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Mein Tod
Ich sitze in der S-Bahn auf dem Weg nach Hause. Heute war mein erster Arbeitstag im neuen Job. Neue Wohnung. Neue Stadt. Neue Kollegen. Erschöpft lehne ich meinen Kopf an die Fensterscheibe neben mir. Trotz der lauten Musik im Ohr höre ich das Rauschen der Räder über die Schienen. Ich drehe den Song noch lauter. Aber es hilft nichts. Das monotone Rauschen lässt mich noch schläfriger werden als ich ohnehin schon bin. Der Latte Macchiato von heute Morgen und die zwei großen Kaffeetassen auf der Arbeit hätten mich eigentlich wachhalten müssen. Ich gähne. Beschämt halte ich mir die Hand vor den Mund und sehe mich verlegen um. Aber keiner hat mich oder mein unhöfliches Fehlverhalten beobachtet.
Ich komme aus einer streng katholischen Familie und habe viele Jahre meiner Kindheit in einem Erziehungsheim verbringen müssen, weil meine Eltern gesehen haben wie ich meine große Sandkastenliebe Christoph auf den Mund küsste. Es war ein kurzer und ziemlich sandiger Kuss gewesen, aber er hatte gereicht, um meinen Eltern vor Augen zu führen, dass ihr kleiner vierjähriger Engel in Gefahr schwebt der Versuchung der Leidenschaft nicht gerecht zu werden und sie mich so wegschickten, aus Angst ich könnte mich beschmutzen. So ein Schwachsinn!
Mit Hilfe des Jugendamtes und einer guten Freundin habe ich es mit sechzehn endlich geschafft von ihnen wegzukommen. Bis vor fünf Jahren wohnte ich in einer Kleinstadt, machte meinen erweiterten Realschulabschluss und eine Ausbildung zur Industriekauffrau, bis ich mich traute den großen Schritt zu machen und mich in die weite Welt hinaus zu wagen: Berlin. Die Hauptstadt. Meine Stadt. Noch nie habe ich mich irgendwo so wohl gefühlt.
Ich blicke auf die Uhr: 17.30 Uhr. In ca. einer Stunde würde ich zu Hause sein. Ich freue mich auf meine heiße Schokolade – warum hatte ich ausgerechnet im Winter umziehen müssen?! – dessen Pulver auf der Theke in der Küche bereitlag. Ich brauchte also nur noch den Wasserkocher bedienen, ein paar Minuten warten, umrühren und hoffen, dass ich mir nicht so den Mund verbrannte, wie vor ein paar Tagen. Mein Gaumen fühlt sich deswegen noch immer irgendwie stumpf an.
Der Zug hält an. Einige Menschen steigen aus, andere ein. Gelangweilt beobachte ich sie. Eine Frau mit einer riesigen braunen Einkaufstüte, ein Mann im Anzug, telefonierend und wild gestikulierend, ein kleiner Junge mit einem Teddybären in der Hand und eine Frau die sich abmüht, ihr Fahrrad in den Zug zu heben.
Auf den Sitz mir gegenüber – ich sitze in einem Viererabteil mit blauweiß karierten Bezügen – nimmt ein Mann in einem Malerkittel Platz. Er scheint auch gerade von der Arbeit zu kommen. Ich lächle ihn kurz an. Er nickt mir zu. Die Türen schließen sich – mit diesem entsetzlichen Piepton, der mir jedes Mal das Trommelfell zu zerstören droht. Wie sollte das ein Warnzeichen sein, wenn man davon taub wurde?
Ich blicke wieder aus dem Fenster. Wir fahren vorbei an Hochhäusern, Einkaufsmeilen und Büros. Neben mir sitzt eine Frau mit einem Dackel auf dem Schoß, den sie ununterbrochen krault und der einen pinken Plüschumhang trägt. Ich unterdrücke ein verärgertes Seufzen. Wie konnte man einen Hund nur so verhätscheln? Es war mir unbegreiflich. Mein Vater war Tierpfleger und ich wusste, dass die Tiere dieses Zeug nicht zum Schutz vor der Kälte benötigten. Alles leeres Gefasel. Eine rein kommerzielle Erfindung.
Als ich wieder zu dem Maler herüberblicke hält er plötzlich ein Messer in der Hand. Erst erschrecke ich. Meine beste Freundin hat mir lang und breit Reden über die Gefahren der Großstadt gehalten. Aber dann sehe ich, dass er sich damit nur die Farbreste von den Fingern kratzt. Erleichtert denke ich: was für eine verrückte Art sich des Arbeitsdrecks zu entledigen. Hat er denn keine Angst sich zu verletzen? Leicht verwundert schüttele ich den Kopf.
Warum geht er zu Hause nicht einfach unter die Dusche?, denke ich noch, dann geht alles blitzschnell: Der Malermann springt auf. Ich sehe die Klinge, registriere wie er auf mich zukommt und reiße reflexartig die Hände hoch. Ich sehe, wie mein Kopfhörerkabel zerschnitten wird und ärgere mich. Sie waren das Abschiedsgeschenk meiner besten Freundin gewesen. Dann spüre ich das warme Blut aus meiner Kehle laufen. Mein warmes Blut. Er hat mir das Messer direkt in die Halsschlagader gerammt. In aller Öffentlichkeit. Mir wird schlecht. Alles beginnt sich zu drehen. Die Stimmen um mich herum werden leiser, dann lauter und zum Schluss wieder leiser.
Presste ich meine Hände auf die offene Wunde? Wahrscheinlich. Ich weiß es nicht. Auf einmal wurde alles um mich herum schwarz.
Was zum Henker? Was ist denn mit dem los? Hat der gerade in aller Öffentlichkeit jemanden angegriffen? In einer stark besetzten S-Bahn. Hilfe! Er wird uns alle töten! Ein Amokläufer. Die arme Frau! Jemand muss einen Krankenwagen rufen. Wir werden alle sterben. Was für ein Freak! Ein Serienkiller. Lebt sie noch? Warum reagiert den niemand? Ich glaube, ich spinne.
Ich stehe am Bahnsteig. Es ist vollbracht. Heute habe ich den letzten Teil eines anstrengenden, gefährlichen, aber notwendigen Projektes abgeschlossen. Ich bin durch die Stadt gezogen, habe recherchiert, beobachtet. Das Ergebnis lässt sich sehen lassen. Es liegt verstreut durch die ganze Stadt verteilt, aber das Fazit befindet sich in der Bahnhofsstraße 3a, zweite Etage, erste Tür links, auf dem Hausflur.
Ich denke an die Leichen und die Schuldgefühle beginnen mich zu plagen. Ich denke an ihr Lächeln, ihr süßes Stubsnäschen, ihr wunderbares, tugendhaftes Herz. Wie hatte ich ihr das antun können? Die anderen Frauen und Männer waren mir egal. Aber nicht meine Lily. Sie habe ich geliebt. Mehr als alles andere auf der Welt. Mehr als mich selbst. Aber sie hat mich verlassen. Angeblich, weil ich ihr zu viel und zu oft trank. Hah! Was verstand sie schon vom Alkohol? Alle zwei Tage mit meinen Kumpels von der Arbeit ein Feierabendbierchen trinken war ja wohl nicht zu viel. Und wenn ich einen schlechten Tag hatte und morgens den Whiskey öffnete, kam immer gleich dieser vorwurfsvolle Blick, den ich bis heute nicht kapiert habe.
Was tun denn die Frauen, wenn sie ihre Periode kriegen? Mhm? Da beruhigen sie sich auch mit einem Glas Rotwein. Oder all die Proseccos bei ihren regelmäßigen Freundinnentreffen! Ich sei Alkoholiker hat sie behauptet. So ein Quatsch! Sie hatte einen neuen und suchte nur nach einem Vorwand mich abzuschießen.
Habe ich ihr denn nicht alles gegeben? Geld, Liebe, ein Zuhause. Für sie bin ich aus der Stadt fortgezogen, in der all meine Freunde lebten, habe ich das Malen aufgegeben und eine Ausbildung begonnen, um sie ernähren und versorgen zu können. Und wie dankt sie mir? Indem sie mich betrügt. Einen anderen vögelt. Verdammte Schlampe.
Aber so ungestraft kommt sie mir nicht davon. Nein. Systematisch habe ich all ihre Freundinnen umgebracht, jeden Typen, den sie kannte und letztlich auch alle Frauen in meinem Stadtviertel, die ihr ähnlich aussahen: lange, schlanke Beine, runder Busen und kurzes, blondes lockiges Haar. Von allen Leichen machte ich ein Foto, bevor ich sie in den See schmiss, auf der Müllhalde ablud oder im Wald vergrub. Aus all diesen Bildern bastelte ich eine riesige Collage. Ich wickelte ein nettes Band drum – rosa, ihre Lieblingsfarbe – und tauchte damit heute direkt nach der Arbeit vor ihrem Haus auf. Sie wirkte nicht sonderlich begeistert, als sie die Tür öffnet und mich erkannte. Wahrscheinlich war ihr Lover im Haus. Ihn hätte ich eigentlich umbringen sollen. Aber ich brauchte eine schnelle und weitläufige Rache - Geduld war noch nie meine Stärke gewesen - und ihre Freundinnen boten den riesigen Vorteil, dass sie ihr wichtiger als alles andere waren und ich sie kannte. Jede Einzelne von ihnen. Schließlich waren wir fünf Jahre zusammen gewesen.
Ich stehe im Hauseingang. Den Eingang, der eigentlich auch meiner werden sollte - wir hatten vorgehabt im neuen Jahr zusammenziehen. In der einen Hand halte ich das Plakat, mit der anderen umklammere ich das Messer mit dem ich all die anderen Frauen umgebracht habe. Ich habe dafür nicht lange gebraucht. Bis die Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, hatten schon die nächsten zwei ins Gras gebissen.
Ich überreiche ihr das Plakat ohne sie zu begrüßen. Irritiert blickt sie mich an. „Was ist das?“, fragt sie mich missbilligend. Ich schweige. Mit einer gewissen Genugtuung beobachte ich, wie sie das Plakat öffnet und erschrocken die Luft einzieht. „Alex!“, ruft sie aus. Ich lächle selbstgefällig, als ich gewahre, wie bleich sie wird. Sie ist wütend, das sehe ich. Aber auch verwirrt und – verängstigt. Ich nutzte meinen Überraschungsvorteil aus und dränge sie ins Haus. Ich weiß genau, wie die Wohnung aufgebaut ist. Die Tür direkt links neben dem Eingang führt zum Gäste-WC. Den Gang entlang geht es in die Küche und ins Wohnzimmer. Das Schlafzimmer liegt rechts von uns.
„Ich habe ein Abschiedsgeschenk für dich.“ Meine Stimme ist emotionslos, kalt, unberechenbar. Dann ramme ich ihr das Messer in den Bauch, das ich die ganze Zeit in meiner Hand umklammert gehalten hatte. Sie schreit und ich hindere sie nicht daran. Ich will ihre Schmerzen hören. Sie sind nicht halb so schlimm, wie die Schmerzen, die sie mir bei unserer Trennung zugefügt hat. Und ihre Wunden werden genauso wenig verheilen wie meine – nämlich nie. Ich stoße wieder und wieder zu. Ramme das Messer durch ihr weiches Fleisch, bis ihre Schreie immer leiser werden und sie schließlich leblos zu Boden sackt. Ich höre die Nachbarn an die Tür klopfen. „Lily ist alles in Ordnung bei Ihnen? Geht es Ihnen gut?“
Ich lasse mich davon nicht aus dem Konzept bringen. Seelenruhig wische ich das Blut vom Messer an ihrer Kleidung ab. Wie schon gesagt: ich kenne das Haus in und auswendig. Ich wende mich zum Gehen, als ich höre wie an der Tür gerüttelt wird. Ich werfe keinen Blick zurück und verlasse das Haus durch die Hintertür. Über die Feuertreppe. Den Hof. Einmal links abbiegen. Dann stehe ich auf der Hauptstraße. Ich gehe zur nächsten Straßenbahnhaltestelle.
Ich warte auf den Zug. Ich bin fertig, mein Racheplan ist ausgeführt, aber die Genugtuung bleibt aus. Lilys Schreie hallen in meinen Ohren nach. Wie konnte ich das tun? Wie konnte ich den einzigen Menschen umbringen, den ich wirklich geliebt habe? Mein Vater hatte mich nur geschlagen, meine Mutter hing an der Flasche und mein älterer Bruder hat sich einen Scheißdreck um mich gekümmert.
Die Straßenbahn hält. Ich steige ein. Mir gegenüber sitzt eine junge Frau in einem schlichten schwarzen Rock und einer rosafarbenen Bluse. Sie sieht müde aus, schenkt mir aber dennoch ein kurzes Lächeln. Ich nicke ihr zu und beobachte sie einen Moment. Sie ist hübsch. Aber nicht mein Typ. Lily war mein Typ. Erst jetzt wird mir das Ausmaß meiner Handlung tatsächlich bewusst. Ich habe sie umgebracht. Sie umgebracht. UMGEBRACHT!!! Ich zittere. Habe ich Blut an den Fingern? Ich werfe einen Blick drauf. Ist das da nicht ein kleiner Tropfen? Ich greife nach dem Messer in meiner Hosentasche und kratze über meine Haut. Tatsache: Blut. Ihr Blut. Mir wird schlecht. Ich weiß, dass ich einen Fehler begangen habe und ich will ihn rückgängig machen. Aber ich kann es nicht. Das weiß ich. Und dieses Wissen bringt mich um. Ich kann damit nicht leben. Werde nie damit leben können. Gedankenverloren kratzte ich ein paar der Farbklekse von meinen Fingern und entferne den Dreck unterm Nagel. Sie ist tot. Tot. TOT!!! Jemand muss dafür bezahlen! Jemand WIRD dafür bezahlen. Aber ich bin derjenige, der ihr das angetan hat. Ich bin Schuld. Ich muss bezahlen. Nur wie? Mein Blick fällt erneut auf die Frau. Und plötzlich weiß ich es.
Gestern um 17.38 Uhr wurde in der Linie 7 vom Berliner Hauptbahnhof zum Rathaus unter den Blicken unzähliger Zeugen eine junge Frau ermordet. Scheinbar grundlos stieß ein Mann ein Messer in ihren Hals. Die Frau erlag ihren Verletzungen noch am Unfallort. Angaben der Polizei zu Folge soll der Täter ein gesuchter Mörder sein. Auch seine Exfreundin war am selben Nachmittag zerstochen und ermordet in ihrer Wohnung vorgefunden worden, kurz nachdem die Nachbarn den Täter ins Haus treten gesehen haben. Ob dieser Mord mit dem Verschwinden der acht Frauen und Männer aus demselben Wohnviertel zusammenhängt, ist bisher unklar. Fakt ist, dass der Mörder noch vor Ort gefasst werden konnte. Zeugen berichten, er habe nicht einmal versucht zu entwischen. „Es war, als ob er es darauf angelegt hätte, gefasst zu werden“, erzählt eine Frau, die neben dem Opfer im Abteil gesessen hatte.
Viele Fragen bleiben offen: Was drängt einen Mann dazu eine so unberechenbare und grausame Tat zu begehen? Und was bedeutet das für die Sicherheit der Straßenbahnen in Berlin, wenn scheinbar jeder Mensch am helligten Tage jemanden umbringen kann?!