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Mein Vater und der Alte

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05.09.2011
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Mein Vater und der Alte

Mein Vater und der Alte


An dem Tag, an dem meine Mutter starb, rannte ich hinauf zum See. Tante Rene hatte mich losgeschickt, meinen Vater zu holen. Sie und der Arzt waren bei Mutter geblieben.
Es war ein heißer Tag. Einer der letzten in diesem trockenen August. Die Luft flimmerte, und der staubige Weg, der unser Dorf mit dem nahen Wald verband, flog unter meinen nackten Füßen dahin. Links von mir ließ der Hafer seine Ährenköpfe hängen, rechts leckten einige Kühe den Rest Gras vom harten Boden.
Wie Sicheln durchschnitten meine Arme die Luft, meine Beine trommelten einen schnellen Takt auf dem Boden, und meine Lunge sog die schwere Luft so schnell ein und stieß sie so schnell wieder aus, dass sie sich anfühlte, als wäre sie mit glühendem Eisen gefüllt. Ich achtete nicht darauf. Nicht auf meine Lunge, nicht auf die Steine, die sich in die Hornhaut meiner Fußsohlen bohrten, und auch nicht auf die Kühe, die mir erstaunt und dumm kauend nachschauten. Ich wollte so schnell wie möglich bei Vater sein. Vielleicht konnte er, wenn er sich beeilte, noch ein letztes Mal Mutters Hand halten.
Sie war lange krank gewesen. Seit sie im vergangenen Herbst diese Erkältung hatte, fühlte sie sich kraftlos. „Wie eine Hühnerbrühe ohne Huhn“, sagt sie und versuchte dabei ein Lächeln, welches ihr nicht gelang. Unter ihren müden Augen hatten sich hartnäckige dunkelviolette Ringe gebildet, oft sah ich sie in der Küche sitzen und den Kopf in die schmalen Hände stützen. Und ich hatte sie oft seufzen gehört; vor allem dann, wenn sie sich alleine glaubte. Wenn sie vergessen zu haben schien, dass ich überhaupt da war, und wenn Vater wieder oben am See war. Es hatte sich angehört wie das Förderband, mit dem im Herbst die Strohballen in die Scheune unseres Nachbarn geschafft wurden. Es lief über vier oder fünf eiserne Rollen, und wenn ich oben in der Scheune stand, um die Ballen aufeinanderzustapeln, ratterte das Band über die Rollen. So hatte es sich angehört, wenn Mutter seufzte.
Ich glaube, Vater hatte sie nie seufzen gehört. Schon früher, bevor er seine Arbeit in der Stadt verloren hatte, war er die meiste Zeit oben am See gewesen. Und seit es für ihn selbst in der Nachbarschaft bei den Bauern oder in der Lederfabrik, deren beißender Gestank aus dem hohen Ziegelkamin oft über die Felder zu uns wehte, nur noch selten etwas zu tun gab, war er fast immer oben. Ganz früh am Morgen, meistens noch ehe ich wach war, nahm er seine Rute und machte sich auf den Weg. Im Winter, wenn der See zugefroren war, nahm er zusätzlich ein Beil mit, um das Eis aufzuhacken. Er kam immer erst am Abend zurück. Wenn es dunkel war und Mutter das Essen so lange für ihn warmgestellt hatte, dass es ganz breiig geworden war und grau und fad. Dann setzte Vater sich an den Tisch und aß schweigend; dabei sah er manchmal so aus wie das, was ihm aus dem Teller entgegenblickte. Seit er nicht mehr jeden Morgen mit seinem alten Fahrrad in die Stadt fuhr, betete er nicht mehr vor dem Essen. Er starrte nur auf seinen Teller mit dem Brei, sagte nichts und aß. Anders kannte ich meinen Vater nicht mehr.
Den Weg zum See hätte ich mit verbundenen Augen gefunden. Ein oder zwei Mal hatte Vater mich mit hochgenommen. Dann saßen wir eine Weile schweigend nebeneinander am Ufer, starrten auf das Wasser und verfolgten die Schatten der großen Bäume dabei, wie sie langsam von links nach rechts wanderten und dabei größer wurden. Mir wurde langweilig, und ich begann zu zappeln und zu plappern. Mein Vater wollte das nicht. Er meinte, meine Unruhe vertreibe den Alten. Darum nahm er mich nicht mehr mit zum See. Er fing trotzdem nie etwas. Auch nicht, wenn er alleine war.
Viel öfter war ich, wenn meine Arbeit getan war, allein durch den Wald zum See gelaufen. Dann schlich ich mich nahe an die Stelle, an der ich meinen Vater wusste, verbarg mich hinter einem Busch oder einem Baumstamm und beobachtete ihn. Oft schien es mir dann, als würde die Zeit stillstehen. Mein Vater saß am Ufer des Sees auf einer dicken Wurzel, starrte hinaus auf das Wasser, in dem sich an manchen Frühlingstagen das Sonnenlicht glitzernd spiegelte, und regte sich nicht. Seine Füße hatten in all den Jahren eine Kuhle in die feuchten Ufererde gescharrt, in der nichts mehr wuchs. Wie eine blankpolierte Silberplatte lag der See vor ihm. Die haarfeine Angelschnur stach in einem schrägen Winkel ins Wasser und hinterließ nur eine feine, sich schnell wieder auflösende Spur aus Kräuselwellen, wenn mein Vater sie mit der Rute gemächlich zog. Das tat er nur selten. Er meinte, auch diese Unruhe vertreibe den Alten.
Der Alte – in unserem Dorf lachte man über ihn und über meinen Vater. „Da oben gibt es keinen Fisch“, sagten sie. „Erst recht keinen Karpfen.“
„Ich habe ihn gesehen“, sagte mein Vater. „Ich habe ihn springen sehen. Er ist der größte Karpfen, der jemals gelebt hat. Ich habe ihn gesehen.“
Und dann breitete er die Arme weit aus und zeigte, wie groß der Alte sein sollte. Und er sagte, seine Arme würden nicht ausreichen, weil der Alte noch viel größer sei. So groß, sagte mein Vater, dass sein Schatten, wenn er aus dem Wasser sprang, um nach Fliegen und Libellen zu schnappen, an einer engen Stelle des Sees von einem bis zum anderen Ufer reichte. Sein Körper sei schwarz wie Teer und sein Maul sei zerrissen von den vielen Haken, an denen er bereits gehangen hätte. Es waren die Angelhaken meines Vaters. „Er ist stark, der Alte“, erzählte er, und dabei glänzten seine wässrig hellen Augen, und sein Blick richtete sich zum Wald und zum See, dahin, wo der Alte leben sollte. „Er ist stärker als ich. Noch. Aber eines Tages werde ich stärker sein. Dann wird der Alte müde sein, und ich werde ihn fangen. Eines Tages, wenn er weiß, dass er sterben muss. Wenn er keine Lust mehr hat, noch ein weiteres Jahr ganz alleine in seinem See zu leben, dann wird er sich nicht mehr von meinem Haken reißen. Die Einsamkeit dort oben macht ihn müde. Ich weiß es. Dann wird er zu mir kommen und sich von mir fangen lassen. Ich weiß es.“
Wenn mein Vater im Dorf so redete, lachten die Leute über ihn. Er senkte dann den Kopf und trottete mit hängenden Schultern nach Hause. Manchmal sah ich ihn, und er tat mir leid. Manchmal lachte auch ich heimlich über ihn.
Kurz nach dem Waldrand begann der Weg steil anzusteigen. Der Schatten war kühl und dunkel. Mein Körper war von der Sonne so erhitzt, dass ich glaubte, die saftigen Blätter müssten verdorren, wenn sie mich berührten. Ich sprang über Steine und Wurzeln, bückte mich im Laufen unter tiefhängenden Ästen und achtete kaum auf die Sträucher, die an den Ärmeln meines Hemdes zerrten. Eine Brombeerranke peitschte nach mir und hinterließ eine blutige Schramme auf meiner Wange. Ich sprang auf einen kleinen Ast, dessen Ende sich schmerzhaft in meine Ferse bohrte. Ich hörte meinen Atem, der sich keuchend aus mir befreite und befahl meinen Beinen, keine Rücksicht zu nehmen. Sie sollten noch höher springen und noch schneller laufen. Sie sollten meinem Vater sagen, dass er nach Hause musste. Zu Mutter, die starb.
In diesem Sommer war ich dreizehn geworden. Es war ein außergewöhnlich heißer Sommer. Ein Sommer in Schlesien, und ich wusste damals noch nicht, dass es der letzte seiner Art sein würde. Außer unserem Dorf, den Feldern und dem Wald mit seinem See hatte ich bis dahin noch nicht viel gesehen. Die Welt bestand für mich aus meinen Eltern und Tante Rene; von allem anderen hatte ich nur in der Schule gehört. Und von den Männern, die manchmal erzählten, wenn wir in der Erntezeit eine Pause machten, um unser Schmalzbrot zu essen. Sie sagten, es würde bald Krieg geben und dass dann alles anders sein würde. Ich wusste nicht, was Krieg war. Die Welt dreht sich weiter, sagten sie, wie ein Karussell. Immer weiter. Der eine springt auf dabei, ein anderer fällt herunter. Ich hatte noch nie ein Karussell gesehen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Mutter jemals auf irgend etwas aufspringen würde. In meinen Träumen stand sie als magere Gestalt vor einem sich drehenden Etwas, die den Mut zum Sprung nicht fand und sich schließlich müde und gebeugt abwandte. Sie war eine stille Frau, die selten lachte. In ihrem Gesicht hatten die Jahre tiefe Furchen hinterlassen. Die Haut an ihrem Hals war faltig und weich, manchmal sah ich ihr Herz darunter schlagen. Ihre Stimme hatte die gleiche Farbe wie der Nachthimmel, aber sie benutzte sie selten. Mit meinem Vater sprach sie so gut wie nie. In den Jahren meiner Kindheit war es mir nie aufgefallen, dass ihr Haar, welches sie zu einem Dutt geknotet trug, immer grauer wurde. Bis es schließlich schlohweiß war. Als meine Mutter starb, war sie fünfunddreißig.
Vor meinem Vater hatte ich Angst. Er sprach noch weniger als meine Mutter, und wenn er etwas sagte, dann waren es Worte, deren Farbe den Feldwegen glich; braun und schwer wenn es regnete, grau und staubig im Sommer, rutschig und kalt wie an einem Januarmorgen. Es gab keinen anderen Menschen im Dorf, dessen Augen trauriger waren als die meines Vaters. Früher, als ich noch viel kleiner war, und als er noch nicht ganz so oft hoch zum See ging, da lachte er manchmal. Dabei warf er den Kopf mit dem dichten braunen Haar zurück in den Nacken, und es klang wie das Rufen der Bauern, wenn sie am Abend ihre Kühe zusammentrieben, um sie in den Stall zu bringen. Er ließ mich Bier probieren und einmal auch an einer seiner Zigaretten ziehen, die er selbst drehte, und die seine Finger gelb färbten. Ich mochte es, wenn ich mit meiner Hand über sein großes Gesicht strich. Seine Bartstoppeln kratzten, dann lächelte er, und ich roch den Schweiß, der in seiner Kleidung hing als sei er dort eingenäht. An dem Tag, an dem er seine Arbeit verlor und als gebrochener Mann nach Hause kam, hatte er sein Lachen in der Stadt vergessen. Er war mürrisch geworden und leise. Das einzige, über das Vater überhaupt noch sprach, war der Alte. Anfangs glaubte ich meinem Vater. Später, als ich größer wurde, nicht mehr. Ich war oft genug selbst oben am See im Wald gewesen. Nie hatte ich einen Fisch dort gesehen, nie etwas anderes als Mückenschwärme, Libellen, Häher und meinen Vater. Nie. Er machte mir angst, weil er die Leute im Dorf dazu brachte, über ihn zu lachen. Und weil er selbst nicht mehr lachte. Er hatte sich in seine eigene Welt eingeschlossen wie in einem Zimmer. Einsamkeit gab es darin und Kummer und Leid. Sonst nichts. Niemand, auch ich nicht, durfte dieses Zimmer jemals betreten, in dem mein Vater ganz allein lebte und den Alten jagte. Ich hatte Angst vor meinem Vater, weil er ein Fremder geworden war.
Als meine Mutter diese schlimme Erkältung bekommen hatte, musste sie einige Tage im Bett liegen. Vater blieb zu Hause und bereitete das Essen. Er ließ es so lange auf dem Herd, dass es zu einem Brei zerkochte, der nach nichts schmeckte. Er konnte es nicht besser. Unser Nachbar schlachtete ein Huhn für uns, aus dem Vater eine Suppe für meine Mutter kochte.
Danach ging es ihr besser. Aber seit diesem Herbst hörte sie nicht mehr auf zu husten. Es war, als würde mit jedem keuchenden Hustenanfall etwas mehr ihres Lebens aus ihr herausgeschleudert. Einmal, als sie am Fenster stand und die ersten Sonnenstrahlen des neuen Jahres in sich aufsaugte, sah ich, dass sie nach einem Hustenanfall mit dem Ärmel über die beschlagene Scheibe wischte. Aber ein paar Tropfen hellroten Blutes hatte sie übersehen.
Mein Vater hatte sie auch bemerkt. Er richtete sich auf, und sein großer Körper spannte sich, und seine rauhen Hände sahen so aus, als wollten sie Mutter halten. Doch dann, als ich schon glaubte, er würde zu ihr gehen und sie stützen, fiel er in sich zusammen. Er senkte den Kopf, wandte sich ab, und sein Blick begegnete meinem. Einen Atemzug lang starrten wir beide uns an. In diesem Augenblick wusste ich, dass er niemals jemanden würde helfen können; er half sich selbst nicht mehr. Meine Mutter ließ sich kraftlos auf einen Schemel sinken und dabei keuchte sie. Ihr Atem ging rasselnd, und mein Vater stand vor mir und tat nichts. Dann nahm er seine Rute und ging hoch in den Wald zum See. Ich begann, meinen Vater zu hassen.
Als der Sommer sich noch einmal mit aller Kraft aufbäumte, fiel es meiner Mutter immer schwerer, Luft zu holen. Nach der kleinsten Anstrengung musste sie sich setzen und mühsam zu Atem kommen. Es schien, als würde die Hitze ihren Körper, der immer weniger wurde, austrocknen. Vater hielt es zu Hause nicht mehr aus. Er war jeden Tag oben am See bei seinem Fisch, über den die Leute früher gelacht hatten. Jetzt lachten sie nicht mehr. Sie redeten nicht mehr mit meinem Vater und er nicht mit ihnen. Sie verstanden nicht, warum er nicht bei seiner Frau blieb, die krank war und zwischen den Mühlsteinen ihrer Sorgen zerrieben wurde. Er konnte es ihnen nicht erklären, vielleicht wollte er es auch nicht. Ich verstand ihn. Trotz allem. Ich wusste, was in ihm vorging, weil ich Tante Rene und Mutter über ihn hatte sprechen hören. „Er jagt einem Hirngespinst nach“, hatte Tante Rene gesagt. „Jahrein, jahraus hockt er allein oben im Wald und hält seinen Angelhaken ins Wasser. Er sollte lieber Geld verdienen und für seine Familie sorgen.“
„Er kann nicht“, hatte meine Mutter leise geantwortet. „Es ist der einzige Traum, den er noch hat.“
„Aber ein Mann muss die Familie ernähren“, schimpfte Tante Rene. „Es wäre besser, wenn du mit dem Jungen in die Stadt gehst. Du brauchst einen guten Arzt, der deine Schwindsucht behandelt. Und einen guten Mann, der für euch sorgt.“
„Wenn ich ihn verlasse, stirbt er. Er liebt mich und den Jungen. Wir und sein Fisch sind alles, was er noch hat. Du verstehst das nicht, Rene.“
Vielleicht liebte mein Vater uns wirklich. Vielleicht konnte er es nur nicht zeigen. Ich glaubte meiner Mutter. Auch wenn ich sie nicht verstand.
Als ich den See fast erreicht hatte, blieb ich stehen. Ich keuchte, und es hörte sich beinahe so an wie bei meiner Mutter. Langsam und darauf achtend, dass ich nicht auf einen trockenen Zweig trat, ging ich weiter. Ich nahm nicht den direkten Weg zum See, der von den vielen Jahren, die mein Vater ihn benutzt hatte, ausgetreten war. Ein Trampelpfad wandt sich zwischen den Büschen durch das Unterholz, schmal und bewachsen und kaum sichtbar. Von meinen eigenen Füßen angelegt in all den Jahren, die ich meinen Vater heimlich beobachtet hatte.
Ich schreckte einen Vogel auf, der laut kreischend den Baumwipfeln entgegenflatterte und zuckte zusammen. Schweiß stand auf meiner Stirn, meine Zunge war trocken und meine Hose und mein Hemd klebten an meinem Körper. Ich roch mich selbst, ich hörte mein Herz schlagen, ich spürte die feuchte und kühle Waldluft, in die ich mich einbettete wie in ein frisches Laken. Und dann sah ich den See zwischen den dürren Zeigen im späten Sonnenlicht glitzern.
Mein Vater saß an der Stelle, an der er immer saß. Vielleicht dreißig Meter von mir entfernt hielt er seine Angelrute mit beiden Händen fest umklammert und starrte auf den lächerlich kleinen See hinaus, den man leicht mit wenigen Zügen hätte durchschwimmen können. Wie eine Statue, wie ein abgestorbener Baumstamm, wie einer der großen Findlinge, die überall im Wald verstreut lagen. Kein Muskel regte sich, er machte kein Geräusch, und es hätte mich nicht gewundert, wenn selbst sein Atem stillgestanden hätte. Oft hatte ich mich gefragt, welches seiner beiden Leben wohl das wahre war; jenes, welches er als Schatten bei uns zu Hause führte, oder dieses, in dem er als jagender Stein im Wald am Ufer eines winzigen Sees, der kaum mehr als ein Teich war, sich selbst verhöhnte.
Ich teilte die Zweige des Ginsterbusches, hinter dem ich mich oft verborgen hatte und machte einen Schritt auf meinen Vater zu. Noch immer regte er sich nicht, obwohl ich sicher war, dass er mich gehört hatte. Jetzt gab ich mir keine Mühe mehr, leise zu sein. Ich hatte nichts mehr zu verbergen. Am wenigsten mich selbst.
„Du sollst nach Hause kommen“, sagte ich, als ich ihn erreicht hatte und mit den Händen in den Hosentaschen neben ihm stand. „Mutter geht es nicht gut.“
Noch immer regte sich nichts an ihm und ich dachte, auch in ihm würde sich nichts regen. Doch dann sah ich, dass in dem Schmutz, den der Wald auf sein Gesicht gemalt hatte, Spuren gezeichnet waren. Spuren von getrockneten Tränen.
Verlegen scharrte ich mit dem Fuß ein Loch in die feuchte Walderde. Ich schaute meinen Vater nicht an; dazu fehlten mir der Mut und die Kraft. Auch seine Augen trafen mich nicht. Mein Blick ging ein Stück nach oben, fand den Flicken auf Vaters Hose, der ein Loch verbarg, welches von einem Sturz mit dem Fahrrad rührte. Ich erinnerte mich, dass Mutter damals ein Stück Stoff gesucht hatte, das die gleiche Farbe wie Vaters Hose hatte; sie hatte keins gefunden, darum war der Flicken immer ein bisschen heller als der Rest. Ich sah die Wurzel, auf der er saß; sie war unter seinem Gewicht gebogen wie ein Kelch. Seine Fäuste umklammerten die Rute, die er lange vor meiner Geburt mit seinem Vater, den ich nie kennengelernt hatte, im Wald geschnitten und zurecht geschnitzt hatte. Es war eine stabile Rute aus Haselnuss; biegsam und doch stark genug, auch einen großen Fisch aus dem Wasser zu stehlen. Da, wo meines Vaters Hände sich um sie schlossen wie festgewachsen, war sie mit einem schmutzigen Tuch umwickelt. Durch Drahtösen, die mein Vater an der Angel befestigt hatte, lief die feine, kaum sichtbare Schnur, deren eines Ende um ein dickes Stück Holz gewickelt war, welches als eine Art Kurbel diente. Das andere Ende hielt den Haken fest und wartete im Wasser auf einen Fisch. Ein Fisch, das wurde mir in diesem Augenblick klar, der niemals anbeißen würde; auch wenn die Knöchel an Vaters Fäusten noch weißer hervorträten.
„Es gibt den Alten“, sagte mein Vater plötzlich in die unerwartet eingetretene Stille hinein, und mir schien es, als reiße seine Stimme eine Kuhle in die Luft, in der er sich verstecken wollte. „Ich habe ihn gesehen.“
Ich erinnerte mich an die Leute in unserem Dorf, die immer über ihn gelacht hatten. Ich konnte nicht mehr lachen. In mir waren nur noch Trauer und Wut und Hass. Ich ballte meine Fäuste, und vielleicht wäre ich in diesem Moment auf meinen Vater losgegangen, hätte er nicht gesagt: „Ich weiß, dass es ihn gibt. Ich habe ihn oft gesehen, wie sein schwarzer glänzender Leib aus dem Wasser geschossen kam und er eine Libelle fing. Dann starrte er mich für eine Sekunde an und schien mich auszulachen.“
„Alle lachen über dich“, sagte ich bebend. „Alle im Dorf. Weil es den Alten nicht gibt. Es gibt überhaupt keinen Fisch in diesem See. Noch nie hast du irgend etwas gefangen. Du hast immer nur hier oben gesessen und dein Leben vergeudet. Für einen Fisch, den es nicht geben kann!“
Einen Herzschlag lang schwieg er. Dann antwortete er müde: „Aber ich weiß, dass es ihn gibt. Ich selbst habe ihn vor langer Zeit in diesem See ausgesetzt. Einen Karpfen, kaum größer als mein Finger. Und er ist von Jahr zu Jahr gewachsen und stärker geworden und schwärzer. Die Einsamkeit hat ihn stark gemacht. Die Einsamkeit macht einen stärker oder sie bringt einen um.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte nur auf das dunkler werdende Wasser und fragte mich, ob es in seinen Tiefen wirklich einen Fisch gab, der all die Jahre einsam seine Kreise gezogen und darauf gewartet hatte, endlich befreit zu werden.
„Lebt sie noch?“, unterbrach mein Vater ein weiteres Mal meine Gedanken.
„Ich weiß nicht“, sagte ich traurig. „Du musst dich beeilen. Tante Rene sagt, wenn du sie noch einmal sehen willst, dann musst du dich beeilen. Sie atmet nur noch Blut.“
Erst jetzt wandte mein Vater sein großes Gesicht zu mir. In seinen Augen schimmerten Tränen. Ich hätte gerne mit meiner Hand seine Bartstoppeln berührt, so wie früher, doch es war nicht der rechte Augenblick. „Ohne sie hat es keinen Sinn mehr“, sagte er.
Dann stand er auf und schaute noch einmal hinaus auf den See. Er nahm seine Rute in beide Hände, hob sein rechtes Knie, und dann bog er die Angel darüber bis sie brach. „Es ist vorbei“, sagte er, während er sich zum Wald umdrehte und den Weg nach Hause ging.
Er ließ mich allein zurück. Allein mit dem Wald und dem See und den zerbrochenen Stücken seiner Rute. In der Ferne hörte ich ein Gewitter grollen. Es war einer der letzten Sommertage für lange Zeit. Meine Mutter habe ich niemals wiedergesehen. Wenige Tage nachdem sie gestorben war, brach der Krieg aus. Die Männer hatten recht gehabt. Mein Vater hatte noch ein halbes Jahr zu leben, bis ihm die Gewehrkugel eines Wehrmachtssoldaten ein Loch ins Herz riss, welches doch selbst nur noch ein Loch war, eine ausgetretene Kuhle. Ich floh später an Tante Renes Hand, die während dieses ewigen und quälenden Spaziergangs kälter und kälter wurde und es gerade noch schaffte, mich bis zum Meer festzuhalten. An einem zu Eis erstarrten Strand starb sie; da rutschte ihre Hand aus meiner und mit ihr alles, was bis dahin in meinem Leben war.
Als ich mich am Abend dieses heißen Augusttages auf den Heimweg machte, drehte ich mich noch ein letztes Mal um und blickte auf den See, der wie ein dunkler Spiegel in vollkommener Ruhe vor mir in seiner Grube im Wald lag. Und plötzlich bewegte sich das Wasser. Ein schwarzer Schatten schoss daraus hervor, genau unter einem im letzten Sonnenlicht tanzenden Schwarm Mücken. So groß, dass er mir den Atem raubte. Ich sah seine schwarzen Schuppen glitzern, seine fleischigen Lippen, die von den vielen Haken ausgefranst waren, seine kalten Augen, die mich eine Sekunde lang anstarrten und auszulachen schienen. Ich hörte seinen mächtigen Körper zurück ins Wasser platschen und wusste, der Alte hatte gewonnen.

 

Hallo Raffzahn

Der Einstieg in deine Geschichte las sich locker, bis ich an einer falschen Wortwahl und anschliessend Überzeichnungen hängen blieb. Die Geschichte selbst war mir angenehm zu lesen, doch zieht sie sich im Mittelteil endlos hin, ohne grosse Spannung zu erzeugen. Hier würde sie kürzere Schilderungen ertragen, da sie trotz flüssiger Erzählform einlullend wirkt.

Nachfolgend ein paar Anmerkungen, die mich besonders aus dem Takt brachten:

rechts leckten einige Kühe den Rest Gras vom harten Boden.

Lecken ist hier eine falsche Wortwahl für diesen Vorgang.

Wie Sicheln durchschnitten meine Arme die Luft, meine Beine trommelten einen gleichmäßig schnellen Takt auf dem Boden, und meine Lunge sog die schwere Luft so schnell ein und stieß sie so schnell wieder aus, dass sie sich anfühlte, als wäre sie mit glühendem Eisen gefüllt.

Dieser Satz klingt mir insgesamt überdramatisiert und auch zu lang. Verständlicherweise ist der Junge aufgewühlt, rennt so schnell er kann. Da du es in der Ich-Form erzählst, könntest du hier gut eine altersgerechte Denkweise einfliessen lassen.

So hatte es sich ange*hört, wenn Mutter seufzte.

schrägen Winkel ins Wasser und hinter*ließ nur

Eine Brombeer*ranke peitschte nach mir

Vertipper

Als meine Mutter starb, war sie fünfunddreißig.

Ich fand solche zeitmässig nach vorn verschobene Einblendungen störend und falsch, war da der Junge doch erst auf dem Weg um den Vater zur sterbenden Mutter zu rufen. Auch später treten solche wieder auf.

Insgesamt war mir die Geschichte sympathisch zu lesen, auch wenn das Historische sich nicht so sehr hervorhebt.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Lieber Anakreon,

dank Dir zunächst für Deine Kritik. Ich nehme sie mir zu Herzen, obgleich ich nicht in jedem Punkt mit Dir übereinstimme.

Tatsächlich „lecken“ Kühe, wenn sie saftiges Gras mehr finden, über ausgetrockneten Boden. Wahrscheinlich, um die dort durch die Trockenheit gebundenen Salze aufzunehmen. Ein anderes Wort (fuhren mit der Zunge über den Boden oder so …) schien mir doch unpassend.

Zum nächsten Kritikpunkt kann ich nur sagen: Recht hast Du! Da ist die schwülstige Wortmalerei wohl ein bisschen mit mir durchgegangen.
Allerdings würde ich nicht in die „altersgerechte“ Sprache oder Denkweise eines 13-jährigen verfallen. Schließlich ist der Erzähler mittlerweile erwachsen, erinnert sich also in seiner Jetzt-Sprache.

Woher dann die drei Sternchen mitten im Wort kommen? Ich weiß es nicht. Möglicherweise liegst an meinem Schreibprogramm, im Originalmanuskript tauchen sie jedenfalls nicht auf.

Und noch ein Letztes: Meiner Meinung nach ist das Historische – wenngleich auch bisweilen versteckt – doch immer gegenwärtig. Durch die Art, wie die Angelrute gemacht ist zum Beispiel, durch eine scheinbar harmlose Erkältung, die schon beinahe ein Jahr anhält und offensichtlich nicht behandelt werden kann, durch die Lederfabrik, die einen Ziegelkamin besitzt. Und nicht zuletzt natürlich durch den Hinweis, dass die Geschichte in Schlesien, im heutigen Polen, spielt. Die Bauern essen Schmalzbrot, 13-Jährige müssen arbeiten …

Aber nichts destotrotz, lieber Anakreon, ich werde in mich gehen. Mit anderen Worten: Ich arbeite dran.

Noch einmal danke und Grüße

Raffzahn

 

Hallo Raffzahn
und willkommen auf kg.de :)

Der historische Aspekt ist tatsächlich recht dezent, aber in meinen Augen reicht das für die Rubrik. Der Text würde aber auch in Gesellschaft funktionieren.
Ich habe deine Geschichte schon vor ein paar Tagen gelesen. Da war das genau das richtige für mich, in einem ruhgen Moment konnte ich schön in deine Beschreibungen eintauchen. Du investierst viel Gefühl und schaffst es Gefühle zu erzeugen. ALso den Vater, den hätte ich anschreien mögen, ihn rütteln wollen. Viel Mitgefühl kommt da nicht auf. Und es ist gut, dass du das als Autor nicht künstlich forcierst. Also die Distanz, die wirkte auf mich sehr stimmig.
Ich kam flüssig durch den Text, doch in der Mitte schlafft die Spannung leider etwas ab. Immer noch interessant genug, um weiterzulesen, aber ich kann mir vorstellen, dass du da einige Leser verlieren wirst. Und braucht es wirklich so viel Worte für den eigentlichen Konflikt? Ich denke, du könntest hier noch etwas verdichten.
Die Sache mit dem Fisch, das erinnert schon etwas an Big Fish. Natürlich gemein, wenn du dich nicht daran orintiert hast, aber die Parallele bekam ich nicht aus dem Kopf. Absicht?
Das Ende hat mich nicht überrascht, es war geradezu klar. Weiß nicht, ob das der Geschichte jetzt einen Abbruch tut, aber eine Überraschung zauberst du damit nicht aus dem Hut. Gerade weil das Thema doch sehr leidgetränkt ist, würde ich die Herausforderung als Autor darin sehen, dem Auftauchen des Fisches am Ende einen Hoffnungsschimmer anzuheften. Oder mindestens als Option offen lassen. Mit deinem letzten Satz machst du das unnötig kaputt, was nur das zu erwartende Ende unterstreicht. Ja, hier würde ich noch einmal feilen.

So, und zu den drei * - die solltest du auf jeden Fall aus dem Text nehmen. Das ist das mindeste, was du deinem Leser schuldig bist. Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, du weißt nicht, wie du das machst. Ansonsten wäre das eine ärgerliche Einstellung. Auf den rot umrandeten Bearbeten-Button klicken, so gelangst du in den Editor.
Die * kommen ganz sicher von deinem Textverarbeitungsprogramm. Also, wenn du was einstellst, dann erstmal nach dem posten angucken und gleich Verbesserungen vornehmen. Bei deinem neuen Text hast du das schon wieder nicht getan. Generell der Tipp: lies dich erstmal selbst etwas um und bringe dich mit Kommentaren ein. Geben und nehmen lautet hier das Prinzip. ;)

In jedem Fall noch viel Spaß hier auf kg.de :)

grüßlichst
weltenläufer

 

Alles klar, Weltenläufer – ich gelobe Besserung.
Bin ja erst seit ein paar Tagen hier, deshalb kenne ich mich mit den Regeln noch nicht so aus.
„Big Fish“ übrigens kenne ich nicht. Blöd, wenn meine Geschichte eine ähnliche wäre.
Eine Überraschung am Ende war eigentlich gar nicht geplant. So ein Knalleffekt öder ähnliches wäre mir zu künstlich gewesen, zu aufgesetzt. Deshalb ein ganz einfacher, meiner Meinung nach klarer Realismus …
Danke Dir aber für Deine Kritik. Jetzt sind's schon zwei, die den Mittelteil zu langatmig fanden – ich sollte da wohl noch mal in mich gehen …

Liebe Grüße
Raffzahn

 

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