Richtung laufen.
Haferbrei im ungünstigsten Moment.
Eigentlich mag ich den Haferbrei. Drei Mal am Tag zur selben Zeit, dieselbe hellbraune Suppe, mit derselben gleichförmigen Temperatur. Ich fühle mich geborgen, wenn ich den Löffel in den Mund schiebe und den Brei dort langsam zergehen lasse. Es gibt nur eine Sache, die meine Zunge mehr reizen würde, aber die bekommen wir hier nur selten: Orangen.
Der Wärter schiebt das Tablett unter Herrn Videns Gatter hindurch. Dann dreht er sich zu mir und sagt: „Lassen Sie es sich schmecken.“
Ich blitze ihn böse an. Er grinst.
Das Tablett wird hindurchgeschoben. Gleicher Haferbrei auf demselben Tablett. Dasselbe Einerlei. Der Wärter verschwindet. Unruhig warte ich darauf, dass seine Schritte nicht mehr zu hören sind.
„Jetzt machen Sie!“, zische ich. „Fragen Sie die Frau!“
Herr Videns bückt sich nach seinem Frühstück, nimmt Schälchen und Löffel, rückt den Stuhl ans Fenster und verschwindet unter der Gardine. Sie verdeckt ihn, ich höre ihn schmatzen und kichern. Den Haferbrei rühre ich nicht an.

„Die Dame heißt Anima und sie erzählte mir Folgendes: Draußen vor ihrem Fenster ist eine Straße. Auf der anderen Straßenseite befindet sich eine Bank. Dort hat sie in der letzten Zeit einen Mann sitzen sehen.“
„Und?“, frage ich.
„Und seit ein paar Tagen spaziert dort eine junge Frau.“
„Weiter!“
„Anima meinte, dass die beiden sich Blicke zuwerfen.“
„Blicke?“
„Von Auge zu Auge. So wie wir.“
„Mehr nicht?“
„Mehr nicht.“
„Der Mann sollte sie ansprechen!“, protestiere ich.
„Die Frau könnte ebenfalls etwas wagen“, sagt Herr Videns.
„Ansonsten passiert nichts?“, hake ich noch einmal nach.
„Nichts“, sagt Herr Videns. „Außer, dass Anima meinte, es sei ein schöner Tag.“
„Das ist gut, allerdings klingt es ausgesprochen langweilig“, sage ich und fühle mich zufrieden mit seiner Antwort und meiner Standfestigkeit.
Um ehrlich zu sein, ich frage mich, was hinter meinem Vorhang sein könnte. Wie oft habe ich mich ertappt, dorthin zu blicken, zu träumen, mir vorzustellen, was dahinter steckt. Aber ich habe es bereits erklärt. Für mich besteht der Reiz darin, Hoffnung zu haben, nicht darin zu handeln. Eine Enttäuschung würde ich nicht verkraften. Sie würde meine Seele brechen. Ich weiß es.


„Ein schöner Tag“, beginnt Herr Videns und kommt unter dem Vorhang hervor. Ich fühle mich überrumpelt, er hat, während ich nachdachte, die fremde Frau befragt. „Ein schöner Tag, das ist laut Anima ein Tag, an dem die Sonne scheint. Es ist allerdings nicht der Schein, sondern vielmehr das, was das Licht mit den Menschen macht. Anima sagt, dass sie anders über die Straße gehen. Viel beschwingter, als hätten sie weniger Angst.“
„Hm“, gebe ich von mir, hebe den Haferbrei vom Boden und setze mich auf meinen Stuhl. „Und trotzdem reden die beiden nicht miteinander.“ Ein Löffel folgt dem anderen. Erst jetzt spüre ich meinen Hunger.
„Anima hat mir noch etwas gesagt“, sagt Herr Videns leise.
„Was?“, frage ich, während der Haferbrei langsam in meinem Mund schmilzt und mich in ein Gefühl von Wärme hüllt.
„Dass es einen Weg nach draußen gibt.“
Ich verschlucke mich und huste.
„Ihre Anima ist gefährlich“, stelle ich fest und wische mir über den Mund.
„Hören Sie“, sagt Herr Videns. Er steht dicht an seinem Gitter. „Wir können dieses Gefängnis verlassen. Es stimmt, ich weiß es. Es gibt nur eine Sache, die Sie tun müssten, dann werden Sie sehen, dass …“
„Nein!“
Ich drehe mich weg. Einst habe ich Stunden, nein, Tage gesessen und ihn keines Blickes gewürdigt. Er wollte mir eine Orange, die aus meiner Zelle versehentlich in die seine gerollt war, nicht zurückgeben. Er wollte sie selber fressen und ich schwieg. Nach dreißig Stunden kullerte das Obst zurück an meine Füße. Ich nahm es, pellte es, aß - und redete drei Tage kein Wort mit dem Alten.
Wir bekommen Orangen zu Weihnachten und an unserem Geburtstag. Sie leuchten schön in dem dunklen Blau der Zelle. Wie eine kleine Sonne. Und sie duften herrlich zitronig. Ich liebe sie.

Die Tage vergehen. Herr Videns schaut mich hin und wieder so seltsam an. Für mich verschmilzt der Vorhang mit der Wand der Gefängniszelle. Ich erlaube mir nicht mehr, dorthin zu gucken. Ich glaube, ich wünsche mir eine Freundin, die all diese Dinge sieht und mir erzählt. Ich fürchte, ich bin eifersüchtig. Vielleicht bin ich neidisch. Ein wenig.
In Wahrheit jedoch hat Herr Videns mich verraten. Im Prinzip, wenn man es sich überlegt, hat er das, was wir uns beide vorgenommen haben, nicht eingehalten. Je mehr Gekicher ich höre, je mehr Tage vergehen, desto mehr widert er mich an. Doch hat er recht. Ich sollte aus dem Fenster sehen.

Ich schlecke mir genüsslich den Brei von den Fingern. Der Plastikteller und das Tablett vom Abend werden gleich abgeholt. Ich schiebe sie unter dem Gatter durch. Herr Videns sieht mir zu und winkt. Ich putze meine Zähne und lege mich ins Bett. Heute habe ich den ganzen Tag kein Wort mit ihm gesprochen. Ich gedenke nicht, das zu ändern. Genug ist genug.
Herr Videns räuspert sich.
Ich reagiere nicht.
Er räuspert sich noch einmal.
Ich dreh mich auf die andere Seite und lege mit das Kissen aufs Ohr.
Das Licht geht aus und Herr Videns bekommt einen heftigen Anfall. Er hustet, er schnappt nach Luft, er röchelt. Das kann ich durchs Kissen hören.
Bei meiner Einweisung, die Jahre zurückliegt, erhielt ich ein paar Ratschläge, wie zu handeln sei. Sinnvoll wäre es, laut und deutlich um Hilfe zu rufen. Die Stimme würde über den Gang hallen und jemandes Aufmerksamkeit erregen.
Ich vergaß den roten Knopf zu erwähnen, der außerhalb der Zellen angebracht ist. Ich könnte aufstehen, meinen Arm ausstrecken, an der bröckligen Mauer entlang fühlen und den Schalter drücken.
Ich könnte Herrn Videns retten.
Ich habe eigene Pläne.
Es geht schnell.

Am Morgen entdecke ich seinen verrenkten Körper und die geschwollenen Adern. Ich rufe um Hilfe, damit kein Verdacht aufkommt. Männer kommen und transportieren Herrn Videns Überreste aus der Zelle. Sehnsüchtig blicke ich in den leeren Raum. Reinungskräfte kommen und putzen Tisch und Stuhl, Pritsche, Waschbecken und Toilette. Schrubber kratzen über den Boden. Dort könnte ich nun bestimmt mein Spiegelbild erkennen, zumindest ein verzerrtes Abbild. Spiegel gibt es hier nicht. Ich sah immer nur sein Gesicht.
Andere kommen, die mich fragen, ob ich etwas gesehen oder gehört hätte. Ich antworte, dass ich nichts sah, nichts hörte.
„Er war alt“, sagen die Leute, kritzeln auf ein Blatt, das ich unterzeichne. Sie gehen. Den ganzen Tag betrachte ich mein neues Zuhause.
Ich warte bereits am Gitter, als der Wärter kommt.
„Können sie mir helfen?“, frage ich zaghaft.
Er sieht mich an, leicht verdutzt.
„Wissen Sie, …“ Ich zeige mit dem Finger in die Zelle. Er sieht hinüber.
„Tragisch.“
Ich spiele mit dem obersten Knopf des Nachtgewands, um den Köder auszulegen. Sein Blick bleibt dort hängen. Ich seufze.
„Ich wünschte, ich könnte in seine Zelle ziehen. Um bei ihm zu sein, wissen Sie? Ich würde es nicht ertragen, jemand anderes darin zu sehen.“
Der Knopf ist offen. Die Falle schnappt zu.
„Ich kann“, sagt der Wärter und durchbohrt mich mit seinen Augen. Dann öffnet er mein Schloss.


Ich wagte nie zu träumen, dass mein Wunsch in Erfüllung geht. Ich bin am Ziel meiner Reise. Ich habe den Gipfel betreten und werde bald die Aussicht genießen.
Ich bin in Herrn Videns Zelle. Ich habe alles geschafft, was ich wollte.
So lüfte ich, um den letzten Akt zu begehen, behutsam den Vorhang des Fensters. Dieselbe graue Gardine, die in meiner Zelle hängt, aber mit einem sicheren Ausgang. Meine Augen sind geschlossen, doch flüstere ich ihren Namen. „Anima“, „Anima“ – und wieder „Anima“.
„Bist du da?“
Ich komm mir vor, wie ein Liebender am Fenster seiner Angebeteten. Mein Herz rast, meine Hände zittern, ich wage kaum zu atmen. Die Lider wollen sich nicht öffnen, erwartungsfrohe Freude hält sie geschlossen. Ich will bis zum letzten Moment davon kosten. Dieser Augenblick, bevor der Gipfel erreicht ist, diese zwei, drei Schritte. Es sind die schwersten von allen.
Drei.
Zwei.
Eins.
Auf.
Dort ist ein Raum. Ein Lagerraum. Ein zitroniger Geruch strömt mir entgegen. Ich sehe eine Farbe: Orange in kleinen Kügelchen.
„Anima!“, rufe ich wieder, obwohl sich das böse Gefühl in mir ausbreitet, dass dort nichts weiter sein wird, als Berge aus Orangen.
Sie duften dort,
sind zu weit fort,
fern, an einem anderen Ort.
Oh weh!
Und diese Erkenntnis zerstört mich, lässt mich zerfallen, als hätte es mich nie gegeben.

„Wie heißen Sie?“, fragt eine Dame aus der gegenüberliegenden Zelle.
Eine Zelle. Eine Dame. Ein Name. Alles sieht aus wie hier, nur spiegelverkehrt. Dunkelblau gestrichen, Pritsche, Toilette und Stuhl falsch herum.
Wer wohnt in dieser Zelle?
„Herr Videns.“
„Freut mich, Herr Videns“, sagt die Dame und lächelt. „Wir kennen uns kaum, ich habe dennoch eine Bitte. Ob ich Zettel und Stift von Ihnen leihen könnte?“
„Ich werde sie Ihnen schenken, auch wenn es das letzte wäre, was ich täte. Was wollen Sie schreiben?“, fragt Herr Videns.
„Eine Geschichte“, sage ich. „Ich will Ihnen nicht zu viel verraten. Ich habe meine Prinzipien. Den Anfang will ich Ihnen nennen.
Ich beginne:
„Ich lebe in einem blauen Gefängnis. In einem Raum, fünf Quadratmeter klein …

 

Hallo Wortkrieger,

dies ist die Überarbeitung einer Geschichte vom 28.01.15 - kann unter demselben Titel gefunden werden.
Würd´mich freuen, wenn ihr noch mal oder "ganz neu" befeedbackt.

-----------
Hab geprüft auf:
- Füllwörter (Tipp: https://www.schreiblabor.com/textlabor/filler/ )
- Absätze
- Adjektive, Adverbien
- Sinn ( na ja, zugegen immer noch "seltsam" :D )
- innere Beweggründe der Figuren
- Aufbau Kurzgeschichte

Und selbstverständlich habe ich versucht, all eure wertvollen Anmerkungen zu berücksichtigen.

Ähm ja. Viel Arbeit, wie ihr euch denken könnt. Ist vieles anders jetzt. Mir gefällt es besser.

Lange Rede kurzer Sinn: Viel Spaß beim Lesen!


Viele Grüße

Reiki

 

Hallo Reiki,

ich habe die erste Version der Geschichte nicht gelesen und habe das jetzt auch erst einmal bewusst sein lassen (mache ich vielleicht später noch :)).

Zu dieser muss ich sagen, dass sie mir sehr gut gefallen hat. Ich finde sie sprachlich sehr fein konstruiert und auch strukturiert im Aufbau und mir sind so spontan keine größeren "Schnitzer" aufgefallen.

Zu den Punkten, die du in deinem Kommentar nennst, muss ich sagen, dass mir die Beweggründe der Figuren sehr eingeleuchtet haben und ich die sehr gut ausgearbeitet fand. Ob das Ganze irgendwie "Sinn" hat oder macht, sich verorten lässt oder analysiert werden muss, finde ich persönlich überhaupt nicht so wichtig. Ich bin ja eine große Freundin des Absurden (Stichwort "Gummibär in Engelfassade ;)) und daher finde ich es als Story rund und gelungen und will gar nicht wissen, wieso, weshalb und warum.

Gerne gelesen!
Die sonnigsten Sonntagsgrüße
von heiterbiswolkig

 
Zuletzt bearbeitet:

„Eine Geschichte“, sage ich. „Ich will Ihnen nicht zu viel verraten. Ich habe meine Prinzipien. Den Anfang will ich Ihnen nennen.
Ich beginne:
[']Ich lebe in einem blauen Gefängnis. In einem Raum, fünf Quadratmeter klein …['“]

Natürlich hab ich die Änderungen wahrgenommen (Geschlechtertausch der Frau V.) und die Abschaffung von Not und Elends-Wärtern, quasi ein Kammerspiel für zwei Personen. Er (Herr Videns) ist ich und ich(-Erzählerin) werd bzw. bin er, kurz – wie im I. seligen angedenkens – er + ich = Erich, denn keiner ist nur männlich, keine nur weiblich, Genderforschung – wenn man so will – auf fünf Quadratmetern,

liebe Reiki,

und da fängt das Problem an, wenn man

In einem Zimmer, fünf Quadratmeter klein
lebt. Weniger, als ein Zwergpinscher im Tierheim zugestanden bekommt (und der ist da an sich auch eher nicht allzu freiwillig hineingeraten): Weniger als 2,3 m Seitenlänge im Quadrat … Geht denn dann das
Seine Zelle sieht genauso aus wie meine. Eine Glühbirne baumelt an einem Kabel von der Decke. Er besitzt Pritsche, Stuhl und Tischchen, in der hinteren Ecke eine Toilette und Waschbecken.
Da bleibt kein Raum für großartige Bewegung. Man eckt buchstäblich an … Lass uns besser um acht Quadratmeter streiten … (z. T. noch Standardgröße von Einzelzellen)
Dieselben grauen Gardinen, dahinter dasselbe geschlossene Fenster. In einem tiefen Blau.
„Dieselbe“ stiftet Identität wie „der/die/das gleiche“. Allgemein ergibt sich wie hier in meiner Deutung (die unwesentlich anders wäre als die der ursprünglichen Fassung), was gemeint ist: Die Zimmer samt Gardinen sind eins, wie ja auch ddie Zellennachbarn eins werden. Er + ich leben in der identischen Zelle. Aber um zu Anfang die Fiktion des Andern aufrechtzuerhalten, wären zwo „gleiche“ Gardinen, keineswegs nur ein und dieselbe einzuführen. Bei den Meinungen
Oft haben wir uns über die Vorhänge unterhalten und waren derselben Meinung
ist das schon okay.

Hier mein ich nun, dass das Reflexivpronomen entbehrlich wäre:

…, wie sich Herr Videns den Vorhang anhebt.
Der folgende Satz klingt nach mehr als einem bloßen Aussagesatz
Akzeptieren Sie das.“
Eher eine Aufforderung!, wie kurz darauf
„Sehen und hören Sie selbst!“, sagt[...] Herr Videns.

Blitzen?
Ich blitze ihn böse an.
Ich lass ihn vielleicht böse abblitzen, aber selbst wenn meine Augen Blitze verteilen, blinzeln sie immer noch, wenn auch böse.

Hier wäre ein Komma beim zwoten Infinitiv hilfreich

Für mich besteht der Reiz darin, Hoffnung zu haben, nicht darin[,] zu handeln

Ja, was noch – mein Lieblingsthema, selbst wenn der Konjunktiv an sich ganz gut angewendet wird: Er könnte/sollte öfters angewandt werden, wie hier gegen Ende z. B. (aber auch weiter vorne)
„Anima!“, rufe ich wieder, obwohl sich das böse Gefühl in mir ausbreitet, dass dort nichts weiter sein wird, als Berge aus Orangen.

Auf alle Fälle wird die Geschichte dichter als zuvor (kann ja auch eigentlich gar nicht anders) und rückt nun noch näher an Franz K.,

meint der

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Reiki Wuwu,

vor einiger Zeit habe ich schon deine Erstversion gelesen, die mir gut gefallen hat. Ich habe allerdings nicht gewusst, wie ich dir vermitteln kann, was genau ich daran mochte. Jetzt hast du dir die Mühe gemacht, die Geschichte komplett zu überarbeiten und nun möchte ich es zumindest versuchen.
Obwohl dieses Absurde, Kafkaeske nicht so meins ist, fand ich deinen Text trotzdem stark. Du wirfst mich als Leser mit hinein in diese kleine Zelle und bevor ich mich auch nur fragen kann, was mache ich eigentlich hier, bin ich mittendrin und will unbedingt wissen, was sich hinter dem Fenster verbirgt. Ich steckte da mit mir selbst im Zwiespalt, eigentlich wollte der vernünftige und absolut phantasielose Teil in mir hinterfragen, was genau das bedeutet, warum die Zelle und so, aber gleichzeitig konnte ich den Text auf mich einwirken lassen und habe mit dem Protagonisten mitgefühlt. Gut gemacht.

Deine Geschichte beantwortet mir jetzt keine Fragen und auch der tiefere Sinn bleibt mir verwehrt, aber ich finde das hier so gut:

„Überlegen Sie gut!“, rufe ich. „Sie könnten die Hoffnung verlieren!“ Mein Herz klopft, meine Hände zittern. Oft haben wir uns über die Vorhänge unterhalten und waren derselben Meinung. Sie zu lüften würde in jedem Fall Enttäuschung nach sich ziehen. Selbst, wenn dort etwas sein sollte, das erfreut, – es wäre unerreichbar und damit schmerzvoll anzusehen.

Das ist so eine Aussage, wo ich stundenlang drüber diskutieren könnte. Natürlich nicht hier, das gehört nicht zu deiner Geschichte, aber mir gefällt dieser Ansatz gut. Ein starker Gedanke einfach mal so in den Raum geworfen und du baust eine Geschichte drumherum auf.

„Ein schöner Tag, das ist laut Anima ein Tag, an dem die Sonne scheint. Es ist allerdings nicht der Schein, sondern vielmehr das, was das Licht mit den Menschen macht. Anima sagt, dass sie anders über die Straße gehen. Viel beschwingter, als hätten sie weniger Angst.“

Sehr, sehr schöne Beschreibung.

Was mir aus der ersten Version noch hängengeblieben ist und was ich auch jetzt noch nicht ganz stimmig finde, ist der plötzliche Stimmungsumschwung des Protagonisten. Er wehrt sich schon dagegen, Herrn Videns zuerst aus dem Fenster sehen zu lassen und danach zu erfahren, was er bzw. "Anima" dort sieht, du machst seinen Zwiespalt hiermit auch deutlich,

Um ehrlich zu sein, ich frage mich, was hinter meinem Vorhang sein könnte. Wie oft habe ich mich ertappt, dorthin zu blicken, zu träumen, mir vorzustellen, was dahinter steckt. Aber ich habe es bereits erklärt. Für mich besteht der Reiz darin, Hoffnung zu haben, nicht darin zu handeln. Eine Enttäuschung würde ich nicht verkraften. Sie würde meine Seele brechen. Ich weiß es.

aber das kommt bei mir zu schwach an, um Herrn Videns danach schmollend den Rücken zu kehren und sterben zu lassen. Klar, der Hintergedanke deines Protagonisten ist vermutlich, dass er letztendlich selber aus dem besagten Fenster blicken kann, was nur möglich ist, wenn er sich selber in Herrn Videns' Zelle befindet, aber ich frage mich dann gleich wieder, woher wusste dein Protagonist, dass Herr Videns bald sterben würde? Ging's dem schon so schlecht? Das kommt alles nicht ganz so rüber. Ja, ich hab's wirklich nicht so mit diesem Absurden, wie man sieht.

Dein Weg zum Bruch der beiden war letztes Mal glaube ich noch weniger deutlich, mehr verschwommen, dieses Mal hast du etwas Handfesteres vorgelegt:

„Dass es einen Weg nach draußen gibt.“

Ganz ideal finde ich das aber immer noch nicht, denn ich hatte nicht das Gefühl, dass dein Protagonist sich auch gegen eine reale Fluchtmöglichkeit so wehren würde. Das mit dem Nicht-aus-dem-Fenster-Sehen, um die Hoffnung aufrecht zu erhalten, das kommt gut rüber, aber der reale Weg nach draußen, wo ja (in meinen Gedanken) die weite Welt wartet, die diese Hoffnung auf irgendeine Weise erfüllen könnte, das kann ich nicht wirklich nachvollziehen.

Warum wurde eigentlich aus Frau Videns - und somit auch aus deiner Protagonistin - ein Herr Videns? Das war jetzt nichts, an dem ich mich in der Erstversion gestoßen hätte. Darum bin ich neugierig, was deine Beweggründe dafür waren.

Mir hat dein Text gefallen, echt, auch wenn ich nicht ganz durchblicke. Aber das muss man ja nicht immer.

Grüße,
rehla

 

Hallo heiterbiswolkig!

Vielen Dank für Dein positives Feedback. Ja, vielleicht guck ich die Gummibärchen-Geschichte auch mal an, hört sich ja interessant an. Bin ja, selbstredend, auch eine Freundin des Absurden.
Freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat! Habe ich Dich richtig verstanden, dass Du der Geschichte keinen Sinn abgewinnen kannst und es auch nicht für unbedingt notwendig hälst?
Dazu unten mehr.
Friedel
Konjuktive, der/die/dasselbe + gleiche und ein erweiterter Infinitiv. Ist gespeichert, ich schau beizeiten noch mal drüber. Herzlichen Dank für Deine Mühe!
rehla
Auch Dir vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar.

der tiefere Sinn bleibt mir verwehrt
Schade! Aber total verständlich. Das ist eine abstrakte Geschichte, die vor allem zum Nachdenken anregen soll. Ich hoffe nur, dass "die Leser" wenigstens empfinden, dass es sich gelohnt habe, das zu lesen. So scheint es in Deinem Fall zu sein und das ist ja schon mal gut.

Also. Zum Nachdenken anregen über genau das, was Du gerne diskutieren würdest:

Oft haben wir uns über die Vorhänge unterhalten und waren derselben Meinung. Sie zu lüften würde in jedem Fall Enttäuschung nach sich ziehen.

Die Geschichte soll ein Bild sein für eine Person und deren inneren Konflikt, z.B. sich was zu trauen, über den Tellerand hinaus zu blicken, "sich selbst zu erkennen" ... derart.
"Der" Protagonist/ich-Erzähler ist eigentlich eine "Sie" - Geschlechtertausch bei Herrn V. daher, weil ich noch eine Prise (Selbst)Liebe drin haben wollte. Zugegeben sehr subtil und quasi unerkannt, ansonsten würde "man/ das ich, den Vorhang bestimmt lüften und mit Herrn Videns über alle sieben Berge verschwinden.

Die Kritik bzgl. Sinn kann ich aber gut nachvollziehen, weil es wirklich sehr abstrakt ist und ich befürchte, dass es mir einfach (noch) nicht so gut gelingt, das Abstrakte in eine verständliche Form zu gießen. Ich bin mir auch noch nicht schlüssig, ob das überhaupt so sein "muss". Mir könnte es, glaube ich, "reichen", wenn der Leser grundsätzlich zufrieden ist und noch ein Weilchen drüber nachdenkt.

Deine Anmerkungen zu den Handlungen der Personen/Logik lasse ich mir noch mal durch den Kopf gehen!

Euch allen vielen Dank für eure Gedanken!

Reiki

 

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