- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 6
Mein Vater
Ich schreibe von meiner winzigen Insel, die ich schon seit Kindheitstagen besitze. Weder meine Eltern noch meine Geschwister, die sie mit Fussbällen und Spott zerstört hätten, wussten damals von ihrer Existenz und sie entdeckten sie nicht einmal, als ich meine Plüschtiere auf die Insel brachte, wie Fifi, die Hündin mit den Kristallaugen und ihrem kleinen, strohgefüllten Körper. Treu folgte sie mir und nahm ihre Aufgabe, unser kleines Reich zu beschützen, sehr ernst. Näherte sich ein Störenfried der Brücke aus Eierschalen, die ich gebaut hatte, bellte sie laut. Manchmal betrat ich selbst diese Brücke, um Bücher, Papier und Stifte zu holen oder um zur Schule zu gehen.
Anfangs beschwerte sich Adam, der grosse, braune Bär, dass es keine Wälder gab, in denen er sich verstecken konnte. Also fing ich an, Bäume zu pflanzen, die bald bis in den Himmel wuchsen. Adam wälzte sich vor Vergnügen im Laub. Für Karolina, meine Holstein-Kuh, säte ich eine Kräuterwiese, in der die Kornblumen und der Klatschmohn das ganze Jahr über blühten. Ja, auch im Winter! Schon bald zogen die Wildblumen eine Vielfalt von Insekten an, und kurz darauf kamen die Vögel.
«Dieses Kind ist sehr seltsam, zu alleine», hörte ich, wie meine Mutter zu meinem Vater sagte, während sie die Wäsche in dem dunklen Innenhof aufhing, der auf der anderen Seite der Brücke lag. Es roch nach Seife, und die Brise trug den Duft auf mein Eiland.
«Lass ihn nur, er wird schon noch aufblühen, wenn er sich irgendwann einmal für Mädchen interessiert.»
Ich entschied, mich niemals für Mädchen zu interessieren und kletterte auf den einzigen Felsen meiner Insel. Von dort aus konnte ich gut mein kleines Stück dieser Welt überblicken, weit weg vom Gejohle meiner Geschwister und den Streitereien meiner Eltern um das Geld, das nie ausreichte.
Genau notierte ich alle Insekten und Vogelarten und versuchte, den Gesang eines Rotkehlchens zu imitieren. Es schaute mich verwundert an, legte sein Köpfchen schräg, ganz so, als ob es sagen wollte: «Du bist aber dumm.» Es wiederholte seinen Gesang, und ich probierte erneut mein Glück. Monate habe ich gebraucht, um seine Melodien zu erlernen.
«Wir müssen mit dem Jungen zum Arzt. Er singt, wie die Vögel, spricht aber kaum. Sein Stofftier Fifi lässt er bellen, und obendrein knurrt er manchmal wie ein Bär oder ruft nach Karoline, der Plüschkuh, weil er sie melken möchte. Jaja, die gleiche Kuh, die Tante Eva ihm schenkte, als er noch ein Baby war. Er ist schon viel zu gross für so etwas!»
Mein Vater schwieg und rauchte versteckt eine Pfeife, denn meine Mutter hätte sonst geschimpft. Sie schimpfte häufig, wohl weil sie uns das Leben verbessern wollte. Sie konnte tausend Dinge gleichzeitig machen und fand so kaum Zeit, uns zuzuhören.
Eines nachmittags bellte Fifi. Mit der Brise kam ein starker Geruch nach Tabak, der sich mit dem Duft meiner Wildblumen mischte. Eine seltsame Mischung, die ich nie vergessen würde. Mein Vater hatte die Brücke aus Eierschalen betreten. Sie knirschte unter seinen Schritten, zerbrach aber nicht. Fifi war drauf und dran, ihn in die Wade zu beissen. Er bückte sich zu ihr runter und streichelte sie.
«Was machst du, mein Sohn?» Der Blick meines Vaters hatte die gleiche Wärme wie die Sonne, die meine Insel umhüllte.
«Ich nasche Honig. Den haben die Bienen meiner Insel produziert», antwortete ich ihm, und ich weiss nicht warum, aber ich streckte meinen Zeigefinger aus, damit er probieren konnte. Mein Vater nahm meinen Finger und tat so, als ob er Honig lecken würde.
«Das ist der beste Honig, den ich je gegessen habe.» Er fuhr sich mit der Zunge über seine Lippen.
«Von Wildblumen. Sie wachsen hier überall. Die habe ich gesät! Man kann sie nur entdecken, wenn man über die Brücke aus Eierschalen kommt, wie Du es eben gemacht hast. Siehst du sie?»
«Klar, sehe ich sie, mein Sohn. Weisst du, vor vielen Jahren habe ich mir auch eine Brücke gebaut. Nicht aus Eierschalen, wie deine, sondern aus Holz. Eine Hängebrücke. Immer, wenn ich ein wenig alleine sein möchte, ziehe ich die Brücke hoch und dann bin ich weit weg von Streitereien, Sorgen, Nachrichten, Motorengeräuschen und dem Gefühl der Machtlosigkeit. Bewahr dir Deine Insel immer auf wie einen grossen Schatz!»
Noch nie hatte mein Vater so viel mit mir geredet. Ich schaute ihn an und legte meine Hand in seine und wir beide genossen den Sonnenuntergang auf meiner Insel, mit Fifi zu unseren Füssen.
Seit dieser Zeit sind viele Jahre vergangen. Ich habe geheirat, eine Familie und bin ein mittelmässiger Schriftsteller. Oft fliehe ich aus der Stadt und besuche meinen Vater. Zusammen überqueren wir dann die Brücke aus Eierschalen, um uns auf den grossen Felsen meiner Insel zu setzen. Er raucht Pfeife, und ich schreibe oder denke an Fifi, die ihr kleines Grab inmitten der Wildblumen fand. Genau wie Karoline. Adam lebt noch. Ab und zu hören wir sein Grunzen im Wald.
Manchmal kommt mit der Brise auch ein Duft von Seife und mein Vater und ich lächeln uns zu.