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- 23.01.2004
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Mein Stein
Mein Stein
Ächzend biegen sich die Bäume unter der Gewalt des Windes. Er zwingt sie regelrecht dazu. Wer nicht hört wird aus dem Weg geschafft. Etwa hundert Meter vor mir sehe ich eine zierliche Birke. Sie berührt mit ihren dünnen, drahtigen Ästen fast den grauschimmernden Boden. Alles wirkt grau, trist. Und ein stürmender, tosender Wind fegt, als stünde der Frühjahrsputz auf dem Plan. Dazu ein Regen, als schütte man ihn aus Eimern. Dennoch lasse ich mich nicht abbringen. Weiter folge ich dem schlangenartigen Waldpfad immer tiefer in den Forst. Je tiefer ich hineingelange umso ruhiger wird es. Schließlich erreiche ich einen Stein, mindestens so groß wie ich. Das ist mein Stein. Jedes Mal, wenn ich traurig bin, Kummer habe oder einfach nur allein sein möchte bin ich hier. Mitten in der Natur. Wie viele schöne Tage hatte ich hier schon verbracht. Im Frühjahr, wenn alles grünt, die Vögel singen und ein frischer Duft durch den Wald schwebt. Im Sommer, wenn es auf der Lichtung unerträglich heiß ist, die Grillen in der Abenddämmerung zirpen und die Sonne nur einzelne Strahlen durch das dichte grüne Dach schicken kann. Im Herbst, wenn die Eichhörnchen drollig umherhüpfen und Nahrung für den Winter sammeln und das bunte Farbenspiel der Birken in der Herbstsonne noch farbenfroher wirkt. Im Winter, wenn die weiße Schneedecke durch das grünbraune Gewölbe über mir scheint und der Wind sein Lied durch die kahlen Baumkronen pfeift. Es ist doch immer schön. Hier, in meinem Wald, auf meinem Stein. Und keiner wird mich hier je finden. Und das ist auch gut so.
Nun sitze ich hier bestimmt schon über eine Stunde. Zusammengekauert, leicht fröstelnd, nachdenkend. Über alles.
Ich hab es geschafft. Ich bin frei. Jetzt kann ich tun und lassen, was ich möchte. Keiner kann mir irgendwas verbieten. Niemand. Wie lange habe ich gebraucht, um endlich die richtige Entscheidung zu treffen. Wie lange habe ich gezögert. Wie lange habe ich diesen Frust in mich hineingefressen. Aber jetzt habe ich alle Zeit der Welt. Hier in meiner Welt. Im Wald.
Freunde hatte ich sowieso nie, ich war immer zu anders. Und jetzt bräuchte ich auch keine. Man würde mich nur vermissen. Aber das will ich nicht. Es kümmert sich eh keiner um mich. Schließlich bin ich abnormal. Aber keiner hat mir je gesagt, was normal sei. Die Meinung anderer ist mir genauso egal, wie ich ihnen egal bin. Und da ich ein Nichts bin, schert mich deren Meinung einen feuchten Dreck. Das einzig wahre ist die Natur. Der Wald. Meine Natur. Mein Wald. Sonst kümmert sich ja kein Mensch drum. Also, tu ich es.
Und so sitze ich immer noch auf meinem Stein. Hier, mitten im Wald. Inzwischen ist es noch dunkler. Wahrscheinlich hat es längst aufgehört zu Stürmen und zu Regnen. Aber ich bleibe hier. Nichts und niemand kann mich hier fortbewegen. Das denke ich mir und versinke zusammengekauert in einen traumlosen, unruhigen Schlaf.